2017

Bei meiner nächsten Sitzung bei Ruby frage ich, kaum, dass ich durch die Tür bin, ob sich jemand bei ihr gemeldet und versucht hat, sie nach mir auszufragen. Ira habe ich gestern Abend auch schon angerufen, um ihn dasselbe zu fragen, während im Hintergrund seine neue Freundin herumzischte. »Ist sie das? Warum ruft sie dich an? Leg auf, Ira.«

»Wer sollte mich nach Ihnen ausfragen wollen?«, fragt Ruby.

»Na ja, eine Journalistin.«

Sie starrt mich verwirrt an, während ich mein Handy rausnehme und die E-Mails aufrufe. »Ich bin nicht paranoid, okay? Damit muss ich mich tatsächlich gerade rumschlagen. Hier, schauen Sie.«

Sie nimmt mir das Handy ab, beginnt zu lesen. »Aber ich verstehe nicht …«

Ich reiße es ihr aus der Hand. »Es mag vielleicht nicht weiter schlimm wirken, aber es sind nicht nur Mails, okay? Die telefoniert mir auch hinterher, belästigt mich.«

»Vanessa, beruhigen Sie sich. Tief durchatmen.«

»Glauben Sie mir etwa nicht?«

»Ich glaube Ihnen«, sagt sie. »Aber Sie müssen sich jetzt erst mal beruhigen und mir in Ruhe erzählen, was los ist.«

Ich setze mich, drücke mir die Handballen gegen die Augenlider und versuche, ihr alles zu erklären, die Mails und Anrufe, den alten Blog, den ich letzten Endes doch noch löschen konnte, von dem die Journalistin aber dummerweise Screenshots gespeichert hat. Mein Hirn ist fahrig, kann sich nicht mal einen Satz lang konzentrieren. Doch Ruby versteht mich auch so. Sie sieht mich voller Mitgefühl an.

»Das ist wahnsinnig zudringlich«, sagt sie. »Verstößt bestimmt gegen jede journalistische Ethik, was diese Frau da macht.« Ich solle mich an Janines Chefin wenden, schlägt sie vor, oder sie anzeigen. Aber bei der Erwähnung der Polizei kralle ich die Hände in die Armlehnen und schreie: »Nein!« Ruby sieht kurz richtig verängstigt aus.

»Entschuldigen Sie«, sage ich. »Ich stehe völlig neben mir. Ich drehe am Rad vor Panik.«

»Schon gut«, sagt sie. »Eine ganz begreifliche Reaktion. Immerhin wird hier gerade eine Ihrer schlimmsten Ängste wahr.«

»Ich hab sie gesehen, wissen Sie. Vor dem Hotel.«

»Wen? Die Journalistin?«

»Nein, die andere. Taylor, die, die Strane beschuldigt hat. Die belästigt mich auch, stellt mir nach. Vielleicht sollte ich mal bei ihrer Arbeit aufkreuzen. Mal sehen, wie ihr das gefällt.«

Ich schildere Ruby, was ich gestern Abend gesehen habe, bei Anbruch der Dämmerung. Die Frau, die auf der anderen Straßenseite gestanden und zum Hotel hochgestarrt hat, direkt in das Fenster der Lobby, durch das ich nach draußen blickte. Wie sie mich angestarrt hat, während ihr das blonde Haar ins Gesicht flatterte. Ruby hört mir mit leicht gequälter Miene zu, als könnte sie mir das beim besten Willen nicht abnehmen.

»Keine Ahnung«, sage ich. »Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Das kommt vor, mitunter.«

»Dass Sie sich irgendwas einbilden?«

Ich ziehe die Schultern hoch. »Es ist, als würde mein Hirn das Gesicht, das ich gern sehen würde, auf Fremde übertragen.«

Klingt schwierig, sagt sie, und ich zucke erneut die Achseln. Sie will wissen, wie oft das vorkommt, und ich sage, kommt drauf an. Mitunter vergehen Monate, ohne dass mir das passiert, und dann gibt es wieder Monate, in denen es mir täglich unterläuft. Mit den Albträumen ist es ganz ähnlich – sie kommen in Wellen, ausgelöst von irgendwas, das sich nicht immer leicht vorhersagen lässt. Bücher und Filme, die im Internat spielen, sind Gift für mich, so viel weiß ich. Aber dann erwischt mich unvermutet etwas anderes, und sei es nur etwas so Harmloses wie eine Erwähnung von Ahornbäumen oder das Gefühl von Flanell auf meiner Haut.

»Ich höre mich an, als wäre ich irre«, sage ich.

»Nein, nicht irre«, sagt Ruby. »Traumatisiert.«

Ich denke an all die anderen Dinge, die ich ihr erzählen könnte; die Mengen an Alkohol und Zigaretten, die ich brauche, um den Tag zu überstehen, die Nächte, in denen mir meine Wohnung vorkommt wie ein Labyrinth, von dem ich mich so überfordert fühle, dass ich schließlich auf dem Boden im Badezimmer schlafe. Ich weiß, wie leicht sich all meine Macken zu einer Diagnose addieren ließen. Ich habe mir ganze Nächte damit um die Ohren geschlagen, mich im Internet über posttraumatische Belastungsstörungen kundig zu machen, und dabei im Geist an jedes Symptom ein Häkchen gemacht, aber der Gedanke, dass sich mein Innenleben auf einen so einfachen Nenner bringen lässt, ist seltsam enttäuschend. Und was folgt daraus – eine Behandlung, Medikation, mit dem Ziel, das alles hinter mir zu lassen? Manchen mag so was wie ein Happy End erscheinen, aber ich sehe nur den Rand dieser Schlucht und das wirbelnde, schäumende Wasser unten in der Tiefe.

»Soll ich dieser Journalistin erlauben, über mich zu schreiben? Was meinen Sie?«, frage ich.

»Das können Sie nur selbst entscheiden.«

»Klar, sicher. Und mein Entschluss steht ja auch schon fest. Auf keinen Fall lasse ich mich darauf ein. Mich würde bloß Ihre Meinung dazu interessieren. Ob Sie finden, dass ich das machen sollte.«

»Das wäre vermutlich sehr belastend für Sie«, sagt Ruby. »Ich hätte die Sorge, dass sich die von Ihnen beschriebenen Symptome weiter verstärken würden, und zwar so sehr, dass Sie kaum noch normal funktionieren könnten.«

»Aber ich meine eher aus moralischer Sicht. Heißt es nicht immer, dass die Sache es wert sei, trotz aller negativen Folgen? Das sagen doch alle ständig, dass man sich zu Wort melden soll, koste es, was es wolle.«

»Nein«, stellt sie entschieden fest. »Das ist falsch. Jemanden, der unter einem Trauma leidet, so unter Druck zu setzen, halte ich für gefährlich.«

»Warum behaupten die das dann ständig? Es ist ja nicht nur diese Journalistin. Das sagen alle Frauen, die sich derzeit zu Wort melden. Aber wenn eine Frau sich jetzt nicht zu Wort melden will, wenn sie der Welt nicht alles Schlimme erzählen mag, das ihr jemals zugestoßen ist, was ist sie dann? Schwach? Egoistisch?« Ich mache eine wegwerfende Geste. »Ist doch alles Quatsch. Schwachsinn. Das kotzt mich dermaßen an!«

»Sie sind wütend«, sagt Ruby. »Ich glaube nicht, dass ich Sie jemals wirklich wütend erlebt habe.«

Ich blinzle, bemühe mich, meine Atmung in den Griff zu kriegen. Ich sage, dass ich mich ein bisschen in der Defensive fühle, worauf sie fragt: In der Defensive? Inwiefern?

»Weil ich mich in die Enge getrieben fühle, deswegen«, sage ich. »Mir wird aus heiterem Himmel unterstellt, ich würde Vergewaltigern Vorschub leisten, und das nur, weil ich mein Privatleben nicht preisgeben will. Dabei sollte ich überhaupt nicht Teil dieser Diskussion sein! Ich bin nicht missbraucht worden. Nicht so, wie es die anderen Frauen von sich behaupten.«

»Aber Sie verstehen schon, dass jemand, der etwas Ähnliches erlebt hat wie Sie, diese Beziehung rückblickend als Missbrauch einstufen könnte, oder?«

»Natürlich«, sage ich. »Ich bin ja nicht gehirngewaschen. Warum sich ein junges Mädchen nicht mit einem Mann mittleren Alters einlassen sollte, ist mir klar. Die Gründe sind mir alle wohlbekannt.«

»Was wären das für Gründe?«, fragt sie.

Ich verdrehe genervt die Augen. »Das Machtungleichgewicht. Weil das Gehirn in dem Alter noch nicht voll entwickelt ist und so, bla-bla-bla. All dieser Mist.«

»Warum haben diese Gründe auf Sie nicht zugetroffen?«

Ich werfe Ruby einen Seitenblick zu, um ihr zu signalisieren, dass ich ihre Fragestrategie durchschaue. »Passen Sie auf«, sage ich. »Was ich jetzt sage, ist die Wahrheit, okay? Strane war gut zu mir. Er war behutsam und lieb und gut. Aber so sind nicht alle Männer, klar. Manche sind wie Raubtiere, besonders bei Mädchen. Und als ich jung war, war es trotzdem echt schwer, mit ihm zusammen zu sein, trotz all seiner Güte.«

»Wieso war es schwer?«

»Weil die ganze Welt gegen uns stand! Wir mussten lügen und uns verstecken, und es gab manches, wovor er mich nicht beschützen konnte.«

»Wovor zum Beispiel?«

»Als ich rausgeworfen wurde, zum Beispiel.«

Ruby sieht mich befremdet an, sie runzelt die Stirn. »Rausgeworfen? Wo hat man Sie denn rausgeworfen?«

Richtig, davon habe ich ihr noch gar nicht erzählt. Ich weiß, der Begriff »rausgeworfen« klingt sehr krass und erweckt womöglich den falschen Eindruck. Als wäre ich der Situation passiv ausgeliefert gewesen, als hätte man mich bei etwas Schlimmem erwischt und dann aufgefordert, meine Siebensachen zu packen. Aber ich hatte die Wahl. Und ich habe mich entschieden, zu lügen.

Also erkläre ich Ruby, dass es kompliziert war und »rausgeworfen« vielleicht nicht ganz das richtige Wort sei. Ich erzähle ihr alles: die Gerüchte und Gespräche, Jennys Liste, der letzte Morgen, als ich mich dem brechend vollen Klassenraum stellen musste, vorne an der Tafel. So eingehend habe ich das Geschehen noch nie jemandem geschildert. Kann sogar sein, dass ich noch nie auf diese Weise darüber nachgedacht habe – in chronologischer Abfolge, wie ein Ereignis zum nächsten führte. Sonst sind meine Erinnerungen eher zersplittert, wie zerbrochenes Glas.

Ruby hakt zwischendurch immer wieder nach. »Was haben die gemacht?«, fragt sie. »Die haben … wie bitte?« Sie ist über Details entsetzt, denen ich nie besondere Beachtung geschenkt habe. Darüber etwa, dass es Strane war, der mich zum ersten Gespräch mit Mrs Giles aus dem Unterricht geholt hat. Und dass niemand auf die Idee gekommen ist, die Sache den Behörden zu melden.

»Was, der Kindesschutzbehörde oder so?«, frage ich. »Ich bitte Sie. So war es nicht.«

»Pädagogen unterliegen einer Meldepflicht, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kind missbraucht wird.«

»Ich habe bei der Kindesschutzbehörde gearbeitet, als ich nach Portland gezogen bin«, sage ich. »Und die Kinder, die im System gelandet sind, sind wirklich missbraucht und misshandelt worden. Ganz schreckliche Fälle. Was ich erlebt habe, kann man damit nicht vergleichen.« Ich lehne mich zurück, verschränke die Arme. »Deswegen rede ich auch so ungern darüber. Weil es am Ende immer viel schlimmer klingt, als es tatsächlich war.«

Sie sieht mich aufmerksam an, mit gerunzelter Stirn. »So, wie ich Sie kenne, neigen Sie aber eher zur Verharmlosung als zur Übertreibung, Vanessa.«

Dann holt sie zu einem Rundumschlag aus, in einem strengen, fast schimpfenden Tonfall, den ich so noch nie bei ihr gehört habe. Es sei erniedrigend, sagt sie, wozu man mich in Browick genötigt habe. Dass eine solche erzwungene Selbstdemütigung vor Gleichaltrigen ausreichend sei, um eine posttraumatische Belastungsstörung auszulösen, unabhängig von all dem, was ich sonst erlebt habe.

»Es ist schon schlimm, von einem Einzelnen in einen Zustand der Hilflosigkeit gedrängt zu werden«, sagt sie. »Aber so vor versammelter Mannschaft gedemütigt zu werden … Ich will nicht sagen, dass es schlimmer ist, aber es ist anders. Es ist massiv entwürdigend, ganz besonders für ein Kind.«

Ehe ich gegen den Begriff »Kind« protestieren kann, berichtigt sie sich selbst: »Für jemanden, dessen Gehirn noch nicht voll entwickelt ist.« Sie sieht mich an, wartet kurz ab. Da ich gegen meine eigene Formulierung keine Einwände erhebe, fragt sie als Nächstes, ob Strane nach all dem in Browick geblieben sei. Ob er wusste, was sich in dieser Versammlung abgespielt hat.

»Ja, das wusste er. Wir haben vorher abgesprochen, was ich sagen sollte. Anders ließ sich sein guter Ruf nicht wiederherstellen.«

»Wusste er, dass geplant war, Sie rauszuwerfen?«

Ich ziehe die Schultern hoch. Ich möchte nicht lügen, bringe es aber nicht über mich, zu sagen, ja, er wusste es und wollte es sogar.

»Wissen Sie«, sagt Ruby, »gerade haben Sie es noch so dargestellt, als hätte er Sie davor nicht beschützen können. Aber es wirkt eher so, als wäre er eigentlich die treibende Kraft dahinter gewesen.«

Mir stockt einen Moment lang der Atem. Aber im Nu habe ich mich wieder im Griff und tue die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Es war eine verwickelte Situation. Er hat getan, was er konnte.«

»Hatte er Schuldgefühle deswegen?«

»Weswegen? Weil er dafür gesorgt hat, dass ich von der Schule geflogen bin?«

»Ja«, sagt Ruby. »Und auch, weil er Sie zum Lügen angestiftet hat. Dazu, den Kopf hinzuhalten.«

»Ich denke, dass er es bedauerlich fand, aber leider unumgänglich. Was wäre die Alternative gewesen – dass er ins Gefängnis geht?«

»Ja«, sagt sie fest. »Das wäre eine Alternative gewesen, und obendrein gerechtfertigt. Denn das, was er Ihnen angetan hat, ist eine Straftat.«

»Das hätten wir beide nicht überlebt. Wenn er ins Gefängnis gekommen wäre.«

Ruby ist anzusehen, wie es in ihrem Kopf arbeitet, wie sie im Geist einen Vermerk macht, während sie mich nicht aus den Augen lässt. Es ist weniger auffällig als bei einem Therapeuten im Fernsehen, der sich auf seinem Block Notizen macht, aber dennoch nicht zu übersehen. Sie beobachtet mich so genau, ordnet alles, was ich sage und tue, in einen größeren Zusammenhang ein, und das erinnert mich natürlich an Strane. Die Parallele drängt sich geradezu auf. Wie durchdringend er mich während des Unterrichts immer angesehen hat, unentwegt planend, berechnend. Ich sei ihre Lieblingsklientin, hat Ruby mal gesagt, weil ich so vielschichtig sei; bei mir käme immer wieder Neues zum Vorschein, je tiefer man grabe. Mich überlief dabei ein ähnlich wohliger Schauer wie bei dem Lob Du bist meine beste Schülerin. So habe ich mich auch gefühlt, als Strane mich als kostbar und selten bezeichnet hat. Als Henry Plough gesagt hat, ich sei ein nicht zu lösendes Rätsel.

Dann stellt sie mir die Frage, die ihr, glaube ich, schon die ganze Zeit auf den Nägeln brennt. »Glauben Sie den Mädchen, die ihn beschuldigt haben?«

Das verneine ich umgehend. Ich sehe sie verstohlen an; sie blinzelt heftig, als wäre sie überrascht.

»Sie meinen, die Mädchen lügen«, sagt sie.

»Nicht direkt. Ich glaube eher, sie haben sich irgendwie mitreißen lassen.«

»Mitreißen lassen? Wie meinen Sie das?«

»Von dieser allgemeinen Hysterie derzeit«, sage ich. »Von den ständigen Anschuldigungen. Das ist ja eine richtige Bewegung inzwischen, nicht wahr? Davon ist ständig die Rede. Und einer Bewegung mit so viel Dynamik würden sich natürlich viele gern anschließen, aber um aufgenommen zu werden, muss man etwas Schreckliches erlebt haben. Da bleiben Übertreibungen nicht aus. Außerdem ist das ja alles so vage. Diese Begriffe sind leicht zu manipulieren. Angriff, das kann alles Mögliche sein. Vielleicht hat er ihnen bloß das Bein getätschelt oder so.«

»Aber wenn er unschuldig war, wie erklären Sie sich dann, dass er den Freitod gewählt hat?«, fragt sie.

»Er hat immer gesagt, dass er lieber tot wäre, als mit dem Stempel ›pädophil‹ leben zu müssen. Und als diese Anschuldigungen publik wurden, wusste er, dass ihn alle Welt für schuldig halten würde.«

»Sind Sie wütend auf ihn?«

»Weil er sich umgebracht hat? Nein. Ich verstehe, warum er es getan hat, und ich weiß, dass ich daran eine Mitschuld trage. Zumindest teilweise.«

Sie will mir widersprechen, mich entlasten, aber ich lasse sie nicht zu Wort kommen.

»Ja, schon klar – es ist nicht meine Schuld, ich hab’s verstanden. Aber nur meinetwegen kamen ja all diese Gerüchte auf, die er nicht mehr loswurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Taylor ihm je etwas vorgeworfen hätte, wenn über ihn nicht schon gemunkelt worden wäre, dass er mit Schülerinnen ins Bett geht. Und wenn sie nicht den Anfang gemacht hätte, hätten die anderen Mädchen sich ihr nie angeschlossen. Wenn ein Lehrer einmal wegen so was ins Gerede gerät, wird fortan alles, was er sagt und tut, durch einen Filter wahrgenommen, und das geht so weit, dass sogar völlig harmloses Verhalten ins Zwielicht gerückt wird.« Ich kann mich gar nicht mehr bremsen, bete all seine Argumente brav herunter. Als wäre der Teil seiner selbst, den er in mir zurückgelassen hat, mit einem Mal wiederauferstanden und quicklebendig.

»Überlegen Sie doch mal«, sage ich. »Wenn ein normaler Mann einem Mädchen übers Knie streichelt, denkt sich keiner was dabei. Aber wenn das ein Mann macht, der als Pädophiler verschrien ist? Da drehen alle komplett durch. Deswegen – nein, auf ihn bin ich nicht wütend. Ich bin wütend auf diese Mädchen. Und wütend auf diese Welt, die ein Monster aus ihm gemacht hat, und das, obwohl er nur das Pech hatte, sich in mich zu verlieben.«

Ruby verschränkt die Arme und senkt den Blick, als müsste sie sich mit aller Gewalt beherrschen.

»Mir ist klar, wie sich das alles anhört«, sage ich. »Sie finden mich sicher ganz schrecklich.«

»Nein. Ich finde Sie nicht schrecklich«, sagt sie leise, ohne aufzublicken.

»Was denken Sie dann?«

Sie atmet tief durch und wendet sich mir zu. »Ganz ehrlich, Vanessa? Was ich da höre, zeigt, dass er ein sehr schwacher Mensch war, und Sie wussten schon als Mädchen, dass Sie stärker waren als er. Sie wussten, dass er nicht damit fertiggeworden wäre, entlarvt zu werden, und deswegen haben Sie sich für ihn geopfert. Und Sie versuchen bis heute, ihn in Schutz zu nehmen.«

Ich beiße mir innen auf die Wange, eine Art Ersatzhandlung. Am liebsten würde ich mich zusammenkrümmen, so fest, dass mir dabei die Knochen brechen. »Ich will jetzt nicht weiter über ihn reden.«

»Okay.«

»Ich trauere noch um ihn, wissen Sie. Zu allem anderen habe ich nun auch noch den Verlust zu verkraften.«

»Das muss schwer sein.«

»O ja. Es ist unerträglich.« Ich schlucke gegen die Enge in meinem Hals an. »Ich hab ihn sterben lassen. Das sollten Sie wissen, nur für den Fall, dass Sie mich irgendwie bedauern. Er hat mich angerufen, ehe er es getan hat, und ich wusste, was er vorhat, und habe nichts unternommen, um ihn davon abzuhalten.«

»Es war nicht Ihre Schuld«, sagt Ruby.

»Ja, Sie wiederholen sich. Nichts scheint jemals meine Schuld zu sein.«

Sie sagt nichts. Starrt mich bloß an, wieder mit diesem gequälten Gesichtsausdruck. Ich weiß, was sie denkt: Dass ich mitleiderregend bin, darauf versessen, mich selbst schlechtzumachen.

»Ich habe ihn gequält«, sage ich. »Ich glaube, Sie verstehen gar nicht, wie viel ich zu all dem beigetragen habe. Sein ganzes Leben wurde zur Hölle, und das nur wegen mir.«

»Er war ein erwachsener Mann, und Sie waren fünfzehn«, sagt sie. »Inwiefern hätten Sie ihn quälen können? Was konnten Sie ihm schon antun?«

Es verschlägt mir kurz die Sprache. Ich habe seinen Klassenraum betreten. Ich habe existiert. Ich wurde geboren … Das sind die einzigen Antworten, die mir spontan einfallen.

Ich lege den Kopf in den Nacken. »Er war so in mich verliebt, dass er sich immer auf meinen Stuhl gesetzt hat, nachdem ich die Klasse verlassen hatte. Er hat den Kopf auf den Tisch gelegt und versucht, mich einzuatmen.« Das habe ich schon häufiger erzählt, immer als Beleg dafür, wie sehr er mir verfallen war. Diesmal allerdings nehme ich die Worte anders wahr, mehr so wie sie, oder wie jeder andere es täte – sie klingen verblendet, völlig irre.

»Vanessa«, sagt sie sanft, »Sie haben nicht darum gebeten. Sie wollten bloß zur Schule gehen, mehr nicht.«

Ich sehe sie nicht an. Starre durch das Fenster hinaus auf den Hafen und die Möwenschwärme, auf das Wasser und den Himmel, die heute beide schiefergrau sind, doch dabei steht mir nur ein Bild vor Augen: Ich mit kaum sechzehn vor einem Raum voller Leute, wie ich mit Tränen in den Augen zugebe, dass ich eine Lügnerin bin, ein böses Mädchen, das Strafe verdient hat. Rubys Stimme fragt wie aus weiter Ferne, wo ich gerade bin, aber sie weiß, dass es die Wahrheit ist, die mich so erschreckt hat. Sie ist weit, völlig karg und ohne Unterschlupf, wo man sich verstecken könnte.