11. EINE ECHTE ÜBERRASCHUNG

Hicks konnte zwar nichts sehen, spürte aber, dass er die Kerkertreppe hinaufgetragen wurde. Er hörte weiche Schritte und Flüsterstimmen ringsum, und während er sich wehrte, dämmerte ihm allmählich, dass die Stimmen keine Drachenstimmen waren, sondern die von Menschen.

Er hatte das Gefühl, in einen Raum geschleppt zu werden, weil jetzt die Stimmen ein wenig lauter von den Wänden widerhallten und die Luft noch kälter war als im Kerker. Und dann kam eine noch größere Überraschung: Er erkannte eine der Stimmen, doch sie gehörte einer Person, deren Stimme er seit sehr langer Zeit nicht mehr gehört hatte …

»Hör endlich mit dem Strampeln auf«, sagte die Stimme. »Wir sind Freunde. Wir wollen dir helfen, zu fliehen. Aber wir mussten dir einen Knebel in den Mund schieben, weil wir Angst hatten, dass du zu schreien anfängst, denn bestimmt hast du nicht damit gerechnet, dass wir kommen.«

Hicks spürte, wie er aus der Decke ausgewickelt wurde. Der Knebel wurde ihm aus dem Mund genommen und die Augenbinde vom Kopf gezogen. Hicks fühlte sich, als würde man ihn aus einem Grab ans Tageslicht heben.

Und ringsum waren Gesichter, die er kannte, und das Gesicht, das seinem am nächsten war, kannte er sogar sehr gut.

»Kamikazzi!«, flüsterte Hicks voll freudiger Überraschung.

Kamikazzi war eine kleine, ziemlich geschwätzige, tollkühne und absolut mutige Sumpfdiebin, mit einem dichten blonden Haarschopf, der immer so aussah, als hätte darin eine Bande Eichhörnchen herumgetanzt.

Und außerdem war sie auch noch eine von Hicks’ besten Freunden.

Kamikazzi schaute ihn einen Moment lang verblüfft an, doch dann riss sie ihm die Augenbinde herab, kratzte die falsche Warze weg und rief, fast außer sich vor Rührung und Begeisterung: »Hicks!«

Sumpfdiebinnen und Sumpfdiebe sollen eigentlich ihre Gefühle nicht zeigen, selbst wenn sie sich wirklich freuen, jemanden wiederzusehen, weshalb Kamikazzi jetzt knallrot anlief, weil sie nicht so recht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Deshalb runzelte sie erst einmal wütend die Stirn, boxte Hicks dreimal kräftig gegen die Schulter, umarmte ihn, boxte ihn noch ein paarmal und stieß zwischen den Boxhieben hervor: »Wo … warst … du … die … ganze … Zeit?!«

Wenn es nicht Kamikazzi gewesen wäre, hätte man fast glauben können, dass sie dabei schluchzte. Aber Sumpfdiebinnen weinen nicht. Niemals. »Nein, nein, ich hab mir keine Sorgen um dich gemacht«, fügte sie hastig hinzu, »wir Sumpfdiebe machen uns nie Sorgen um andere, dafür sind wir viel zu cool, aber« – sie boxte ihn wieder – »wo … warst … du … so … lange …?«

»Aua!«, sagte Hicks, hielt sich die Schulter, musste dabei aber grinsen. »Du bist tatsächlich der erste Mensch, der mich erkannt hat. Natürlich will ich nicht, dass mich die Leute ausgerechnet hier in der Kerkerburg wiedererkennen, aber es ist trotzdem gut zu wissen, dass ich mich in dem einen Jahr noch nicht völlig verändert habe.«

Kamikazzi war immer noch feuerrot im Gesicht und runzelte jetzt noch wütender die Stirn. »Warum hast du nicht nach mir gesucht?«, fragte sie und schlug die Hände vors Gesicht. »Etwa, weil ich mich auch von dir abgewandt habe, als dich die Hexe vor allen anderen als Sklave anklagte? Das tut mir nämlich schrecklich leid, Hicks, und ich habe mir tausendmal gewünscht, dass ich mich auf deine Seite gestellt hätte, genau wie es Fischbein damals getan hat … Aber ich war völlig geschockt wegen der Sache mit dem Sklavenmal …«

»Nein, nein«, versicherte ihr Hicks. »Das war nicht der Grund. Ich wusste doch, dass du es eigentlich nicht so gemeint hast.«

»Bist du sicher?«, murmelte Kamikazzi, immer noch ein wenig bedrückt.

»Absolut sicher«, versicherte ihr Hicks verlegen.

»Außerdem hab ich dich beobachtet – es war eigentlich nicht so, dass du dich völlig von mir abgewendet hast, sondern es war eher so ein Wegducken oder ein Zusammenzucken, jedenfalls höchstens ein Halb-Abwenden, und auch nur für einen winzigen Augenblick …«

»Ein Halb-Abwenden?«, schnüffelte Kamikazzi hoffnungsvoll und erleichtert.

»Hm-hm. Und der einzige Grund, warum ich später nicht zu dir gekommen bin, ist, dass mich seither alle verfolgen und durch den ganzen Archipel jagen, und ich wollte dich nicht auch noch in Gefahr bringen«, erklärte Hicks.

»Na, das war doch irgendwie echt cool von dir, oder?«, sagte Kamikazzi grinsend, aber unendlich erleichtert und froh. »Aber du weißt doch, dass ich auf Gefahren stehe!« Sie rieb sich aufgeregt und tatendurstig die Hände.

»Na klar doch«, sagte Hicks. »Aber wenn wir schon von Gefahren reden: Was um alles in der Welt hast du hier zu suchen, Kamikazzi?«

»Wir sind Fluchtkünstler«, erklärte Kamikazzi strahlend. »Das hier ist mein Team: Sportsfreund, Sirbelsturm, Amazotta und Fleischklops«, stellte sie die vier Sumpfdiebe vor, die neben ihr im Abwasserkanal hockten.

Das Team hatte Hicks in die Decke gewickelt und ihn dann auf den Schultern durch den Flur und in den Schacht getragen.

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Die vier Sumpfdiebe waren alle viel größer und stärker als Kamikazzi, auch das Mädchen Amazotta, aber alle trugen gleiche Einbrecherklamotten und schleppten eine Menge Waffen und Werkzeuge mit sich herum.

Hicks war überrascht, als die Sumpfdiebe ihm fast schüchtern die Hand schüttelten. »Das ist doch nicht etwa … der Verbannte, oder?«, stieß Sirbelsturm schließlich heraus.

»Genau der«, erklärte Kamikazzi lässig, wobei sie aber vor Stolz schier platzte. »Das hier ist mein Freund, der Verbannte, Hicks der Hartnäckige vom Hauenstein der Dritte!«

Bestimmt würdest auch du dich freuen, wenn dich jemand seinen Kumpels als Freund oder Freundin vorstellt und dabei vor Stolz schier platzt?

»Wow!«, sagte Sirbelsturm beeindruckt und schüttelte Hicks so kräftig die Hand, dass er ihm fast die Schulter ausrenkte. »Große Ehre! Total krass! Kamikazzi hat uns vollgelabert, was du so alles machst, Mann, oder nicht, Leute? Dass du Hunderte Drachen aus den Drachenfallen befreit hast … und dass du gegen diesen Fiesling Alwin und seine Alte, die Hexe, kämpfst. Respekt, Kumpel, Respekt!«

»Äh, danke«, sagte Hicks überrascht.

Mittlerweile hatte auch Ohnezahn etwas entdeckt, worüber er sich riesig freuen konnte. Denn hinter Kamikazzi hatte sich ihr Drache Sturmfliege herangeschlichen. Sturmfliege war ein Kapriziösdrache – ihre Farbe änderte sich mit ihren Launen und je nachdem, ob sie log oder nicht. Und Ohnezahn war hoffnungslos in Sturmfliege verknallt.

»Oh … ha-ha-hallo, Sturmfliege«, stotterte Ohnezahn und tat so, als sei sie ihm völlig gleichgültig.

»Wen haben wir denn da?«, säuselte Sturmfliege. »Na, wenn das nicht Ohnezahn ist …«

»Wir sind Verba-ba-bannte!«, erklärte Ohnezahn. »Du solltest mal Ohnezahns Au-Au-Augenbinde sehen …«

»Du siehst damit bestimmt sehr attraktiv aus«, hauchte Sturmfliege und wurde ein wenig lila.

»Und de-de-der hier ist Ohnezahns Helfershelfer … Äh … W-W-Wotansfang. Mach ihn nicht b-b-böse, er ist ein verdammt gefährlicher Drache!«

Der Wotansfang war ein bisschen überrascht, dass er als Ohnezahns Helfershelfer vorgestellt wurde, aber er wollte kein Spielverderber sein und gab sich Mühe, so gefährlich wie möglich auszusehen. Keine ganz leichte Aufgabe, wenn man ein paar Tausend Jahre auf dem gezackten Buckel hat, kaum größer als eine Keksdose ist und Flügel und Beine besitzt, die dünner als die einer Stabheuschrecke sind.

»Ü-Ü-Überall im Wald hängen Steckbriefe von uns und so«, prahlte Ohnezahn.

»Wir Fluchtkünstler betreiben einen Fluchthelferdienst, verstehst du«, erklärte da Kamikazzi. »Als ich erfuhr, dass sie Fischbein in die Kerkerburg Düsterherz gesperrt hatten, hab ich sofort mein Einsatzteam zusammengetrommelt. Schließlich bin ich selbst im Laufe der Jahre aus so vielen Kerkern und Gefängnissen geflohen, deshalb dachte ich, warum ziehe ich die ganze Sache nicht gleich richtig auf und gründe einen Profi-Fluchtdienst? Super Idee, findest du nicht?«

Sie schaute ihn ein wenig schuldbewusst an. »Aber erzähl das nicht meiner Mutter, okay?« Dann schnüffelte sie in der Luft. »Du … du stinkst ein bisschen, Hicks«, fügte sie hinzu, denn Kamikazzi nahm nie ein Blatt vor den Mund.

»Stinkdrachen-Gel«, erklärte Hicks. »Gehört zu meiner Tarnung.«

»Clever, clever«, sagte Kamikazzi bewundernd. »Aber jetzt schau dir mal meine Tarnung an.« Sie wühlte in ihrem Rucksack und zog eine Wilderwest-Gefängniswärter-Uniform heraus, dann ein Drachenhautkostüm (»falls wir in einen Angriff der Drachenrebellen geraten«), die Vogelscheuch-Klamotten eines Friedland-Bauern …

»Das ist wirklich fantastisch, Kamikazzi«, sagte Hicks. »Aber ich glaube, mit dem Schnurrbart übertreibst du ein bisschen …«

»Findest du?«, sagte Kamikazzi enttäuscht und klebte sich den Schnurrbart über die Oberlippe. »Das ist aber eines meiner liebsten Tarndinger.«

»Ich staune nur, dass ihr einen Weg aus der Burg entdeckt habt«, sagte Hicks. »Seit Jahrhunderten versuchen die Gefangenen, aus diesem Kerker zu fliehen, ganz zu schweigen vom Drachen Wildwut, der ständig versucht, in die Burg einzudringen … Wie habt ihr das bloß geschafft?«

Wie jeder Mensch hatte auch Kamikazzi ihre Fehler und dazu zählte auch, dass sie nicht besonders bescheiden war.

»Ich bin eben brillant«, sagte sie selbstzufrieden. »Jedes Gebäude hat seine Schwachstellen. Man muss nur danach suchen. Abwasserkanäle, solche Sachen eben. Schau dir nur mal meine zusammenklappbare Sturm- und Fluchtleiter an, vollständig aus zerbrochenen Rudern konstruiert!«

Na ja, diese Leiter sah wirklich ein wenig zu sehr zusammenklappbar aus, fand Hicks.

»Im Ausbrechen sind wir Sumpfdiebe eben einfach unschlagbar, sage ich dir«, verkündete Kamikazzi strahlend.

»Und Fischbein? Habt ihr auch Fischbein befreit?«, fragte Hicks voller neuer Hoffnung.

Kamikazzi schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Wir sind erst vor ungefähr einer Woche hierhergekommen, aber für Fischbein waren wir schon zu spät dran.«

Oh nein …

Nein, bitte nicht, nein, nein, nein.

»Was … was glaubst du, ist mit ihm passiert?«, fragte Hicks schließlich.

Kamikazzi seufzte. »Als wir hier ankamen, holten wir zuerst einen Jungen namens Wackelzahn heraus«, erklärte sie.

»Wackelzahn Glotzauge?«, fragte Hicks.

Kamikazzi nickte. »Genau der. Er hat uns Fischbeins Bett gezeigt, dasselbe, in dem jetzt du schläfst. Und er erzählte uns, dass Fischbein gerade erst am Tag davor verschwunden sei.«

Hicks konnte es kaum glauben.

Kamikazzi seufzte wieder. Sie wusste, was Hicks dachte. »Ich weiß«, sagte sie traurig. »Ich wollte es zuerst auch nicht glauben. Wir konnten zwar Fischbein nicht mehr befreien, aber seither haben wir alle paar Tage einen Gefangenen herausgeholt. Wenn wir noch mehr Sklaven befreien, wird die Hexe bald merken, dass da etwas nicht stimmt.«

Na, das erklärte wenigstens, wieso die Leute, die vor Hicks in dem Bett geschlafen hatten, plötzlich nicht mehr aufzufinden waren. Hicks war erleichtert, dass er jetzt Eggingard erklären konnte, was da passierte, damit sie morgens nicht mehr aufwachen und voller Entsetzen feststellen musste, dass schon wieder jemand verschwunden war. Kein Wunder, dass sie glaubte, das Ungeheuer habe sie geholt …

Aber was war mit Fischbein geschehen? Hicks berührte die Hummerscherenkette, die Fischbein ihm geschenkt hatte. Sie zu berühren, gab ihm Zuversicht und Hoffnung.

Wie Kamikazzi gesagt hatte, war Fischbein der Einzige gewesen, der sich in Blitzbrenners Schwertkampfschule nicht von Hicks abgewandt hatte. Fischbein hatte immer zu ihm gehalten, hatte immer an Hicks geglaubt und ihm vertraut.

»Aber ich bin froh, dass wir unseren Fluchthelferservice gegründet haben«, fuhr Kamikazzi fort. »Jetzt können wir dir helfen zu fliehen!«

»Ich will doch gar nicht fliehen!«, widersprach Hicks. »Zuerst muss ich Fischbein finden.«

Kamikazzi schaute ihn an, plötzlich mit sehr ernstem Gesicht. »Hicks, wir sind deine einzige Chance, hier herauszukommen. Der ganze Archipel verlässt sich auf dich!«

»Ganz genau«, sagte Sirbelsturm.

»Darauf kannst du Gift nehmen, Kumpel«, nickte Amazotta.

»Du musst dich damit abfinden, Hicks«, sagte Kamikazzi. »Fischbein ist … verschwunden. Und du solltest längst draußen sein und nach dem Drachenjuwel suchen, statt hier drin zu versauern. Hier ist das Juwel nämlich nicht, glaub es mir.«

»Ja, keiner von uns glaubt, dass es hier ist«, sagte der Wotansfang. »Das ist eine von Grimmbarts Finten …«

»Was hat der komische kleine Drache gerade gesagt?«, wollte Kamikazzi wissen.

»Egal, ist nicht wichtig«, sagte Hicks stur und trotzig. »Ich fliehe nicht, Punkt. Ich suche weiter nach Fischbein, egal, was ihr sagt.«

Kamikazzi seufzte. »Okay, schon gut. Wenn das so ist, bleibe ich hier bei dir. Du bist schließlich nur ein Junge und deshalb brauchst du ein Mädchen, das dich bei dieser Suche beschützt.«

»Du bleibst nicht hier!«, widersprach Hicks heftig. »Denk doch nur, was deine Mutter sagen würde!«

»Ach, der wäre das egal«, sagte Kamikazzi lässig. »Sie hat im Moment mit dem Drachenaufstand alle Hände voll zu tun. Die Drachen greifen jetzt jede Nacht die Sumpfdiebinseln an, so ähnlich wie hier.«

»Du wirst auf gar keinen Fall hierbleiben, Kamikazzi«, wiederholte Hicks nachdrücklich. »Du hast kein Sklavenmal, für dich wäre es viel zu gefährlich. Und außerdem«, fügte er hastig hinzu, weil ihm einfiel, wie sehr sie die Gefahr liebte und eine neue Herausforderung brauchte, »musst du doch dein Fluchthelfer-Serviceteam leiten! Ich hab nämlich einen neuen Auftrag für euch. Es gibt da ein kleines Mädchen namens Eggingard, sie schläft auf dem Strohlager neben meinem Bett und ich glaube, sie muss dringend aus der Kerkerburg herausgeholt werden. Sie hält das Leben hier drin nicht mehr lange aus.«

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»Na schön, abgemacht!«, sagte Kamikazzi, und nachdem sie kurz nachgedacht hatte, wechselte sie das Thema. »Sumpfdiebe!«, sagte sie zu ihrem Fluchtkünstlertrupp in lautem, verschwörerischem Flüsterton. »Nächste Mission: Operation Eggingard!«

»Operation Eggingard!«, wiederholten Sirbelsturm, Sportsfreund und Amazotta begeistert und stießen nach Sumpfdiebart die Fäuste zusammen.