2001

Der diesjährige Winter zermürbt uns alle. Die Kälte ist erbarmungslos, nachts wird es bis zu minus zwanzig Grad kalt, und wenn die Temperaturen mal Plusgrade erreichen, schneit es – und zwar tagelang. Die Schneeverwehungen wachsen mit jedem Sturm weiter in die Höhe, bis der Campus einem Irrgarten aus Schnee unter einem blassgrauen Himmel ähnelt. Auf Kleidung, die an Weihnachten noch neu war, tauchen bald hässliche Salzflecken auf, und die Aussicht auf vier weitere Wintermonate verdüstert die allgemeine Stimmung. Die Lehrer sind ungeduldig, manche sogar gemein, und ihr Feedback fällt so gnadenlos aus, dass wir nach den Beratungstreffen in Tränen aufgelöst sind. Am Wochenende vor dem Martin-Luther-King-Tag hat der Hausmeister des Gould von uns die Nase so voll, dass er, nachdem der Abfluss der Dusche zum x-ten Mal durch ein Knäuel Haare verstopft ist, das Badezimmer zusperrt, und Miss Thompson ist gezwungen, das Schloss mithilfe einer Büroklammer zu knacken. Auch Schüler drehen durch. Einmal geraten Deanna und Lucy abends im Speisesaal in Streit – es geht um ein verlorenes Paar Schuhe –, der so weit eskaliert, dass Lucy am Ende Deanna an den Haaren packt und gar nicht mehr loslassen will.

Im Winter vor vier Jahren hat sich ein Zehntklässler in seinem Zimmer erhängt, daher sind die Hausbetreuer besonders auf der Hut, um bei Anzeichen von Depression sofort einzuschreiten. Miss Thompson stellt allerlei auf die Beine, um uns bei Laune zu halten: Spiele- und Bastelabende, Backpartys und Filmabende, jeweils angekündigt auf bunten Flyern, die unter der Zimmertür durchgeschoben werden. Bei Anfällen von Winterschwermut sollen wir bei ihr vorbeikommen und ihre Lichttherapielampe benutzen.

Ich bin bei all dem nur halb anwesend. Mein Hirn fühlt sich an wie zweigeteilt, eine Hälfte lebt im Hier und Jetzt, die andere inmitten all der Dinge, die mir geschehen sind. Jetzt, wo Strane und ich Sex haben, passe ich nicht mehr an die altgewohnten Orte. Was ich schreibe, fühlt sich hohl an; ich biete Miss Thompson nicht mehr an, ihren Hund auszuführen. Beim Unterricht fühle ich mich wie abgekoppelt, so als würde ich alles aus einer gewissen Entfernung beobachten. In Amerikanischer Literatur beobachte ich, wie Jenny sich jetzt neben Hannah Levesque setzt, die Jenny mit großen Augen anhimmelt, ein Ausdruck, den ich im vergangenen Schuljahr vermutlich selbst zur Schau getragen habe, und dabei spüre ich eine leise Verwirrung, so als würde ich einen Film mit konfuser Handlung sehen. Ungelogen, es fühlt sich an wie eine Simulation, unwirklich. Ich tue so, als wäre ich ganz die Alte, was bleibt mir anderes übrig, tatsächlich aber umgibt mich nun ein tiefer Graben, der mich von allem trennt. Ich bin mir nicht sicher, ob der Graben durch den Sex entstanden ist oder ob er immer schon da war und ich ihn jetzt erst wahrnehme, dank Strane. Strane behauptet Letzteres. Er habe gleich gespürt, dass ich anders bin, sagt er, von Anfang an.

»Kommst du dir nicht immer schon vor wie eine Außenseiterin?«, fragt er. »Jede Wette, dass du schon dein Leben lang als frühreif bezeichnet wurdest. Habe ich recht?«

Ich denke an die dritte Klasse zurück, wie es sich angefühlt hat, ein Zeugnis mit nach Hause zu bringen, das die Lehrerin mit der Bemerkung versehen hatte: Vanessa ist für ihre acht Jahre schon sehr weit. Von der geistigen Reife her geht sie auf die dreißig zu. War ich überhaupt je ein Kind, so richtig? Ich bin mir nicht sicher.

Zwanzig Minuten vor der Sperrstunde komme ich mit meinem Kulturbeutel und einem Handtuch ins Bad und finde Jenny am Waschbecken vor, das Gesicht voller Seife. Ich bemühe mich, ihr so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen – nehme die hintere Treppe, um nicht an ihrem Zimmer vorbei zu müssen, gehe abends immer extra spät duschen –, aber dennoch lassen sich Zufallsbegegnungen im Gould nicht ganz vermeiden. In Amerikanischer Literatur sehen wir uns notgedrungen, doch da bin ich so sehr auf Strane fokussiert, dass ich sie leicht ignorieren kann. Wie eigentlich auch alle übrigen Teilnehmer.

Bei ihrem Anblick im Bad, in Flip-Flops und demselben alten Bademantel wie im Vorjahr, erschrecke ich so sehr, dass ich reflexhaft den Rückzug antreten will. Sie hält mich zurück.

»Du brauchst nicht wegzulaufen«, sagt sie und klingt fast gelangweilt. »Oder hasst du mich wirklich so sehr?«

Sie setzt ihre Gesichtsreinigung fort, massiert sich den Schaum in die Wangen. Den Bob von Beginn des Schuljahrs hat sie inzwischen so weit rauswachsen lassen, dass sie ihr Haar zu einem unordentlichen Dutt binden kann, über ihrem zarten Nacken – früher hat sie immer so getan, als geniere sie sich für ihren schlanken Hals, und sich beklagt, dass ihr Kopf deswegen aussehe wie ein Ball auf einem Strohhalm oder eine Blume auf ihrem Stängel. Dieselbe Nummer hat sie auch wegen ihrer schmalen Finger abgezogen, wegen ihrer kleinen Füße, Schuhgröße 37, wie um ständig mit den Eigenschaften zu kokettieren, um die ich sie am meisten beneidete. Beneide ich sie noch immer? Hin und wieder fällt mir auf, wie Strane sie im Unterricht ansieht, wie sein Blick an ihrem Rückgrat entlanggleitet, bis hinauf zu ihrem hellbraunen Haar. Die kleine Kleopatra. »Dein Hals ist perfekt, Jenny«, habe ich immer gesagt. »Das weißt du selbst.« Natürlich wusste sie es, keine Frage. Sie wollte es bloß noch mal von mir hören.

»Ich hasse dich nicht«, sage ich.

Jenny wirft mir im Spiegel einen zweifelnden Blick zu. »Klar. Natürlich nicht.«

Ich überlege, ob es sie wohl verletzen würde, wenn ich ihr eröffne, dass ich ihr gegenüber gar nichts mehr fühle. Dass es mir inzwischen unerklärlich ist, warum mir der Verlust ihrer Freundschaft vorkam wie ein mittlerer Weltuntergang oder was diese Freundschaft eigentlich so besonders gemacht hat, so unwiederholbar. Jetzt ist mir das Ganze nur noch peinlich, wie jede andere Phase, die man irgendwann überwunden hat. Ich denke an die Zeit zurück, als sie mit Tom zusammenkam. Wie ich gelitten habe, als er plötzlich überall auftauchte, sich bei jeder Mahlzeit zu uns setzte, nach der Mathestunde immer schon vor der Klasse wartete, um sie auf dem zweiminütigen Weg von einem Gebäude ins andere zu begleiten. Ich war eifersüchtig, auch wenn ich es natürlich abstritt, auf sie ebenso sehr wie auf ihn. Weil ich gern beides gehabt hätte – einen Freund und eine beste Freundin, jemanden, der mich so sehr liebte, dass sich niemand zwischen uns drängen konnte. Es war ein pulsierendes, monströses Verlangen, völlig unkontrollierbar. Ich wusste, dass ich dieses Übermaß an Gefühl unmöglich offenbaren durfte, und doch brach es eines Samstagnachmittags aus mir heraus. Ich machte Jenny in einer Bäckerei in der Stadt eine heftige Szene, schreiend und heulend wie ein Kleinkind bei einem Tobsuchtsanfall. Sie hatte versprochen, den Tag mit mir zu verbringen, nur wir beide, wie früher, als sie noch keinen Freund hatte. Aber schon nach einer Stunde tauchte Tom auf, setzte sich zu uns an den Tisch und küsste und schnüffelte an ihrem Hals herum. Damit war das Maß für mich voll, ich rastete aus.

Das war Ende April, der Unmut hatte sich jedoch schon seit Monaten in mir angestaut. Jenny reagierte entsprechend gelassen, so als hätte sie schon länger mit einer solchen Explosion gerechnet. Als wir wieder in unserem Zimmer waren, sagte sie: »Tom findet, dass du zu sehr an mir klettest.« Als ich fragte, was das genau heißen solle, »zu sehr an ihr kletten«, versuchte sie, es mit einem Achselzucken abzutun. »Das hat er eben gesagt.« Was Tom über mich sagte, war mir eigentlich egal; er war bloß ein Junge, der kaum den Mund aufbekam, und das einzig Interessante an ihm waren seine Band-T-Shirts. Aber dass Jenny seine Behauptung, ich würde zu sehr an ihr kletten, wiederholte, das tat weh. Bei der Vorstellung, was diese Bemerkung in Bezug auf ein anderes Mädchen andeutete, sträubten sich mir die Haare. »Das ist nicht wahr«, sagte ich, woraufhin Jenny mich ebenso zweifelnd ansah wie auch jetzt wieder. Klar doch, Vanessa. Wenn du das sagst. Ich erhob keine weiteren Einwände; ich machte komplett zu, redete nicht mehr mit ihr, und von da an herrschte zwischen uns das unbehagliche Patt, das bis jetzt angehalten hatte. Im Grunde musste ich ihr recht geben; ich hatte sie zu sehr geliebt, keine Frage, und mir damals nicht vorstellen können, dass das je aufhören würde. Jetzt aber, kaum ein Jahr später, bin ich über all das hinweg. Es ist mir gleichgültig.

Sie beugt sich übers Waschbecken und spült sich die Seife ab. »Darf ich dich was fragen?«, sagt sie, während sie sich das Gesicht trocken tupft. »Weil mir da etwas zu Ohren gekommen ist. Über dich.«

Ich kehre blinzelnd ins Hier und Jetzt zurück. »Was denn?«

»Das möchte ich nicht sagen. Es ist wirklich … ich weiß, dass es nicht stimmen kann.«

»Sag’s mir einfach.«

Sie presst die Lippen zusammen, während sie nach den richtigen Worten sucht. Dann sagt sie in gedämpftem Tonfall: »Du hättest eine Affäre mit Mr Strane, hat jemand gesagt.«

Sie sieht mich an, erwartet offenbar ein Dementi von mir, aber ich bin zu weit weg, um etwas zu sagen. Es ist, als würde ich sie durchs falsche Ende eines Teleskops ansehen – das Handtuch, das sie noch immer an die Wange drückt, ihren geröteten Hals. Dann endlich löse ich mich aus meiner Starre. »Das stimmt nicht.«

Jenny nickt. »Hab ich mir schon gedacht.« Sie wendet sich wieder zum Waschbecken um, legt das Handtuch beiseite, greift nach ihrer Zahnbürste und dreht den Wasserhahn auf. Das Wasserrauschen verstärkt sich in meinen Ohren zum Tosen eines Ozeans. Das Bad selbst scheint sich zu verflüssigen, die Kacheln an den Wänden geraten in wogende Bewegung.

Sie spuckt ins Becken, dreht das Wasser ab und sieht mich erwartungsvoll an. »Nicht wahr?«, sagt sie, wie um mich zu einer Antwort zu ermuntern.

Wann hat sie denn etwas gesagt? Beim Zähneputzen? Ich schüttle den Kopf, öffne hilflos den Mund. Jenny mustert mich, hinter ihren Augen arbeitet es.

»Ist schon eigenartig«, sagt sie. »Wie du nach der Stunde immer bei ihm im Raum bleibst.«

Strane fängt an, überall aufzutauchen, so als wollte er mich im Auge behalten. Er erscheint im Speisesaal und beobachtet mich vom Lehrertisch aus. Während der Lernstunde in der Bibliothek sehe ich ihn ebenfalls, er geht die Bücher in dem Regal direkt gegenüber von mir durch. Er spaziert draußen im Flur vorbei, wenn ich Französisch habe, und wirft mir jedes Mal durch die offene Klassenzimmertür einen Blick zu. Ich werde überwacht, so viel ist klar, doch zugleich fühlt es sich an, als würde er mir nachstellen, einengend und schmeichelhaft zugleich.

Eines Samstagabends sitze ich im Bett, mit noch duschfeuchtem Haar, meine Hausaufgaben vor mir ausgebreitet. Es ist still im Wohnheim; in der Turnhalle findet ein Leichtathletikturnier statt, die Basketballmannschaft hat ein Auswärtsspiel, auf den Pisten am Sugarloaf werden Skirennen abgehalten. Ich bin halb eingenickt, als mich ein Klopfen an der Tür heftig aufschrecken lässt. Als ich aufspringe, poltern meine Bücher zu Boden. Ich reiße die Tür auf und rechne halb damit, Strane zu erblicken, der wortlos meine Hand nimmt und mich zu seinem Wagen führt, um mit mir zu sich nach Hause zu fahren, zu seinem Bett. Aber da ist niemand, nur der hell erleuchtete Flur mit den geschlossenen Zimmertüren.

Ein andermal fragt er mich, wo ich mittags gewesen sei. Wir sind in dem Büro hinter seinem Klassenraum; es ist fünf Uhr nachmittags, und das restliche Gebäude ist dunkel und menschenleer. Das Büro ist kaum größer als eine Abstellkammer, es bietet gerade genug Platz für einen Tisch, einen Stuhl und eine Tweed-Couch mit abgewetzten Armlehnen. Er hat es eigens für uns beide ausgeräumt, denn vorher lagerten hier Kartons mit alten Schulbüchern und Aufsätzen früherer Schülergenerationen. Es ist das perfekte Versteck – zwei verschließbare Türen zwischen uns und dem Flur.

Ich ziehe die Füße hoch auf die Couch. »Ich war auf meinem Zimmer. Musste noch Bio-Hausaufgaben machen.«

»Ich dachte, ich hätte gesehen, wie du dich mit jemandem verdrückt hast«, sagt er.

»Nein. Natürlich nicht.«

Er macht es sich am anderen Ende der Couch bequem, legt sich meine Beine auf den Schoß und nimmt sich vom Tisch ein Heft von dem Stapel Klausuren, die er korrigieren muss. Eine Weile sitzen wir schweigend da, ich bin in mein Geschichtsbuch vertieft, während er seine Korrekturen vornimmt, bis er sagt: »Ich möchte bloß Gewissheit haben, dass die Grenzen, die wir gezogen haben, du und ich, nicht überschritten werden.«

Ich sehe ihn an, verstehe nicht ganz, was er meint.

»Ich weiß doch, wie groß die Verlockung ist, sich einer Freundin anzuvertrauen.«

»Ich hab keine Freundinnen.«

Er legt seinen Stift und die Klausur, an der er gerade arbeitet, neben sich auf den Tisch. Nimmt meine Füße in die Hände und reibt sie zunächst, ehe er mir die Finger um die Knöchel legt. »Ich vertraue dir, absolut. Aber ist dir auch klar, wie wichtig es ist, dass wir das hier geheim halten?«

»Äh, natürlich.«

»Ich möchte, dass du das ernst nimmst.«

»Ich nehme es ja ernst.« Ich versuche, ihm meine Füße zu entziehen. Keine Chance, er hält meine Knöchel fest.

»Ich frage mich, ob du dir wirklich darüber im Klaren bist, was es für Konsequenzen hätte, wenn wir auffliegen.« Ich will zu einer Antwort ansetzen, er kommt mir zuvor. »Ja, ich würde höchstwahrscheinlich gefeuert. Aber auch du würdest von der Schule fliegen. Nach einem solchen Skandal würde man dich hier in Browick nicht länger dulden wollen.«

Ich sehe ihn zweifelnd an. »Mich würden sie nicht rauswerfen. Es ist ja nicht meine Schuld.« Damit er nicht den Eindruck hat, dass das meine Sicht der Dinge ist, füge ich hinzu: »Technisch gesehen, meine ich. Weil ich noch minderjährig bin.«

»Das würde keine Rolle spielen«, sagt er. »Jedenfalls nicht für die Leitungsebene. Da will man keine Unruhestifter, die werden rücksichtslos entfernt. So läuft das an Schulen wie dieser hier.«

Er legt den Kopf in den Nacken und redet weiter, während er zur Decke hochstarrt. »Wenn wir Glück hätten, würde die Angelegenheit schulintern geregelt, ohne dass etwas nach außen dringt. Aber falls die Polizei davon Wind bekäme, würde ich fast sicher ins Gefängnis kommen. Und du würdest in einem Erziehungsheim landen.«

»Also bitte.« Ich schnaube. »Ich würde doch nicht ins Heim kommen.«

»Das denkst du.«

»Es mag dir entfallen sein, aber ich habe Eltern.«

»Ja, aber der Staat mag Eltern nicht, die zulassen, dass ihr Kind sich mit einem Perversen einlässt. Denn so würde man mich abstempeln, als sogenannten Sexualstraftäter. Nach meiner Festnahme, das wäre der nächste Schritt, kämst du in staatliche Betreuung. Dann bringt man dich in irgendeiner grässlichen Einrichtung unter – einem Gruppenhaus voll krimineller Jugendlicher, frisch aus dem Knast, die Gott weiß was mit dir anstellen würden. Deine Zukunft läge nicht mehr in deiner Hand. Das College könntest du dir abschminken. Wahrscheinlich würdest du nicht mal mehr die Highschool abschließen. Du glaubst mir vielleicht nicht, Vanessa, aber du machst dir keinen Begriff davon, wie grausam diese Systeme sein können. Wenn sie die Gelegenheit bekämen, würden die alles in ihrer Macht Stehende tun, um uns beiden das Leben zu versauen …«

Wenn er anfängt, so daherzureden, kann mein Gehirn nicht Schritt halten. Ich habe den Eindruck, er übertreibt, aber er überrollt mich förmlich mit seinem Wortschwall, und ich weiß nicht mehr, was ich selbst glaube. Er schafft es, noch die haarsträubendsten Szenarien plausibel erscheinen zu lassen. »Ich hab’s verstanden«, sage ich. »Von mir erfährt niemand was, solange ich lebe. Eher sterbe ich, als auch nur ein Wort zu erzählen. Okay? Eher sterbe ich. Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?«

Das bringt ihn wieder zur Besinnung. Er blinzelt, als würde er aus einer Trance erwachen, und streckt einladend die Arme aus. Ich wechsle auf seine Seite und kuschle mich an ihn, und während er mich an sich drückt, sagt er immer wieder: »Es tut mir leid«, so oft, bis die Worte irgendwann ihren Sinn verlieren.

»Ich möchte dir keine Angst machen«, sagt er. »Es steht bloß so viel auf dem Spiel.«

»Ich weiß. Ganz so blöd bin ich auch nicht.«

»Nein, natürlich nicht. Das weiß ich doch.«

Die Französischkurse unternehmen einen Wochenendtrip nach Quebec City. Es geht frühmorgens los, in einem Reisebus mit weichen Polstersitzen und kleinen Fernsehschirmen. Ich setze mich im hinteren Teil auf einen Fensterplatz, krame meinen Discman heraus, lege eine CD ein und tue so, als würde es mich nicht tangieren, dass ich als Einzige im Bus keinen Sitznachbarn habe.

Die ersten beiden Stunden über starre ich aus dem Fenster, auf die Vorgebirge und die Wiesen und Felder, die sich draußen abwechseln. Als wir die kanadische Grenze erreichen, ändert sich landschaftlich nichts, bloß die Straßenbeschilderung wechselt ins Französische. Madame Laurent springt von ihrem Platz vorn im Bus auf und bittet um unsere Aufmerksamkeit. »Regardez!« Sie deutet auf jedes Schild, an dem wir vorbeikommen, und fordert uns auf, es laut vorzulesen. »Ouest, arrêt …«

Irgendwo im ländlichen Quebec legen wir an einem Tim Hortons eine Pinkelpause ein. Vor dem Restaurant steht eine Telefonzelle, und ich habe zwei Telefonkarten dabei, die Strane mir gegeben hat, verbunden mit der Aufforderung, ihn anzurufen, wenn ich mich einsam fühle. Als ich eben zu wählen anfange, mit dem Hörer in der Hand, kommt Jesse Ly aus dem Tim Hortons geschritten, in einem langen, bauschigen schwarzen Mantel, praktisch einem Umhang, dicht gefolgt von Mike und Joe Russo, die sich grinsend anstupsen und nicht mal die Stimme senken, während sie sich über ihn lustig machen. »Mensch, guck mal, der Fürst der Finsternis«, sagen sie. »Huh, die Trenchcoat-Mafia.« Schwul nennen sie ihn nicht, weil das zu weit ginge, aber das scheint der eigentliche Grund zu sein, warum sie ihn aufs Korn nehmen; der Mantel ist bloß ein Aufhänger für sie. Jesse hört sie, er beißt sichtbar die Zähne zusammen, ist aber zu stolz, um auf ihr Gequatsche einzugehen. Ich hänge wieder ein und laufe auf ihn zu.

»Hey!« Ich grinse Jesse an, als wären wir gute Freunde. Die Russo-Zwillinge hinter uns hören auf zu lachen, was jedoch weniger mit mir zu tun hat als mit Margo Atherton, die am Bus steht und gerade ihr Sweatshirt auszieht, wobei ihr T-Shirt hochrutscht und ein ganzes Stück Bauch zum Vorschein bringt, aber ich habe trotzdem das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben. Jesse sagt nichts, als wir in den Bus einsteigen und zu unseren Plätzen gehen. Ehe die Fahrt weitergeht, sammelt er allerdings seinen Kram zusammen und kommt durch den Gang zu mir.

»Kann ich da sitzen?«, fragt er und deutet auf den freien Platz neben mir. Ich nehme die Kopfhörer ab, nicke und nehme meinen Rucksack herunter. Jesse lässt sich mit einem Seufzen auf den Platz fallen, lehnt den Kopf zurück. So bleibt er reglos sitzen, bis sich der Bus mit einem leisen Ruckeln in Bewegung setzt und vom Parkplatz wieder auf die Autobahn fährt.

»Das sind Schwachköpfe«, sage ich. »Diese beiden.«

Er öffnet ruckartig die Augen und stößt laut die Luft aus. »So schlimm sind sie auch wieder nicht.« Er schlägt seinen Roman auf und wendet sich ein wenig von mir ab.

»Aber eben waren sie doch so blöd zu dir«, sage ich, als hätte er das womöglich nicht mitbekommen.

»Nein, ist schon okay«, sagt er, ohne den Blick zu heben. Er hält das Buch so umfasst, dass ich seine schwarz lackierten Fingernägel sehen kann.

In Quebec City führt Madame Laurent uns durch die kopfsteingepflasterten Straßen und macht uns auf historische Bauten aufmerksam – die Kathedrale Notre-Dame de Québec, das Château Frontenac. Jesse und ich bilden das Schlusslicht der Gruppe und machen uns schließlich selbstständig. Wir sehen den Pantomimen zu, die als lebende Statuen auf ihren Betonsockeln posieren, und fahren mit der Standseilbahn von der Oberstadt in die Unterstadt und wieder zurück, fast ohne ein Wort zu wechseln. Er kauft kitschige Andenken: ein Aquarell des Château Frontenac von einer alten Straßenhändlerin und einen Löffel, in den eine Szene aus dem Winterkarneval eingeätzt ist. Den Löffel schenkt er mir. Nach einer Stunde holen wir die Gruppe wieder ein, und ich mache mich schon auf Ärger gefasst, aber unser Fehlen ist überhaupt nicht bemerkt worden. Also stehlen wir uns wieder davon, Jesse und ich, und bummeln den restlichen Nachmittag über durch die Gassen der Altstadt. Wir reden nicht viel, stupsen uns nur hin und wieder mal an, wenn uns etwas Lustiges oder Skurriles ins Auge fällt.

Am zweiten Tag versuche ich es von einer Telefonzelle aus bei Strane, aber es geht niemand ran, und ich traue mich nicht, eine Nachricht zu hinterlassen. Jesse fragt nicht, bei wem ich anrufe. Er errät es auch so.

»Er ist wahrscheinlich auf dem Campus«, sagt er. »Da findet heute in der Bibliothek so eine Open-Mike-Sache statt, und für die Lehrer aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich herrscht Anwesenheitspflicht.«

Ich starre ihn an, während ich die Telefonkarte wieder einstecke.

»Keine Angst«, sagt er. »Ich halte dicht.«

»Woher weißt du es?«

Sein Blick scheint zu fragen: Soll das ein Witz sein? »Ihr seid die ganze Zeit zusammen. Ist doch ziemlich offensichtlich, was da abgeht. Und außerdem habe ich es mit eigenen Augen gesehen.«

Ich muss daran denken, was Strane über Jugendheime und Gefängnisse gesagt hat. Ich weiß nicht, ob ich Jesse schon zu viel verraten habe, aber um mich abzusichern, sage ich: »Es ist nicht wahr.« Die Worte klingen so kläglich, dass er mir bloß einen weiteren Blick zuwirft: Ich bitte dich.

Am Sonntagmorgen treten wir die Rückreise an. Nach einer Stunde Fahrt lässt Jesse mit einem Seufzen sein Buch sinken, wendet sich mir zu und gibt mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich die Kopfhörer abnehmen soll.

»Dir ist klar, wie dämlich das ist, nicht wahr?«, fragt er. »Wie unfassbar dumm.«

»Was?«

Er sieht mich schweigend an. »Was da läuft. Zwischen dir und deinem Lehrer.«

Ich sehe mich nervös um, aber auf den Plätzen um uns herum sind alle mit sich selbst beschäftigt – schlafen, lesen oder haben Kopfhörer auf.

»Ich habe jetzt keine moralischen Vorbehalte oder so«, fährt er fort. »Aber er wird dir wahrscheinlich dein Leben ruinieren. Ich mein ja nur.«

Seine Worte setzen einen sauberen Schnitt. Ich gehe nicht weiter darauf ein und sage, es sei das Risiko wert. Ich frage mich, was er über diese Äußerung denkt; ob er mich für durchgeknallt hält, für mutig oder für beides. Jesse schüttelt den Kopf.

»Was?«

»Du bist eine Idiotin«, sagt er. »Mehr nicht.«

»Ja. Herzlichen Dank auch.«

»Das meine ich nicht als Beleidigung. Ich bin auch ein Idiot, auf meine Art.«

Dass Jesse mich als Idiotin bezeichnet, erinnert mich an Strane, der mich eine dunkle Romantikerin nennt – beide scheinen auf meine Neigung anzuspielen, schlechte Entscheidungen zu treffen. Neulich hat Strane mich als »depressiv« tituliert, und ich habe das Wort nachgeschlagen: jemand mit einem Hang zur Melancholie.

Norumbega wird von einem schlimmen Sturm heimgesucht, und am Morgen empfängt uns ein glitzernder Campus, alles ist von einer zentimeterdicken Eisschicht überzogen. Die Äste der Bäume biegen sich unter der Last, neigen sich der Erde zu, und die Schneekruste ist so dick, dass wir mit unseren Stiefeln darüber laufen können, ohne einzusinken. An einem Samstagnachmittag haben wir zum ersten Mal auf der Couch in Stranes Büro Sex, während draußen die Sonne scheint. Hinterher vermeide ich es, seinen nackten Körper anzusehen, ich beobachte stattdessen die Staubteilchen, die im fahlen, vom Fenster zart grünlich getönten Schein der Wintersonne in der Luft schweben. Er fährt mit dem Finger über die Adern, die bläulich durch meine Haut schimmern, redet davon, was für einen Hunger ich in ihm wecke und dass er mich am liebsten fressen würde, wenn das irgendwie ginge. Ich halte ihm wortlos den Arm hin: Da, bitte schön. Er beißt nur ganz leicht zu, aber ich würde mich von ihm vermutlich auch klaglos in Stücke reißen lassen. Es gibt nichts, was er nicht mit mir machen dürfte.

Es wird Februar, und ich werde sowohl besser als auch schlechter im Versteckspielen. Ich höre auf, Strane zu erwähnen, wenn ich sonntagabends zu Hause anrufe, aber es zieht mich magnetisch in seinen Klassenraum. Inzwischen gehöre ich dort praktisch zum Inventar. Auch wenn andere Schüler in der Tutorenstunde reinkommen, um sich bei Hausaufgaben helfen zu lassen, sitze ich am Seminartisch, scheinbar in meine eigenen Aufgaben vertieft, lausche aber so angestrengt, dass mir die Ohren brennen.

Eines Nachmittags, als wir allein sind, nimmt er eine Polaroidkamera aus seiner Aktentasche und fragt, ob er mich am Seminartisch fotografieren darf. »Zur Erinnerung daran, wie du aussiehst, wenn du dort sitzt«, sagt er. Ich fange sofort an, vor Nervosität zu lachen. Lege mir die Hand ans Gesicht und zupfe mir am Haar herum. Ich hasse es, fotografiert zu werden. »Du kannst auch ablehnen«, sagt er, aber ich sehe die Sehnsucht in seinen Augen, ahne, wie viel ihm daran liegt. Es würde ihm das Herz brechen, wenn ich Nein sagte. Also lasse ich ihn ein paar Schnappschüsse machen, am Seminartisch und an seinem Schreibtisch, außerdem einen auf der Couch im Büro, mit untergeschlagenen Beinen und meiner Kladde vor mir auf dem Schoß. Er ist so dankbar, grinst glücklich, während er zusieht, wie sich die Bilder entwickeln. Er werde sie für alle Zeit sorgfältig aufbewahren, sagt er, wie einen Schatz.

Ein andermal bringt er mir eine neue Lektüre mit – Fahles Feuer von Vladimir Nabokov. Als er mir das Buch gibt, fange ich sofort an, darin zu blättern, aber es sieht nicht aus wie ein Roman, auf den Seiten sehe ich ein langes Gedicht und eine Folge von Anmerkungen.

»Es ist kein einfaches Buch«, erklärt Strane. »Weniger zugänglich als Lolita. Die Sorte Roman, die vom Leser verlangt, die Kontrolle abzugeben. Ein Text, den man erleben muss, anstatt ihn irgendwie verstehen zu wollen. Die Postmoderne …« Hier bricht er ab, als er die Enttäuschung auf meinem Gesicht bemerkt. Ich hätte lieber eine zweite Lolita gehabt.

»Komm, ich zeige dir was.« Er nimmt mir das Taschenbuch aus der Hand, schlägt eine Seite auf und deutet auf eine Strophe. »Schau, hier scheint es um dich zu gehen.«

So komm, sei angebetet, sei liebkost, du meine

Dunkle Vanessa mit den karminroten Streifen,

Mein admirabler Schmetterling! Erkläre mir,

Wie du im Dämmerlicht der Lilac Lane es dulden konntest,

Dass dieser täppische, hysterische John Shade

Dir das Gesicht und Ohr und Schulterblatt abschleckte?

Mir stockt der Atem; ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt.

»Unheimlich, nicht wahr?« Er sieht lächelnd auf den Text hinab. »Meine dunkle Vanessa, angebetet und liebkost.« Er streicht mir übers Haar, wickelt sich eine Strähne um den Finger. Karminrotes, ahornrotes Haar. Mir kommt in den Sinn, was ich gesagt habe, als er mir das Gedicht von Jonathan Swift gezeigt hat – dass all diese Gefühle Schicksal seien. Richtig ernst war das nicht gemeint. Eigentlich wollte ich ihm damit bloß zeigen, wie glücklich ich bin, wie willig. Meinen Namen auf einer Buchseite zu lesen, fühlt sich diesmal an wie ein freier Fall, ein Kontrollverlust. Vielleicht war das alles wirklich vorbestimmt. Vielleicht bin ich tatsächlich dafür geschaffen.

Während wir noch immer über das Buch gebeugt dastehen, Strane mit der Hand an meinem Rücken, kommt auf einmal der alte, kahlköpfige Mr Noyes in den Klassenraum. Wir springen blitzartig auseinander wie ertappte Übeltäter, ich an den Seminartisch und Strane an seinen Schreibtisch. Aber Mr Noyes bleibt ganz locker. Er lacht bloß und sagt zu Strane: »Ah, du hast eine Lieblingsschülerin«, als wäre das nicht weiter der Rede wert. Spontan überlege ich, ob es wirklich so schlimm wäre, wenn wir erwischt würden. Vielleicht wäre es gar kein Weltuntergang, wenn die Schule dahinterkäme. Vielleicht käme Strane mit einer Verwarnung davon, verbunden mit der Aufforderung, sich von mir fernzuhalten, bis ich achtzehn werde und die Schule abschließe.

Als wir wieder allein sind, frage ich Strane: »Haben andere Schülerinnen und Lehrer das schon mal gemacht?«

»Was gemacht?«

»Das hier.«

Er blickt von seinem Tisch auf. »Es soll durchaus schon vorgekommen sein, ja.«

Er wendet sich wieder seiner Lektüre zu, während mir die nächste Frage schwer auf der Zunge liegt. Ehe ich sie ausspreche, senke ich den Blick auf meine Hände. Die Antwort wird ihm vermutlich vom Gesicht abzulesen sein, und ich möchte sie nicht sehen. Eigentlich möchte ich es gar nicht wissen.

»Und du? Hast du schon mal, mit einer anderen Schülerin?«

»Was denkst du?«, fragt er zurück. »Habe ich oder habe ich nicht?«

Ich sehe ihn verdutzt an. Ich weiß nicht, was ich denke. Ich weiß, was ich gern glauben würde, was ich glauben muss, aber mir ist nicht klar, was das mit Geschehnissen zu tun haben soll, die sich möglicherweise in den vielen Jahren vor mir abgespielt haben. Er ist schon fast so lang Lehrer, wie ich am Leben bin.

Strane lässt mich nicht aus den Augen, während ich um Worte ringe, und dabei breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Die Antwort lautet Nein«, sagt er schließlich. »Momente des Begehrens hat es gegeben, das schon, aber es schien mir nie das Risiko wert zu sein. Bis dann du meinen Weg gekreuzt hast.«

Ich verdrehe die Augen, um zu überspielen, wie froh mich das macht. Dabei reißen mir seine Worte geradezu die Brust auf, ich fühle mich hilflos. Er könnte jetzt ungehindert hineingreifen und sich alles nehmen, was er haben will. Ich bin etwas Besonderes. Ich bin etwas Besonderes. Ich bin etwas Besonderes.

Ich lese gerade Fahles Feuer, als Miss Thompson anklopft, die ihre Kontrollrunde zur Sperrstunde dreht. Sie steckt den Kopf zur Tür herein, abgeschminkt, das Haar mit einem stoffumwickelten Haargummi hochgebunden; sie sieht mich und hakt meinen Namen auf ihrer Liste ab.

»Vanessa, hey.« Sie kommt ins Zimmer. »Denk dran, dich am Freitag vor der Abreise abzumelden, in Ordnung? Das hattest du vor Weihnachten vergessen.«

Sie kommt einen Schritt näher, und ich mache ein Eselsohr in die Seite und klappe das Buch zu. Mir ist etwas schwindlig, weil ich im Text weitere Bezüge auf mich gefunden habe: Der Wohnort der Hauptfigur heißt »New Wye«.

»Wie läuft’s mit der Hausaufgabe?«, fragt sie.

Ich habe Strane nie nach Miss Thompson gefragt. Seit der Disco an Halloween habe ich die beiden nicht mehr zusammen gesehen, und ich erinnere mich daran, wie er nach unserem ersten Mal gesagt hat, es sei schon etwas her, seit er das letzte Mal »mit jemandem intim« gewesen sei. Wenn sie nie Sex gehabt haben, waren sie also nur befreundet, und ich habe keinen Grund zur Eifersucht. Das ist mir alles klar. Trotzdem überkommt mich nun eine Art Gehässigkeit, ein Drang, ihr vor Augen zu führen, was ich getan habe, wozu ich fähig bin.

Ich lege Fahles Feuer aus der Hand, und zwar so, dass sie den Titel lesen kann. »Es ist keine Hausaufgabe. Oder doch, ein bisschen wohl schon. Es ist für Mr Strane.«

Sie setzt ein Lächeln auf, aufreizend freundlich und harmlos. »Du hast Mr Strane in Englisch?«

»Ja.« Ich sehe durch meine Wimpern zu ihr hoch. »Hat er mich bei Ihnen nie erwähnt?«

Ihre Stirnfalten vertiefen sich, aber nur ganz kurz. Es fällt mir auch nur auf, weil ich sie so scharf im Auge behalte. »Nein«, sagt sie, »nicht, dass ich wüsste.«

»Das wundert mich aber«, sage ich. »Er und ich, wir sind ziemlich eng miteinander.«

Ich kann sehen, wie der Argwohn auf ihrem Gesicht aufblüht. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.

Am nächsten Nachmittag, Strane ist gerade bei einer Lehrerkonferenz, setze ich mich an seinen Schreibtisch, was ich mir sonst nie erlauben würde. Die Tür ist zu, niemand bekommt mit, wie ich seine Unterlagen durchgehe, Lehrpläne und Stapel noch unkorrigierter Aufsätze, ehe ich die lange, schmale Schreibtischschublade aufziehe, in der allerlei seltsamer Kram liegt: eine angebrochene Tüte Weingummi, ein Christophorus-Medaillon an einer kaputten Kette, ein Fläschchen mit Tabletten gegen Durchfall, das ich angewidert in den hinteren Teil der Schublade befördere.

Sein Computer hat in der Regel nichts Interessantes zu bieten, nur einen Ordner mit Klassendokumenten und seine selten genutzte Schul-E-Mail. Aber als ich diesmal den Bildschirmschoner unterbreche, blinkt auf der Anwendungsleiste eine Mitteilung auf: (1) Neue Nachricht von melissa.thompson@browick.edu. Ich öffne die Mail. Es handelt sich um die Antwort auf eine andere Mail, in einer Kette aus insgesamt drei Mails.

An: jacob.strane@browick.edu

Von: melissa.thompson@browick.edu

Betreff: Besorgnis wegen Schülerin

Hi Jake … ich würde das gern mit dir persönlich besprechen, aber ich dachte mir, ich schicke dir eine Mail … könnte ohnehin ratsam sein, das schriftlich zu dokumentieren. Neulich Abend hatte ich ein seltsames Erlebnis mit Vanessa Wye, bei dem von dir die Rede war. Sie war mit irgendwelchen Hausaufgaben für deine Stunde beschäftigt und hat gesagt, ihr wärt »eng miteinander«, du und sie … in ganz merkwürdigem Tonfall. Herausfordernd irgendwie … sogar besitzergreifend? Wirkt auf jeden Fall so, als würde sie dich anhimmeln … nur, dass du es weißt. Weil du mal erwähnt hast, dass sie immer in deinem Klassenraum rumhängt. Sieh dich einfach vor :). Melissa

An: melissa.thompson@browick.edu

Von: jacob.strane@browick.edu

Betreff: Re: Besorgnis wegen Schülerin

Melissa,

danke für den Tipp. Ich werde auf der Hut bleiben.

JS

An: jacob.strane@browick.edu

Von: melissa.thompson@browick.edu

Betreff: Re: Re: Besorgnis wegen Schülerin

Kein Problem … hoffentlich bin ich nicht zu weit gegangen … hab bloß so eine Schwingung aufgefangen. Schöne Ferien, falls wir uns nicht mehr sehen :). Melissa

Ich klicke mich aus der E-Mail-Kette und markiere die letzte Mail von Miss Thompson als ungelesen. Seine kurz angebundene Antwort bringt mich zum Lachen, ebenso wie Miss Thompsons Nervosität, ihre kleinen Smileys, die unvollständigen Sätze mit den Pünktchen dazwischen. Mir kommt der Verdacht, dass sie womöglich nicht sehr intelligent ist, oder wenigstens nicht so intelligent wie ich. So etwas habe ich über eine Lehrkraft noch nie gedacht.

Strane ist sichtlich schlecht gelaunt, als er von der Lehrerkonferenz zurückkommt. Er lässt seinen Notizblock auf den Schreibtisch fallen, mit einem Laut zwischen Seufzen und Stöhnen. »Der Laden hier geht den Bach runter«, brummt er, ehe er blinzelnd den PC-Bildschirm mustert. »Warst du an meinem Computer?«, fragt er. Ich schüttle den Kopf. »Hm.« Er legt die Hand an die Maus, klickt herum. »Ich sollte das Ding wohl besser durch ein Passwort sichern.«

Am Ende der Tutorenstunde, als er gerade seine Sachen packt, sage ich: »Dass Miss Thompson meine Hausbetreuerin ist, weißt du, oder?« Mein Tonfall ist so blasiert, dass ich mich selbst kaum erkenne.

Ich konzentriere mich darauf, meine Jacke anzuziehen, um ihn nicht ansehen zu müssen, während er sich eine Antwort überlegt.

»Natürlich weiß ich das«, sagt er.

Ich ziehe den Reißverschluss bis oben hin zu. »Und, seid ihr befreundet, du und sie?«

»Klar.«

»Weil ich euch seinerzeit zusammen bei der Halloween-Disco gesehen habe.« Ich wage einen verstohlenen Blick, sehe, wie er seine Brille an der Krawatte reinigt und dann wieder aufsetzt.

»Dann hast du also in meinen Mails gestöbert«, sagt er. Als ich stumm bleibe, verschränkt er die Arme vor der Brust und bedenkt mich mit einem seiner Lehrerblicke. Schluss mit dem Unfug.

»Wart ihr mehr als nur Freunde?«, frage ich.

»Vanessa.«

»Ich stelle doch nur eine Frage.«

»Schon richtig«, stimmt er mir zu. »Aber es ist eine Fangfrage.«

Ich öffne und schließe den Reißverschluss ein paar Mal. »Im Grunde ist es mir egal. Wäre bloß nett, Genaueres zu wissen.«

»Und wieso bitte?«

»Was wäre, wenn sie spürt, dass da was läuft, zwischen dir und mir? Sie könnte eifersüchtig werden und …«

»Und was?«

»Keine Ahnung. Zurückschlagen? Sich rächen?«

»Ist doch lächerlich.«

»Sie hat diese Mails geschrieben.«

Strane lehnt sich im Stuhl zurück. »Du solltest meine Mails nicht lesen. Das halte ich für die beste Lösung dieses Problems.«

Ich verdrehe die Augen. Seine ausweichende Reaktion lässt darauf schließen, dass mir die Wahrheit nicht gefallen könnte. Dass er und Miss Thompson wahrscheinlich mehr als nur Freunde waren. Dass sie vermutlich Sex hatten.

Ich hänge mir den Rucksack über die Schulter. »Ich hab sie schon ungeschminkt gesehen, weißt du. So hübsch ist sie nicht. Und außerdem ganz schön fett.«

»Na komm«, wendet er ein. »Das ist aber nicht nett.«

Ich sehe ihn finster an. Natürlich ist es nicht nett; das ist ja der Sinn der Übung. »Ich gehe jetzt. Man sieht sich in einer Woche, schätze ich.«

Als ich schon an der Tür bin, sagt er: »Du solltest nicht eifersüchtig sein.«

»Ich bin nicht eifersüchtig.«

»O doch.«

»Nein, eben nicht.«

Er steht auf und kommt durch den Klassenraum auf mich zu. Langt über meine Schulter und schaltet das Licht aus, nimmt mein Gesicht in die Hände und küsst mich auf die Stirn. »Okay«, sagt er leise. »Okay, du bist nicht eifersüchtig.«

Ich lasse es geschehen, dass er mich an sich zieht. Meine Wange ruht an seiner Brust, ich kann sein Herz schlagen hören.

»Ich neide dir auch die Liebeleien nicht, die du vor mir gehabt haben magst«, sagt er.

Liebeleien. Ich wiederhole das Wort lautlos und frage mich, ob es das bedeutet, was ich mir erhoffe – dass er, selbst wenn er was mit Miss Thompson hatte, jetzt nichts mehr mit ihr hat. Dass die Sache mit ihr nie was Ernsthaftes war, anders als sein Verhältnis mit mir.

»Was ich getan habe, ehe ich dich kennenlernte, kann ich nicht ändern«, sagt er. »Das gilt für dich ebenso.«

Bei mir gab es nichts vor ihm, gar nichts, aber ich weiß, darum geht es nicht. Es geht darum, dass er etwas von mir haben will. Nicht direkt Vergebung, eher eine Absolution, oder vielleicht Gleichgültigkeit. Sein Vorleben soll mir egal sein.

»Na gut«, sage ich. »Ich werde nicht mehr eifersüchtig sein.« Es fühlt sich so großzügig an, als würde ich ein Opfer für ihn bringen. So erwachsen bin ich mir noch nie vorgekommen.

Vergangenes Jahr im Sommer, am Höhepunkt meiner Schmollphase, hat Mom versucht, mich über Jungen aufzuklären. Sie begriff nicht, was wirklich mit Jenny vorgefallen war. Dachte, es wäre vor allem um Tom gegangen, dass ich heimlich in ihn verliebt war und er sich für Jenny statt für mich entschieden hatte oder etwas ähnlich Abgedroschenes. Jungs bräuchten etwas länger dafür, nicht bloß das wahrzunehmen, was sie direkt vor der Nase hätten, sagte sie und holte dann zu einer Allegorie über Äpfel aus, die von Bäumen fallen. Dass Jungs sich anfangs immer an die Äpfel halten, die leicht zu pflücken sind, aber letzten Endes doch dahinterkommen, dass die besten Äpfel etwas mehr Mühe erfordern. Damit konnte sie bei mir nicht landen.

»Soll das heißen, Mädchen sind Früchte, die nur dazu da sind, von Jungen gegessen zu werden?«, fragte ich. »Klingt sexistisch.«

»Nein«, sagte sie. »So habe ich das nicht gemeint.«

»Du nennst mich buchstäblich einen schlechten Apfel.«

»Unsinn«, sagte sie. »Die anderen Mädchen sind schlechte Äpfel.«

»Warum sollen andere Mädchen schlechte Äpfel sein? Wieso müssen wir überhaupt Äpfel sein?«

Mom atmete tief durch. Drückte sich die Hand an die Stirn. »Mein Gott, bist du schwierig«, sagte sie. »Jungen werden einfach später reif, mehr will ich damit doch gar nicht sagen. Damit du nicht so frustriert bist.«

Sie wollte mich eigentlich aufmuntern, aber ihre Logik war leicht nachzuvollziehen: Jungen beachteten mich nie, daher war ich nicht hübsch, und wenn ich nicht hübsch war, würde ich lange warten müssen, ehe ich bei irgendwem Beachtung fand, weil Jungen erst reifen mussten, ehe sie bei Mädchen nicht nur nach Äußerlichkeiten gingen. In der Zwischenzeit blieb mir anscheinend nichts anderes übrig, als zu warten. Wie Mädchen, die bei den Basketballspielen der Jungen auf der Tribüne sitzen, oder Mädchen, die Jungen von der Couch aus bei Videospielen zusehen. Endloses Warten.

Lustiger Gedanke, wie sehr Mom sich letzten Endes geirrt hat. Weil es noch eine weitere Möglichkeit gibt, für alle, die den nötigen Mut dazu haben: Jungen komplett links liegen zu lassen und gleich Männer ins Visier zu nehmen. Männer, die einen nie warten lassen; Männer, die ausgehungert und daher dankbar für jede Art von Aufmerksamkeit sind, die sich so heillos verlieben, dass sie sich einem zu Füßen werfen.

Als ich in den Februarferien zu Hause bin, fahre ich mit Mom einkaufen und starre als Experiment jeden einzelnen Mann im Supermarkt an, auch die hässlichen. Besonders die hässlichen. Weiß der Himmel, wie lange es her sein mag, dass ein Mädchen sie das letzte Mal so angesehen hat. Sie tun mir leid, wie verzweifelt sie sein müssen, wie einsam. Wie trist ihr Leben vermutlich ist. Wenn die Männer meinen Blick bemerken, reagieren sie meist überrascht, runzeln verwirrt die Stirn. Nur einige wenige durchschauen mich. Erkennen, was ich bin, und erwidern ungerührt meinen Blick, mit einem harten Zug im Gesicht.

Er halte es keine Woche aus, sagt Strane, ohne von mir zu hören. In der Mitte der Ferienwoche nehme ich mir also das schnurlose Telefon mit aufs Zimmer, als meine Eltern schon im Bett liegen, und stopfe vorsorglich Kissen unten an die Tür, damit kein Geräusch nach außen dringt. Mein Magen schlägt Purzelbäume, als ich seine Nummer wähle. Als er sich schlaftrunken meldet, sage ich erst nichts, wie gelähmt bei dem peinlichen Gedanken, dass er sich im Bett umdreht und ans Telefon geht wie ein alter Mann, der schon um zehn schlafen geht.

»Hallo?«, sagt er ungeduldig. »Hallo?«

Ich gebe nach. »Ich bin’s.«

Er seufzt und sagt meinen Namen, mit durch die Zähne pfeifendem S. Ich fehle ihm. Soll ihm erzählen, wie meine Ferien bisher sind, er will alles wissen. Ich gebe mein Bestes, ihm meine Tage zu beschreiben – Spaziergänge mit Babe, Einkaufstouren in die Stadt, nachmittags Eislaufen auf dem zugefrorenen See, im Schein der schräg stehenden Sonne –, ohne dabei meine Eltern zu erwähnen. Als würde ich das alles allein machen.

»Was tust du gerade?«, fragt er.

»Ich bin in meinem Zimmer.« Ich warte auf die nächste Frage, aber er sagt nichts. Ich frage mich, ob er wieder eingeschlafen ist. »Und du? Was machst du gerade?«

»Nachdenken.«

»Worüber?«

»Über dich«, sagt er. »Und darüber, wie du hier mit mir im Bett gelegen hast. Weißt du noch, wie sich das angefühlt hat?«

Ich sage Ja, obwohl mir klar ist, dass wir bei jener Gelegenheit vermutlich nicht dasselbe gefühlt haben, er und ich. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich die Laken an meiner Haut, das Gewicht der Daunendecke. Wie er mein Handgelenk umfasst hält und nach unten führt.

»Was hast du an?«, fragt er.

Mein Blick huscht zur Tür, und ich horche mit angehaltenem Atem auf etwaige Geräusche vom Schlafzimmer meiner Eltern her. »Einen Schlafanzug.«

»So einen wie den, den ich dir gekauft habe?«

Ich sage Nein. Muss bei der Vorstellung lachen, so etwas hier zu tragen, vor meinen Eltern.

»Beschreib mir, wie er aussieht«, sagt er.

Ich blicke an mir hinunter, auf das Muster aus Hundegesichtern, Hydranten und Knochen. »Er sieht albern aus«, sage ich. »Würde dir nicht gefallen.«

»Zieh ihn aus«, sagt er.

»Es ist zu kalt.« Ich gebe mich naiv, lasse mir nichts anmerken. Doch ich weiß, was er von mir will.

»Zieh ihn aus.«

Er wartet; ich rühre mich nicht. Als er fragt, »Und, hast du dich ausgezogen?«, lüge ich und sage Ja.

So geht es weiter. Er sagt mir, was ich tun soll, und ich lasse ihn in dem Glauben, dass ich seinen Anweisungen folge, ohne irgendwas zu tun. Ich bleibe gleichgültig, ein bisschen genervt, bis ich ihn sagen höre: »Du bist ein Baby, ein kleines Mädchen.« Daraufhin regt sich etwas in mir. Ich berühre mich zwar nicht, aber ich schließe die Augen und gebe mich dem Wohlgefühl bei dem Gedanken hin, was er gerade macht und dass er dabei an mich denkt.

»Tust du mir einen Gefallen?«, fragt er. »Ich möchte, dass du etwas sagst. Nur ein paar Worte. Tust du das für mich? Sagst du ein paar Worte für mich?«

Ich schlage die Augen auf. »Okay.«

»Okay? Okay. Okay.« Kurz hört es sich an, als würde er den Hörer von einem Ohr ans andere befördern. »Ich möchte, dass du sagst: ›Ich liebe dich, Daddy.‹«

Ich muss unwillkürlich lachen. Weil es so lächerlich ist. Daddy. So nenne ich nicht mal meinen eigenen Vater, ich kann mich auch nicht erinnern, ihn je so genannt zu haben. Doch noch während ich lache, löst sich mein Geist von mir, und ich finde es nicht mehr lustig, habe überhaupt keine Meinung mehr dazu. Ich bin leer, abwesend.

»Na los«, sagt er. »Ich liebe dich, Daddy.«

Ich sage nichts, den Blick starr auf meine Zimmertür gerichtet.

»Nur einmal.« Seine Stimme klingt rau und heiser.

Ich fühle, wie sich meine Lippen bewegen, und ein Rauschen erfüllt meinen Kopf, so laut, dass ich die Silben, die meinen Mund verlassen, kaum hören kann, ebenso wenig wie Stranes Laute – seine schweren Atemzüge, sein Stöhnen. Er bittet mich, es noch mal zu sagen, und wieder bildet mein Mund die Worte, aber es ist nur mein Körper, der da spricht, nicht mein Hirn.

Ich bin weit weg. Fliege durch die Luft, losgelöst, wie an dem Tag, als er mich zum ersten Mal berührt hat, als ich über den Campus flog wie ein Komet mit einem ahornroten Schweif. Jetzt fliege ich aus dem Haus in die Nacht hinaus, durch die Kiefern und über den zugefrorenen See, wo sich das Wasser unter dem Eis regt, ächzend und jammernd. Er fordert mich auf, es noch einmal zu sagen. Ich sehe mich, angetan mit Ohrenschützern, auf Schlittschuhen über die Oberfläche gleiten, verfolgt von einem Schatten unter dem dreißig Zentimeter dicken Eis – Strane, der über dem schlickigen Grund des Sees dahinschwimmt, wo seine Schreie zu einem Stöhnen gedämpft werden.

Sein Keuchen und Stöhnen hört auf, und ich lande wieder in meinem Zimmer. Er ist fertig; es ist vorbei. Ich versuche mir vorzustellen, wie das bei ihm konkret abläuft, ob er in seine Hand kommt oder in ein Handtuch oder direkt in die Bettwäsche. Wie widerlich das bei Männern ist, dass bei ihnen am Ende immer eine verräterische Sauerei zurückbleibt. Der Gedanke Du ekelhaftes Schwein schießt mir durch den Kopf.

Strane räuspert sich. »Tja, dann will ich dich nicht weiter stören«, sagt er.

Nachdem er aufgelegt hat, pfeffere ich das Telefon von mir. Es bricht auf, die Batterien kullern über den Boden. Ich liege noch lange wach, den Blick auf die blauen Schatten geheftet, und denke an nichts. Mein Geist ist so gläsern und still, dass man darauf Schlittschuh laufen könnte.

Erst auf der Rückfahrt nach Browick eröffnet Mom mir, dass sie mich hat telefonieren hören. Als sie das sagt, lege ich reflexhaft die Hand auf den Griff neben mir, als wollte ich die Tür öffnen und mich in den Straßengraben werfen.

»Es hat sich angehört, als würdest du mit einem Jungen reden«, sagt sie. »War es so?«

Ich blicke starr geradeaus. Eigentlich hat hauptsächlich Strane geredet, aber es kann sein, dass sie abgehoben und gelauscht hat. Meine Eltern haben in ihrem Schlafzimmer kein Telefon, und ich habe den einzigen schnurlosen Apparat benutzt. Vielleicht habe ich nicht mitbekommen, wie sie nach unten gegangen ist?

»Es ist nicht schlimm, wenn es so war«, fährt sie fort. »Und es ist auch nicht schlimm, wenn du einen Freund hast. Das brauchst du nicht zu verheimlichen.«

»Was hast du denn gehört?«

»Nichts, eigentlich.«

Ich schiele zu ihr hinüber. Vermag nicht zu entscheiden, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht. Warum denkt sie, dass ich mit einem Jungen geredet habe, wenn sie nichts gehört hat? Mein Geist rast neben dem Auto her, um mit all dem Schritt zu halten. Irgendwas muss sie gehört haben, aber nicht genug, um wirklich Verdacht zu schöpfen. Denn wenn sie Stranes tiefe, kein bisschen jungenhafte Männerstimme gehört hätte, wäre sie garantiert ausgeflippt und umgehend in mein Zimmer gestürmt, um mir das Telefon aus der Hand zu reißen. Dann hätte sie nicht gewartet, bis wir im Auto sitzen, um es taktvoll unter vier Augen anzusprechen.

Ich stoße langsam die Luft aus und halte den Türgriff nicht mehr ganz so fest umklammert. »Bitte sag Dad nichts.«

»Aber nein«, sagt sie gut gelaunt. Als würde sie sich darüber freuen, dass ich mich ihr anvertraut und ihr mein Geheimnis verraten habe. Oder sie ist erleichtert darüber, dass ich einen Freund habe, wie andere Mädchen in meinem Alter. Dass ich nicht länger aus dem Raster falle.

»Aber ich möchte, dass du mir von ihm erzählst«, sagt sie.

Sie fragt, wie er heißt, und kurz herrscht völlige Leere in meinem Kopf; ich nenne ihn nie bei seinem Vornamen. Ich könnte mir einen Namen ausdenken, das wäre vermutlich am besten, aber die Versuchung, ihn laut auszusprechen, ist zu groß. »Jacob.«

»Oh, ein schöner Name. Sieht er gut aus?«

Ich zucke die Achseln. Weiß nicht recht, was ich sagen soll.

»Ist schon in Ordnung«, sagt sie. »Das Äußere ist nicht alles. Hauptsache, er ist nett zu dir, das ist viel wichtiger.«

»Ja. Er ist nett zu mir.«

»Gut«, sagt sie. »Nur darauf kommt’s mir an.«

Ich lasse den Kopf an die Lehne zurücksinken, schließe die Augen. Es ist Balsam für die Seele, das zu hören. Dass es nicht darauf ankommt, wie Strane aussieht, nur darauf, dass er nett zu mir ist. Und wenn sein Aussehen weniger ins Gewicht fällt, als wie er mich behandelt, dann gilt das wohl auch für den Altersunterschied zwischen uns oder den Umstand, dass er mein Lehrer ist.

Mom löchert mich weiter – in welchem Schuljahr ist er, wo ist er her, besuchen wir auch Kurse zusammen –, und ich spüre eine Enge in der Brust; also schüttle ich den Kopf und fauche: »Ich will jetzt nicht weiter darüber reden.«

Nachdem es eine Meile still geblieben ist, fängt sie wieder an. »Habt ihr auch Sex?«

»Mom!«

»Falls ja, dann solltest du dir die Pille verschreiben lassen. Ich vereinbare einen Termin für dich.« Sie hält inne und sagt dann, mehr zu sich selbst: »Nein, du bist erst fünfzehn. Das ist noch zu jung.« Sie wendet sich mir zu, sieht mich stirnrunzelnd an. »Man wird euch ja wohl beaufsichtigen. Das Internat ist kein rechtsfreier Raum.«

Ich sitze wie erstarrt da, ohne recht zu wissen, ob ich ihr das zur Beruhigung bestätigen soll. Ja, wir werden beaufsichtigt. Diese Aufgabe nehmen die Lehrer sehr ernst. Auf einmal ekelt mich alles an, dieses Gespräch und dass ich ihr etwas vorlüge, als wäre es nur ein Spiel.

Bin ich ein Monster?, frage ich mich. Wahrscheinlich. Sonst könnte ich nie derart lügen.

»Soll ich einen Termin für dich machen?«, fragt sie.

Stranes Hand kommt mir in den Sinn, wie er mich im Bett nach unten drückt. Seine Operation, eine Vasektomie. Ich verneine mit einem Kopfschütteln, und Mom atmet hörbar auf.

»Ich möchte nur, dass du glücklich bist«, sagt sie. »Glücklich und umgeben von Menschen, die nett zu dir sind.«

»Das bin ich«, sage ich. Draußen sausen die Wälder vorbei, und ich wage mich weiter vor. »Ich sei vollkommen, sagt er.«

Mom presst die Lippen zusammen, um sich ein noch breiteres Lächeln zu verkneifen. »Die erste Liebe ist schon was Besonderes«, sagt sie. »Die wirst du nie vergessen.«

Am ersten Schultag nach den Ferien ist Strane sehr übler Laune. Er nimmt mich nicht dran, wenn ich aufzeige, und behandelt mich auch sonst wie Luft. Wir lesen gerade In einem anderen Land, und als Hannah Levesque den Roman als langweilig bezeichnet, schnauzt Strane zurück, dass Hemingway sie vermutlich auch langweilig fände. Er droht Tom Hudson mit einer Rüge, weil der Reißverschluss seines Sweatshirts offen steht und sein Foo-Fighters-T-Shirt zu sehen ist – ein Verstoß gegen die Kleiderordnung. Nach der Stunde versuche ich, mit den anderen den Raum zu verlassen, da mir jede Lust vergangen ist, noch bei ihm zu bleiben. Doch ehe ich an der Tür bin, ruft Strane meinen Namen. Ich bleibe stehen, und die anderen strömen an mir vorbei wie ein Fluss, Tom mit zornig verbissener Miene, Hannah noch immer sichtlich gekränkt, Jenny, die mich ansieht, als wollte sie etwas sagen, als läge ihr allerlei auf der Zunge.

Als wir schließlich allein sind, schließt Strane die Klassenzimmertür, schaltet das Licht aus und geht mit mir ins Büro, wo die Heizung bullert; so sehr, dass das meergrüne Fenster beschlagen ist. Statt sich neben mir auf das Sofa zu setzen, lehnt er sich an den Tisch, offenbar ganz bewusst, so als wollte er mir eine Botschaft senden. Er schaltet den Wasserkocher an und wartet schweigend ab, bis das Wasser kocht und er sich einen Tee aufgießen kann; mir bietet er keinen an.

Als er sein Schweigen endlich bricht, ist sein Tonfall kühl und geschäftsmäßig. Mit dem dampfenden Teebecher in der Hand sagt er: »Ich weiß, du bist aufgebracht. Wegen des Gefallens, um den ich dich bei unserem Telefonat gebeten habe.« Bloß, dass ich das Telefonat praktisch schon vergessen habe, ebenso wie die Worte, die ich ihm zuliebe sagen sollte. Auch jetzt, als ich daran zurückdenke, kann ich mich kaum noch erinnern. Als würde mein Gehirn die Erinnerung aktiv verdrängen, abgestoßen von einer Macht, über die ich keine Kontrolle habe.

»Ich bin nicht aufgebracht«, sage ich.

»Doch. Das bist du. Eindeutig.«

Ich runzle die Stirn. Es kommt mir vor wie eine Finte; wenn hier einer aufgebracht ist, dann er. Ich jedenfalls nicht. »Wir brauchen nicht darüber zu sprechen.«

»Doch«, sagt er. »Wir sollten darüber sprechen.«

Er übernimmt den Großteil des Redens. Er habe in den Ferien Zeit zum Nachdenken gehabt, sagt er, darüber, dass ich ihm in so vieler Hinsicht noch immer ein Rätsel bin. Dass er mich im Grunde gar nicht richtig kenne. Ob er womöglich zu viel in mich hineinprojiziere. Ob er sich vorgemacht habe, dass es zwischen uns eine Verbindung gibt, obwohl er nur ein Abbild seiner selbst gesehen habe.

»Ich bin sogar ins Grübeln geraten, ob es dir überhaupt gefällt, Liebe zu machen, oder ob das bloß eine Schau ist, die du mir zuliebe abziehst.«

»Es gefällt mir«, sage ich.

Er seufzt. »Ich würde dir so gern glauben. Wirklich.«

Er redet weiter, während er in dem kleinen Büro auf und ab geht. »Ich hege so starke Empfindungen für dich«, sagt er. »Manchmal habe ich die Sorge, deswegen tot umzufallen. Etwas so Intensives habe ich noch bei keiner anderen Frau erlebt. Es ist ein völlig neuer Kosmos der Empfindung.« Er bleibt stehen, sieht mich an. »Jagt es dir Angst ein, einen Mann wie mich so über dich reden zu hören?«

Einen Mann wie mich. Ich schüttle den Kopf.

»Wie fühlst du dich dann dabei?«

Ich blicke zur Decke hoch, während ich nach dem passenden Wort suche. »Mächtig?«

Darauf löst sich seine Anspannung etwas, als würde ihn die Vorstellung beruhigen, dass ich mich seinetwegen mächtig fühle. Fünfzehn Jahre sei ein seltsames Alter, sagt er, ein echtes Paradox. Dass man in der Pubertät so mutig sei wie später nie mehr im Leben, wegen der Funktionsweise des Gehirns in dem Alter, eine Kombination aus Formbarkeit und Arroganz.

»Aktuell«, sagt er, »mit fünfzehn, kommst du dir vermutlich älter vor als später mit achtzehn oder zwanzig.« Er lacht und geht vor mir in die Hocke, nimmt meine Hände und drückt sie. »Mein Gott, was für eine Vorstellung. Du mit zwanzig.« Er streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Hast du dich damals so gefühlt?«, frage ich. »Als du …« Den Rest des Satzes, als du in meinem Alter warst, lasse ich ungesagt, weil es zu sehr klingt wie etwas, das ein Kind sagen würde, aber er versteht mich auch so.

»Nein, aber Jungen sind auch anders. Als Halbwüchsige sind sie nicht weiter von Belang, zu wirklichen Menschen reifen sie erst als Erwachsene heran. Bei Mädchen passiert das viel früher. Mit vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Das ist das Alter, in dem euer Verstand erwacht. Immer wieder prachtvoll, das mitzuerleben.«

Mit vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Er ist wie Humbert Humbert, der bestimmten Lebensaltern mythische Bedeutung zuschreibt. »Meinst du nicht eher, zwischen neun und vierzehn?«, frage ich, mehr im Scherz und in der Annahme, dass er die Anspielung versteht. Aber er sieht mich an, als hätte ich ihn grässlicher Untaten beschuldigt.

»Neun?« Er sieht mich stirnrunzelnd an. »Wie kommst du denn darauf. Mein Gott, doch nicht neun

»Es war ein Scherz«, sage ich. »Du weißt schon, wie in Lolita. Das Alter, in dem Nymphetten angeblich ihre wahre Natur enthüllen.«

»Das also denkst du von mir?«, fragt er. »Dass ich pädophil bin?«

Als ich stumm bleibe, erhebt er sich und fängt wieder an, seine Runden zu drehen.

»Du nimmst das Buch zu wörtlich. Ich bin nicht diese Romanfigur. Und das Verhältnis der beiden hat mit uns nichts zu tun.«

Meine Wangen glühen vor Beschämung. Seine Kritik empfinde ich als unfair, er hat mir den Roman schließlich zu lesen gegeben. Was hat er denn erwartet?

»Ich fühle mich nicht zu Kindern hingezogen«, fährt er fort. »Ich meine, sieh dich an, deinen Körper. Du bist kein bisschen kindlich.«

Ich sehe ihn mit schmalen Augen an. »Wie meinst du das?«

Er bleibt stehen, als wäre sein Ärger kurz verraucht, und ich habe den Eindruck, dass sich die Gewichte wieder leicht zu meinen Gunsten verschieben. »Na ja, wie du aussiehst«, sagt er. »Du bist …«

»Was bin ich?« Ich beobachte von der Couch aus, wie er um Worte ringt.

»Du bist schon ziemlich entwickelt, meine ich. Mehr wie eine Frau als ein Kind.«

»Ich bin also fett.«

»Nein. Mein Gott, nein. So meine ich das nicht. Natürlich nicht. Sieh mich an, ich bin fett.« Er klatscht sich auf den Bauch, versucht mich zum Lachen zu bringen, und eigentlich würde ich gern darauf eingehen, weil ich weiß, dass er es nicht so gemeint hat. Aber es fühlt sich gut an, ihn in die Defensive zu drängen. Er setzt sich neben mich, nimmt mein Gesicht in die Hände. »Du bist perfekt«, sagt er. »Du bist perfekt, du bist perfekt, du bist perfekt.«

Eine Weile bleibt es still. Er blickt mich an, während ich stur zur Decke hinaufschaue, denn so rasch will ich nicht nachgeben, noch habe ich die Oberhand. Als ich mich ihm zuwende, sehe ich, dass ihm ein Schweißtropfen über die Wange rinnt. Ich schwitze ebenfalls – in den Achseln, unter dem Busen.

Er starrt mich eindringlich an. »Worum ich dich am Telefon gebeten habe, diese paar Worte? Es war bloß eine Fantasie. Das würde ich nie wirklich tun. So würde ich nie sein.«

Ich sage nichts. Wende das Gesicht wieder zur Decke.

»Glaubst du mir?«, fragt er.

»Keine Ahnung. Ich denke schon.«

Er streckt die Hände aus, zieht mich auf seinen Schoß und drückt mich an sich, sodass mein Gesicht an seiner Brust ruht. Manchmal ist es einfacher, in dieser Haltung zu reden. Weil wir uns dabei nicht ansehen.

»Ich bin ein bisschen dunkel, ich weiß«, sagt er. »Dafür kann ich nichts. So war ich immer schon. Es ist ein einsames Leben, das ich führe, aber mit dieser Einsamkeit hatte ich mich abgefunden. Bis du mir über den Weg gelaufen bist.« Er zupft mich am Haar. Du. »Als du anfingst, mir deine Gedichte zu geben und mir nachzustellen, dachte ich erst, na schön, das Mädel ist verknallt. Halb so wild. Lass sie ruhig flirten und bei dir im Klassenraum sitzen, was ist schon dabei. Aber mit der Zeit ist mir klar geworden, mein Gott, dieses Mädchen ist ja wie ich. Einzelgängerisch, anders als die anderen, mit allerlei dunklen Sehnsüchten. Nicht wahr? Stimmt’s? Habe ich recht?«

Er wartet auf meine Antwort, meine Bestätigung, dass ich so bin, wie er mich beschreibt. Aber so habe ich mich selbst nie gesehen, und dass ich ihm nachgestellt habe, scheint auch nicht ganz richtig. Er hat mir Bücher gegeben, ehe ich ihm je ein Gedicht ausgehändigt habe. Er hat gesagt, dass er mir gern einen Gutenachtkuss geben würde und dass mein Haar die Farbe roter Ahornblätter hat. Und das alles, ehe ich überhaupt begriffen habe, was wirklich los ist. Mir fällt seine Beteuerung ein, dass ich das Sagen hätte und dass ihm die nicht existenten Liebeleien egal sind, die ich vor ihm gehabt habe. Es gibt Dinge, an die er glauben muss, um mit sich leben zu können, und es wäre grausam von mir, sie als Lügen abzutun.

»Denk daran, wie du reagiert hast, als ich dich das erste Mal berührt habe«, sagt er. »Alle anderen Mädchen in deiner Klasse wären entsetzt gewesen, aber du nicht.«

Er packt mich am Haar und zieht meinen Kopf zurück, um mir ins Gesicht schauen zu können. Nicht direkt grob, aber auch nicht allzu sanft.

»Wenn wir zusammen sind«, sagt er, »fühlt es sich an, als würden die dunklen Dinge in mir an die Oberfläche steigen und mit den dunklen Dingen in dir zusammenstoßen.« Seine Stimme zittert leicht, seine Augen sind groß und starr, voller Liebe. Er sieht mich gespannt an, in der Hoffnung auf Bestätigung. Verständnis. Die Versicherung, dass er nicht allein ist.

Ich denke daran, wie er hinter seinem Schreibtisch das Knie an mich gedrückt und mich gestreichelt hat. Wie egal es mir war, dass er nicht um Erlaubnis gefragt hatte, dass er mein Lehrer war und sich mit uns noch neun weitere Personen im Raum befanden. Als es geschah, hatte ich nur den Wunsch, dass es bei diesem einen Mal nicht bleiben würde. So hätte ein normales Mädchen nicht reagiert. Da ist etwas Dunkles in mir, etwas, was immer schon da war.

Als ich schließlich sage, ja, das fühle ich auch – die Dunkelheit in ihm, die Dunkelheit in mir –, kann er sich kaum halten vor Dankbarkeit und Entzücken. Sein Griff in meinem Haar verstärkt sich, ich kann sehen, wie sich die Pupillen hinter seinen Brillengläsern vor Begierde erweitern. Er begehrt und begehrt und begehrt. Mitunter, wenn er auf mir liegt, wenn er mit zugekniffenen Augen aufstöhnt und nicht mal darauf achtet, ob ich erregt bin oder traurig oder gelangweilt, beschleicht mich das Gefühl, dass es ihm eigentlich nur darum geht, etwas von sich selbst in mir zurückzulassen, seinen Claim abzustecken; nicht, um mich zu schwängern oder so was, sondern etwas Dauerhafteres. Er will sicherstellen, dass er immer dort sein wird, komme, was da wolle. Will seine Fingerabdrücke auf mir hinterlassen, auf jedem Stück Muskel und Knochen.

Da stößt er sich auch schon in mich, stemmt die Beine gegen die Armlehne der Couch und stöhnt mir ins Ohr. Ich weiß, daran werde ich mich erinnern, wenn ich später im Leben an die Zeit mit fünfzehn zurückdenke. Seltsame Vorstellung.