2017

Ich bin bei der Arbeit und starre mit abwesendem Blick in die Hotellobby, als eine SMS von Ira bei mir eingeht. Mein Körper versteift sich, während sich auf meinem Handydisplay die Push-Benachrichtigungen häufen. Seine Kontaktinformation ist immer noch mit dem Label »Finger weg« versehen, von unserer letzten Trennung her.

Hi, wie geht’s?

Ich muss viel an dich denken.

Hättest du Lust, was trinken zu gehen?

Ich rühre das Handy nicht an. Er soll nicht wissen, dass ich seine Nachrichten gesehen habe. Doch während ich Restaurantempfehlungen gebe und telefonisch Tische reserviere, während ich Gästen versichere, dass es mir eine Freude ist, ihnen behilflich zu sein, eine absolute Freude, glimmt in meinem Bauch allmählich ein kleines Feuer auf. Es ist nun drei Monate her, seit Ira gesagt hat, wir müssten Schluss machen, ein für alle Mal, und diesmal bin ich brav geblieben. Bin nicht bei seinem Haus vorbeigegangen, in der Hoffnung, ihn auf der Straße abzufangen, habe ihn nicht angerufen, keine Textnachricht geschickt – nicht einmal dann, wenn ich etwas getrunken hatte. Das hier, denke ich, ist die Belohnung dafür, dass ich mich so eisern beherrscht habe.

Nach zwei Stunden schicke ich ihm eine Antwort: Mir geht’s gut. Wir können uns gern auf einen Drink treffen. Er schreibt sofort zurück: Bist du bei der Arbeit? Ich bin gerade bei Freunden zum Essen. Könnte dich später vom Hotel abholen. Mit zittrigen Händen schicke ich ihm ein Daumen-hoch-Emoji, mehr nicht, als wäre es mir zu mühsam, die Worte »klingt gut« zu tippen.

Als ich um halb zwölf aus dem Hotel komme, wartet er schon auf mich. Lehnt mit hochgezogenen Schultern an der Säule, wo sonst der Parkservice angeboten wird, und schaut gerade auf sein Handy. Mir fallen sofort Veränderungen an ihm auf, das kürzere Haar und die modischen Klamotten, schwarze Skinny-Jeans und dazu eine Jeansjacke mit Löchern an den Ellbogen. Er zuckt zusammen, als er mich bemerkt, und steckt sein Handy in die hintere Hosentasche.

»Entschuldige, dass ich jetzt erst rauskomme«, sage ich. »War viel los heute Abend.« Ich stehe da, mit meiner Tasche in beiden Händen, und weiß nicht, wie ich ihn begrüßen soll. Was zwischen uns statthaft ist.

»Kein Problem. Bin auch erst seit ein paar Minuten hier. Gut siehst du aus.«

»Ich sehe aus wie immer«, sage ich.

»Na ja, gut hast du ja immer schon ausgesehen.« Er streckt einen Arm aus, offenbar als Angebot zu einer Umarmung, doch ich schüttle den Kopf. Er gibt sich zu nett. Wenn er unsere Beziehung wiederaufnehmen wollte, wäre er eher scheu und vorsichtig, so wie ich.

»Du siehst sehr …«, ich suche nach dem richtigen Wort, »… hip aus.« Eigentlich meine ich es eher spöttisch, aber Ira lacht nur und bedankt sich ganz unironisch.

Wir gehen in eine Bar mit aufgearbeiteten alten Holztischen und Metallstühlen, dazu gibt es eine fünfseitige Bierkarte, aufgeteilt in verschiedene Rubriken, je nach Sorte, Herkunftsland und Alkoholgehalt. Als wir reinkommen, sehe ich mich im Raum um und betrachte prüfend jede langhaarige Blondine, um sicherzugehen, dass es nicht Taylor Birch ist. Dabei weiß ich nicht genau, ob ich sie überhaupt erkennen würde, nicht mal, wenn sie direkt vor mir stünde. Seit einigen Wochen sehe ich ständig Frauen auf der Straße und bin überzeugt, dass sie es ist, aber jedes Mal ist es nur eine Fremde mit einem Gesicht, das Taylor Birch kein bisschen ähnlich sieht.

»Vanessa?« Ira berührt mich an der Schulter, und ich zucke zusammen, als hätte ich ganz vergessen, dass er da ist. »Alles klar?«

Ich nicke und lächle etwas gequält, ehe ich mich auf einem freien Stuhl niederlasse.

Als die Kellnerin an unseren Tisch kommt und anfängt, Empfehlungen herunterzuspulen, unterbreche ich sie. »Das überfordert mich jetzt. Bringen Sie mir einfach irgendwas, es wird mir schon recht sein.« Es soll eigentlich ein Scherz sein, aber mein Tonfall fällt barsch aus. Ira wirft der Kellnerin einen Blick zu, mit dem er stellvertretend für mich um Entschuldigung bittet.

»Wir hätten auch woanders hingehen können«, sagt er zu mir.

»Ist schon okay hier.«

»Scheint mir aber eher so, als würde es dir nicht gefallen.«

»Was heißt gefallen. Mir gefällt’s nirgendwo.«

Die Kellnerin bringt unsere Getränke – für ihn ein dunkles Bier mit Weinaroma in einem Kelchglas, für mich eine Dose Miller Lite.

»Möchten Sie ein Glas«, fragt sie, »oder geht das so?«

»Danke, geht so.« Ich recke lächelnd den Daumen in die Höhe, mein Versuch einer Wiedergutmachung. Die Kellnerin wendet sich wortlos dem Nebentisch zu.

Ira sieht mich forschend an. »Geht es dir gut? Sag mir die Wahrheit.«

Ich zucke die Achseln, trinke einen Schluck. »Klar geht’s mir gut.«

»Ich hab den Facebook-Post gesehen.«

Ich schnippe mit dem Fingernagel am Ringverschluss der Dose herum. Klick-klick-klick. »Was für einen Facebook-Post?«

Er runzelt die Stirn. »Den über Strane. Hast du den etwa nicht gesehen? Schon an die zweitausendmal geteilt worden, das letzte Mal, als ich nachgesehen habe.«

»Ach so. Den Post meinst du.« Tatsächlich ist er schon fast dreitausendmal geteilt worden, wobei sich der Rummel mittlerweile gelegt hat. Ich nehme einen weiteren Schluck, blättere in der Bierkarte.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt Ira mit sanfter Stimme.

»Nicht nötig. Mir fehlt nichts.«

»Hast du mal mit ihm gesprochen? Seit der Text im Netz steht?«

Ich schlage die Karte zu. »Nee.«

Ira mustert mich eingehend. »Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.«

Ob ich glaube, dass Strane gefeuert wird, fragt er, und ich hebe zwischen zwei Schlucken die Schultern. Woher soll ich das wissen? Auf seine Frage, ob mir der Gedanke gekommen ist, Taylor zu kontaktieren, gebe ich keine Antwort. Spiele einfach weiter an dem Ringverschluss herum. Das Klick-klick-klick ist inzwischen von einem Boing-boing-boing abgelöst worden, das hohl durch die halb leere Dose hallt.

»Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss«, sagt er, »aber es könnte eine Chance sein, oder? Um mit der Sache abzuschließen und sie hinter dir zu lassen.«

Ich zwinge mich, mir den Gedanken kurz durch den Kopf gehen zu lassen. »Mit der Sache abschließen und sie hinter sich lassen«, das klingt wie der Sprung von einer Klippe, wie sterben.

»Können wir über was anderes reden?«, frage ich.

»Klar«, sagt er. »Natürlich.«

Er fragt mich nach der Arbeit, ob ich immer noch auf der Suche nach etwas anderem bin. Er erzählt, dass er eine Wohnung oben in Munjoy Hill gefunden hat, und ich bekomme Herzklopfen, weil ich einen trügerischen Moment lang denke, er könnte fragen, ob ich zu ihm ziehen möchte. Es sei eine tolle Wohnung, sagt er, richtig groß. In der Küche sei Platz genug für einen Tisch; vom Schlafzimmer aus schaue man direkt aufs Meer. Ich warte und rechne zumindest damit, dass er mich einlädt, mal vorbeizukommen, aber er hebt nur sein Glas.

»Klingt echt nett. Aber ist doch bestimmt nicht billig«, sage ich. »Wie kannst du dir das leisten?«

Ira presst die Lippen zusammen und schluckt. »Ich hab Glück gehabt.«

Ich gehe davon aus, dass wir weitertrinken – so läuft das normalerweise bei uns, wir trinken und trinken, bis einer den Mut aufbringt, zu fragen: »Kommst du noch mit zu mir oder was?« –, aber ehe ich ein weiteres Bier bestellen kann, gibt Ira der Kellnerin seine Kreditkarte und setzt dem Abend damit ein Ende. Es fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht.

Als wir in die Kälte hinaustreten, fragt er, ob ich noch zu Ruby gehe, und ich bin froh, dass ich zumindest bei dieser Frage nicht lügen muss, um ihm die gewünschte Antwort zu geben.

»Freut mich sehr, das zu hören«, sagt Ira. »Das ist wirklich das Beste für dich.«

Ich versuche zu lächeln, aber diese Formulierung »… das Beste für dich …« gefällt mir nicht. Es kommt zu viel dabei hoch – Erinnerungen daran, wie er sagt, es sei beunruhigend, dass ich einen Missbrauch derart schönreden könne, fast so beunruhigend wie die Tatsache, dass ich mit dem Mann, der mich missbraucht habe, weiter in Verbindung stehe. Ira war von Anfang an der Auffassung, dass ich Hilfe bräuchte. Als wir ein halbes Jahr zusammen waren, gab er mir eine Liste von Therapeuten, die er selbst recherchiert hatte, und bat mich, es mal zu probieren. Auf meine Ablehnung hin sagte er, wenn ich ihn liebte, würde ich ihm den Gefallen tun, woraufhin ich den Spieß umdrehte und sagte, wenn er mich liebte, würde er mich damit in Ruhe lassen. Nach einem Jahr versuchte er, mir ein Ultimatum zu stellen: Entweder würde ich eine Therapie anfangen, oder wir müssten uns trennen. Auch das ließ ich an mir abprallen; er war es, der am Ende klein beigab. Als ich dann anfing, zu Ruby zu gehen, wenn auch nur wegen meines Vaters, war Ira trotzdem hochzufrieden. »Hauptsache, du fängst überhaupt eine Therapie an, Vanessa«, so lautete sein Kommentar.

»Und, was hält Ruby von all dem?«, fragt er.

»Was meinst du damit?«

»Na, der Facebook-Post, was er mit dem Mädchen gemacht hat …«

»Oh. Darüber reden wir eigentlich nicht.« Ich halte den Blick auf den Bürgersteig gerichtet und folge im Schein der Straßenlaternen dem Muster der Backsteine, während vom Wasser her Nebel aufzieht.

Zwei Blocks über sagt Ira kein Wort. Als wir zur Congress Street kommen, wo sich unsere Wege trennen – ich muss nach links, er nach rechts –, verspüre ich das geradezu schmerzhafte Bedürfnis, ihn noch zu mir einzuladen, obwohl ich noch längst nicht betrunken genug bin und mich schon nach der halben Stunde mit ihm selbst hasse. Ich sehne mich einfach nach körperlicher Nähe.

»Du hast ihr noch gar nichts davon erzählt«, sagt Ira.

»Doch. Ich hab’s ihr erzählt.«

Er legt den Kopf schief, sieht mich blinzelnd an. »So, so. Du hast also deiner Therapeutin erzählt, dass der Mann, der dich als Kind missbraucht hat, von jemand anderem öffentlich des Missbrauchs beschuldigt worden ist, und willst mir weismachen, dass ihr nicht darüber redet? Ich bitte dich.«

Ich ziehe die Schultern hoch. »Mir ist das nicht so wichtig.«

»Aha.«

»Und er hat mich nicht missbraucht.«

Ira bläht die Nasenflügel, und sein Blick verhärtet sich, ein Ausdruck von Frustration, den ich nur zu gut kenne. Er wendet sich ab, als wollte er mich wortlos stehen lassen – aus seiner Sicht immer noch besser, als wenn ihm in meinem Beisein der Kragen platzt –, dreht sich dann aber wieder zu mir um. »Weiß sie überhaupt von ihm?«

»Ich gehe nicht zur Therapie, um darüber zu reden, okay? Sondern wegen meinem Dad.«

Es ist Mitternacht. In der Ferne läuten die Glocken der Kathedrale, die Ampel schaltet von Rot-Gelb-Grün auf gelbes Blinken um, und Ira schüttelt den Kopf. Er hat kein Verständnis für mich. Ich weiß, was er denkt, was jeder denken würde – dass ich ihn verteidige und dadurch weiteren Missbrauch ermögliche –, aber ich nehme hier nicht nur Strane in Schutz, sondern auch mich selbst. Denn obwohl ich mitunter den Begriff »Missbrauch« verwende, um gewisse Dinge zu beschreiben, die mit mir angestellt wurden, nimmt das Wort, wenn es ein anderer ausspricht, einen so hässlichen, absoluten Klang an. Es schluckt alles, was geschehen ist. Schluckt mich und die vielen Gelegenheiten, als ich es selbst wollte, darum gebettelt habe. Es ist wie die Gesetze, nach denen all der Sex, den ich mit Strane vor meinem achtzehnten Geburtstag hatte, als Notzucht zu werten ist – sollen wir ernsthaft glauben, dass dieser Geburtstag eine Art magisches Datum ist? Es ist eine willkürlich gezogene Grenze, mehr nicht. Warum ist es so schwer zu verstehen, dass manche Mädchen schon viel früher so weit sind?

»Weißt du«, sagt Ira, »in diesen paar Wochen, seit das durch die Nachrichten geht, habe ich eigentlich nur an dich gedacht. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.«

Scheinwerfer nähern sich, werden immer heller und streifen schließlich über uns weg, als der Wagen um die Ecke biegt.

»Ich dachte, du wärst fix und fertig. Wegen dem, was das Mädchen geschrieben hat. Aber es scheint dich kaum zu tangieren.«

»Warum sollte es mich tangieren?«

»Weil er dir dasselbe angetan hat!«, schreit er, so laut, dass seine Stimme zwischen den Häusern widerhallt. Er atmet tief durch und starrt zu Boden, verlegen, weil er die Beherrschung verloren hat. Kein Mensch hat ihn je so sehr frustriert wie ich. Das habe ich, als wir zusammen waren, oft von ihm zu hören bekommen.

»Du solltest dich nicht so sehr grämen, Ira«, sage ich. »Meinetwegen, meine ich.«

Er schnaubt, lacht. »Das ist mir klar, das kannst du mir glauben.«

»Ich möchte in der Angelegenheit keine Hilfe von dir. Du verstehst das nicht. Hast es nie verstanden.«

Er legt den Kopf in den Nacken. »Tja, das war auch mein letzter Versuch. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Damit wendet er sich zum Gehen. Ich rufe ihm nach: »Sie lügt.«

Er bleibt stehen, dreht sich zu mir um.

»Das Mädchen, das den Post geschrieben hat, meine ich. Es ist alles erstunken und erlogen.«

Ich warte, aber Ira sagt nichts und rührt sich auch nicht. Ein weiteres Scheinwerferpaar nähert sich und huscht über uns hinweg.

»Glaubst du mir?«, frage ich.

Ira schüttelt den Kopf, doch sein Ärger scheint inzwischen verraucht zu sein. Ich tue ihm leid, und das ist schlimmer, als wenn er sich Sorgen um mich macht, schlimmer als alles andere.

»Wann wirst du endlich der Wahrheit ins Auge sehen, Vanessa?«, fragt er.

Er setzt sich in Bewegung, die Congress Street hinauf in Richtung des Hügels. Wendet sich im Gehen noch mal um und ruft mir zu: »Ach übrigens, die neue Wohnung? Die kann ich mir leisten, weil ich jemand Neues kennengelernt habe. Wir sind zusammengezogen.«

Er geht jetzt rückwärts, um meine Reaktion zu sehen, doch ich lasse mir nichts anmerken. Ich schlucke gegen das Brennen in meiner Kehle an und blinzle so heftig, dass er zu einem Schatten verschwimmt, einem Umriss im Nebel.

Ich schlafe noch, als tags darauf gegen Mittag der spezielle Klingelton an mein Ohr dringt, den ich Strane auf meinem Handy zugeordnet habe. Das Klingeln fügt sich nahtlos in meinen Traum ein, als süß klimpernde Melodie einer Schmuckschatulle, die mich so sanft aus dem Schlaf weckt, dass ich noch halb träume, als ich mich am Telefon melde.

»Sie haben für heute eine Sitzung anberaumt«, sagt er. »Um zu entscheiden, was meinetwegen geschehen soll.«

Ich schlage blinzelnd die Augen auf, noch so schlaftrunken, dass ich nicht ganz verstehe, wen er mit »sie« meint. »Die Schule?«

»Wie es ausgehen wird, weiß ich jetzt schon«, sagt er. »Ich unterrichte jetzt seit dreißig Jahren dort, und sie werden mich hochkant rauswerfen. Hoffentlich bringen sie’s bald über die Bühne, mehr wünsche ich mir nicht.«

»Nun, sie sind Monster«, sage ich.

»So weit würde ich nicht gehen. Ihnen sind die Hände gebunden«, sagt er. »Wenn es hier ein Monster gibt, dann die Geschichte, die sich Wie-heißt-sie-noch? aus den Fingern gesogen hat. Sie hat es geschafft, so vage Anschuldigungen gegen mich zu erheben, dass es trotzdem haarsträubend wirkt. Es ist wie ein gottverdammter Horrorfilm.«

»Erinnert mich eher an Kafka«, sage ich.

Ich kann sein Lächeln hören. »Da hast du wohl recht.«

»Heute unterrichtest du also nicht?«

»Nein. Bis eine Entscheidung getroffen ist, darf ich den Campus nicht betreten. Ich komme mir vor wie ein Verbrecher.« Er stößt laut die Luft aus. »Hör zu, ich bin in Portland. Ich würde dich gern sehen, ist das möglich?«

»Du bist hier?« Ich schlage die Bettdecke zurück, stehe hastig auf und eile durch den Flur ins Badezimmer. Mir wird ganz anders, als ich mich im Spiegel betrachte, beim Anblick der feinen Fältchen, die gleichsam pünktlich zu meinem dreißigsten Geburtstag neben meinem Mund und unter den Augen aufgetaucht sind.

»Wohnst du noch in der alten Wohnung?«, fragt er.

»Nein. Ich bin umgezogen. Vor fünf Jahren schon.«

Eine kurze Stille. »Wie komme ich zu dir, kannst du mir den Weg beschreiben?«

Ich denke an das benutzte Geschirr, das sich in der Spüle stapelt, an den überquellenden Mülleimer, die ganze Verwahrlosung, in der ich lebe. Ich stelle mir vor, wie er in mein Schlafzimmer kommt und die Berge von Schmutzwäsche dort sieht, die leeren Flaschen, die neben der Matratze aufgereiht stehen, meine ewige Unordnung.

Du musst das endlich in den Griff bekommen, würde er sagen. Du bist zweiunddreißig Jahre alt, Vanessa.

»Wie wär’s, wenn wir uns stattdessen in einem Café treffen?«, frage ich.

Er sitzt an einem Tisch in der Ecke, zunächst kaum wiederzuerkennen, ein korpulenter älterer Mann, der einen Kaffeebecher umfasst hält, doch als ich mir einen Weg zu ihm bahne, vorbei an der Warteschlange vorm Tresen und zwischen den Stühlen hindurch, entdeckt er mich und steht auf. Dann ist er unverkennbar – dieser Berg von einem Mann, einen Meter dreiundneunzig groß, solide und sicher und so vertraut, dass mein Körper die Regie übernimmt – ich falle ihm um den Hals und kralle die Finger in seinen Mantel, dränge mich so dicht an ihn heran, wie es nur geht. Mich an ihn sinken zu lassen fühlt sich noch genauso an wie damals mit fünfzehn; dieser Geruch nach Kaffee und Kreidestaub, mein Kopf, der ihm kaum bis an die Schulter reicht.

Als er mich loslässt, stehen ihm Tränen in den Augen. Er schiebt verlegen seine Brille hoch und wischt sich über die Wangen.

»Entschuldige«, sagt er. »Ein heulender alter Mann, das hat dir vermutlich gerade noch gefehlt. Aber als ich dich gesehen habe …« Er beendet den Satz nicht, während er mich aufmerksam anblickt.

»Schon gut«, sage ich. »Nicht so schlimm.« Auch mir sind inzwischen die Tränen gekommen.

Wir sitzen uns am Tisch gegenüber wie ganz normale Leute, zwei alte Bekannte, die sich nach einiger Zeit mal wieder treffen. Er ist erschreckend gealtert, ganz grau geworden, nicht nur sein Haar, sondern auch seine Haut und die Augen. Sein Bart ist abrasiert, ich sehe ihn zum ersten Mal ohne, und beim Anblick der Hängebacken wird mir regelrecht übel. Sie haben etwas Qualliges, ziehen das ganze Gesicht nach unten. Es bestürzt mich, wie sehr er sich verändert hat. Fünf Jahre ist unser letztes Treffen her, lang genug für einen solchen Alterungsprozess, doch ich könnte mir denken, dass dieser Verfall erst seit Taylors Post so richtig eingesetzt hat, so ähnlich wie bei Menschen, von denen erzählt wird, sie wären vor Gram über Nacht grau geworden. Ein Gedanke steigt in mir auf, bei dem mir eiskalt wird – diese Sache könnte ihn zugrunde richten. Könnte ihn umbringen.

Ich verscheuche den Gedanken mit einem Kopfschütteln und sage, mehr zu mir selbst: »Vielleicht geht ja alles noch mal gut aus.«

»Vielleicht«, stimmt er mir zu. »Aber so wird es nicht kommen.«

»Selbst wenn sie dich rauswerfen, wäre das so schlimm? Es wäre, als würdest du in Rente gehen. Du könntest das Haus in Norumbega verkaufen und wegziehen. Zurück nach Montana, wie wäre das?«

»Das möchte ich nicht«, sagt er. »Mein Leben ist hier.«

»Du könntest verreisen. Mal richtig Urlaub machen.«

»Urlaub«, schnaubt er. »Jetzt halt aber mal die Luft an. Wie die Sache auch ausgeht, mein Ruf ist dahin. Mein guter Name ruiniert.«

»Die Wogen werden sich schon wieder glätten.«

»Nein, eben nicht.« Er sieht mich so erbost an, dass ich lieber nicht weiterrede. Dabei könnte ich mich darauf berufen, dass ich aus Erfahrung spreche. Weil ich damals selbst von dort vertrieben wurde.

»Vanessa …« Er beugt sich über den Tisch. »Du hast gesagt, das Mädchen hätte dir vor einigen Wochen geschrieben. Ganz sicher, dass du ihr nicht geantwortet hast?«

Ich blicke ihm ins Gesicht. »Ja. Ganz sicher.«

»Und ich weiß nicht, ob du immer noch zu dieser Psychiaterin gehst.« Er beißt sich auf die Unterlippe, spricht die Frage nicht aus.

Erst will ich ihn berichtigen – sie ist Therapeutin, keine Psychiaterin –, aber dann sehe ich ein, dass das nebensächlich ist; darum geht es nicht. »Sie weiß nichts. Ich rede mit ihr nicht über dich.«

»Oh«, sagt er. »Das ist gut zu wissen. Jetzt noch zu diesem Blog, den du mal geschrieben hast, ich hab versucht, ihn zu finden …«

»Der existiert nicht mehr. Ich hab ihn gelöscht, vor Jahren schon. Warum nimmst du mich so ins Verhör?«

»Hat noch jemand außer diesem Mädchen zu dir Kontakt gesucht?«

»Wer denn bitte? Die Schule?«

»Keine Ahnung«, sagt er. »Ich will bloß auf Nummer sicher gehen, dass …«

»Meinst du, man wird versuchen, mich in die Sache mit reinzuziehen?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer. Sie lassen mich völlig außen vor.«

»Aber denkst du, sie werden …«

»Vanessa.« Ich schweige umgehend. Er lässt den Kopf sinken und atmet tief durch, ehe er bedächtig fortfährt: »Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Ich möchte mich bloß vergewissern, dass es nicht noch weitere Brände gibt, die gelöscht werden müssen. Und ich möchte mich überzeugen, dass du dich …«, er sucht nach dem passenden Ausdruck, »stabil fühlst.«

»Stabil«, wiederhole ich.

Er nickt, und in seinen Augen steht die Frage, die er nicht laut zu stellen wagt – ob ich stark genug bin, mit allem, was bevorstehen könnte, fertigzuwerden.

»Du kannst mir vertrauen«, sage ich.

Er lächelt, wirkt ebenso dankbar wie erleichtert. Seine Anspannung löst sich spürbar, er sieht sich interessiert im Café um. »Und, wie geht’s dir so?«, fragt er. »Wie geht’s deiner Mom? Kommt sie so weit klar?«

Ich zucke die Achseln. Mit ihm über sie zu reden fühlt sich immer wie Verrat an.

»Bist du noch mit diesem Jungen zusammen?« Er meint Ira. Ich schüttle den Kopf, und Strane nickt, als würde ihn das nicht überraschen. Er tätschelt mir die Hand. »Er war nicht der Richtige für dich.«

Wir sitzen schweigend da, während um uns herum Geschirr klappert, das Zischen und Surren der Espressomaschine zu hören ist und mir das Herz in der Brust pocht. Seit Jahren habe ich mir das ausgemalt – eine Wiederbegegnung mit ihm, rein physisch –, aber nun, da ich hier bin, fühle ich mich wie außerhalb meiner selbst, so als würde ich alles von einem anderen Tisch aus beobachten. Es erscheint nicht richtig, dass wir uns unterhalten können wie ganz normale Leute. Dass er es aushält, mich anzusehen, ohne vor mir auf die Knie zu sinken.

»Hast du Hunger?«, fragt er. »Wir könnten uns was bestellen.«

Ich zögere, checke auf meinem Handy rasch die Uhrzeit, und da fällt ihm mein schwarzer Hosenanzug mit dem goldenen Namensschild auf.

»Ah, berufstätig«, sagt er. »Immer noch in diesem Hotel, nehme ich an.«

»Ich könnte anrufen und mich krankmelden.«

»Nein, lass mal.« Er lehnt sich zurück, wirkt mit einem Mal verstimmt. Ich weiß auch, warum; ich hätte seinen Vorschlag annehmen und sofort Ja sagen sollen. Dass ich gezögert habe, war ein Fehler, und ein Fehler genügt bei ihm schon, um alles zu verderben.

»Ich kann versuchen, früher Schluss zu machen«, sage ich. »Wir könnten zusammen essen gehen.«

Er winkt ab. »Schon gut.«

»Du könntest bei mir übernachten.« Hier wird er hellhörig. Er mustert mich eingehend, während er sich die Idee durch den Kopf gehen lässt. Ich frage mich, ob er sich an mich als Fünfzehnjährige erinnert oder ob er an das letzte Mal zurückdenkt, als wir es versucht haben, vor fünf Jahren bei ihm zu Hause, in seinem Bett mit der Biberbettwäsche. Wir haben versucht, das erste Mal nachzustellen, ich in einem knappen Schlafanzug, bei schummrigem Licht. Es hat nicht geklappt. Er wurde immer wieder schlaff; ich war zu alt. Hinterher habe ich im Bad geweint, mit der Hand vor dem Mund, während der Wasserhahn lief. Als ich rauskam, hatte er sich schon angezogen und saß im Wohnzimmer. Wir haben nie mehr ein Wort darüber verloren und uns seither auf Telefonate beschränkt.

»Nein«, sagt er sanft. »Nein. Ich fahre besser nach Hause.«

»Gut.« Ich stehe auf. Bin dabei so ungehalten, dass der Stuhl über den Boden quietscht, wie Fingernägel über eine Tafel. Meine Fingernägel auf seiner Tafel.

Er sieht zu, während ich meinen Mantel anziehe und mir die Tasche um die Schulter hänge. »Wie lange arbeitest du jetzt schon da?«

Ich ziehe die Schultern hoch, weil mein Hirn kurzzeitig von einer Erinnerung blockiert wird, seine Finger in meinem Mund, Kreidestaub auf meiner Zunge. »Ich weiß nicht«, sage ich matt. »Schon länger.«

»Auf jeden Fall zu lange«, sagt er. »Deine Arbeit sollte dir Freude machen. Gib dich nicht mit weniger zufrieden.«

»Ist schon in Ordnung. Es ist ein Job.«

»Aber du verkaufst dich völlig unter Wert«, sagt er. »Du warst doch so aufgeweckt. So intelligent. Ich dachte, du würdest mit zwanzig einen Roman veröffentlichen, die Welt erobern. Hast du in letzter Zeit mal was geschrieben?«

Ich schüttle den Kopf.

»Mein Gott, was für eine Vergeudung. Wie kann man sein Talent so brachliegen lassen.«

Ich presse die Lippen zusammen. »Tut mir leid, dass ich so eine Enttäuschung bin.«

»Na komm, rede nicht so.« Er steht auf und nimmt mein Gesicht in die Hände. »Ich komme bald mal bei dir vorbei«, beruhigt er mich mit gedämpfter Stimme. »Versprochen.«

Wir wechseln einen Abschiedskuss, ganz sittsam, mit geschlossenen Lippen, und der Barista am Tresen zählt weiter die Münzen aus dem Trinkgeldglas, der alte Mann am Fenster widmet sich weiter seinem Kreuzworträtsel. Wenn er mich früher geküsst hat, gab es sofort Gerede, das sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Wenn wir uns heute berühren, nimmt die Welt davon nicht die geringste Notiz. Das sollte man als Befreiung sehen, ich weiß, aber mir kommt es vor wie ein Verlust.

Später, nach der Arbeit, liege ich bei mir zu Hause im Bett und lese noch einmal die Nachricht, die Taylor Birch mir geschickt hat, ehe sie ihre Anschuldigungen gegen Strane bei Facebook publik machte. Hi Vanessa, keine Ahnung, ob du irgendwas von mir weißt, aber du und ich, wir befinden uns in der seltsamen Lage, eine Erfahrung zu teilen, ein für mich traumatisches Erlebnis, und ich vermute mal, dass es für dich genauso war. Ich schließe das Fenster und rufe ihr Profil auf, aber sie hat in der Zwischenzeit nichts Neues gepostet, deshalb scrolle ich durch den älteren Content: Urlaubsfotos aus San Francisco, sie beim Genuss von Burritos im Mission District, ein Selfie mit der Golden Gate Bridge im Hintergrund, Fotos von ihrem Zuhause, eine Couch mit einem Bezug aus lila Knautschsamt, schimmernde Parkettböden und grüne Zimmerpflanzen. Ich scrolle weiter zurück in der Chronologie, zu Fotos von ihr beim Frauenmarsch mit rosa Pussyhat, beim Verzehr eines Donuts so groß wie ihr Kopf, und zuletzt ein Gruppenfoto in einer Bar hier in der Innenstadt, daneben die Info: Browick-Klassentreffen!

Ich gehe auf mein eigenes Profil, versuche, mich mit ihren Augen zu sehen. Ich weiß, dass sie meine Seite verfolgt. Vor einem Jahr hat sie eins meiner Fotos gelikt, ein versehentlicher Doppelklick, den sie sofort rückgängig gemacht hat, aber die Benachrichtigung kam trotzdem. Ich habe einen Screenshot gemacht und an Strane geschickt, zusammen mit dem Text: Sie kann wohl einfach nicht loslassen. Er hat allerdings nicht darauf reagiert, die Feinheiten von Social Media, die wohlige Genugtuung darüber, wenn sich eine stille Beobachterin unfreiwillig verrät, interessierten ihn nicht. Oder er hat überhaupt nicht verstanden, was es mit meiner Nachricht auf sich hatte. Hin und wieder vergesse ich, wie alt er schon ist. Früher dachte ich immer, der Altersunterschied zwischen uns würde mit den Jahren schrumpfen, aber er klafft noch genauso weit wie eh und je.

Stunden vergehen, während ich auf meinem Handy immer tiefer grabe, mich in meine alten Bilderordner im Netz einlogge und in die Vergangenheit zurückscrolle, von 2017 zu 2010 zu 2007 zu 2002 – dem Jahr, in dem ich mir meine erste Digitalkamera gekauft habe, dem Jahr, in dem ich siebzehn wurde. Mir stockt der Atem, als das Foto-Set, auf das ich es abgesehen habe, endlich lädt: ich mit geflochtenen Zöpfen, in einem leichten Sommerkleid und Kniestrümpfen vor einem Birkenwäldchen. Auf einem Foto hebe ich das Kleid an und lasse meine blassen Oberschenkel blitzen. Auf einem anderen schaue ich nicht in die Kamera, sondern werfe einen Blick über die Schulter. Die Fotoqualität ist nicht besonders, aber die Bilder sind trotzdem sehr hübsch, mit den Birken als monochromem Hintergrund für das leuchtend rosa-blau gemusterte Kleid und mein kupferrotes Haar.

Ich rufe meine letzten Textnachrichten an Strane auf, kopiere die Fotos und füge sie in eine neue Nachricht ein. Ich weiß nicht, ob ich dir die je gezeigt habe. Da war ich siebzehn, glaube ich.

Ich weiß, dass er vermutlich schon seit Stunden im Bett liegt, aber ich drücke trotzdem auf »Senden« und verfolge die Übertragung der Nachricht. Bis zum Morgengrauen bleibe ich wach und wische mich durch Fotos von meinem Teenie-Gesicht und meinem Teenie-Körper. Zwischendurch sehe ich regelmäßig nach, ob sich der Status der Nachricht an Strane mittlerweile geändert hat, von »übertragen« zu »gelesen«. Schließlich besteht immer die Möglichkeit, dass er in der Nacht aufwacht, im Halbschlaf sein Handy checkt und dann Bilder von mir als Teenager vorfindet, ein digitales Gespenst. Vergiss sie nicht.

Manchmal fühlt es sich an, als würde ich ihn jedes Mal, wenn ich zu ihm Kontakt aufnehme, heimsuchen wie ein hartnäckiger Spuk, der nichts anderes will, als ihn in die Vergangenheit zurückzerren, indem ich ihn bitte, mir noch einmal zu erzählen, was damals geschehen ist. Damit ich es endlich begreife, ein für alle Mal. Weil ich noch immer dort feststecke. Ich komme einfach keinen Schritt weiter.