25. GLAUB BLOSS NICHT, ICH BIN TOT …

Fischbein schaute ihn müde durch das milchige Glas an.

»Fischbein!«, rief Hicks. »Ich dachte, du bist tot!«

»Nein«, sagte Fischbein, »bin ich nicht. Oder jedenfalls glaube ich nicht, dass ich tot bin …«

Seine Stimme klang schwach, sehr, sehr schwach. »Aber ich muss zugeben, so richtig lebendig fühle ich mich auch nicht. Alles in allem habe ich schon bessere Zeiten erlebt.«

Hicks lachte, ein wenig unsicher. »Nein, tot bist du nicht, Fischbein. Du bist hier in der Höhle des Ungeheuers der Bernstein-Sklavenlande. Das Ungeheuer bevorzugt Frischfleisch, wahrscheinlich hat es dich für Notzeiten lebendig aufbewahren wollen.«

»Ah«, nickte Fischbein. »Das kann sein. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, dass meine Aussichten nicht besonders günstig sind.«

»Lehn dich auf die andere Seite, Fischbein«, befahl Hicks, dann hackte er mit dem Schwert auf die Säule ein, aber vorsichtig, damit Fischbein nicht von den scharfen Glasbrocken verletzt wurde.

Bei Thors Geburtstag – wie kalt war es hier unten! Hicks zitterte, als er das Schwert schwang. Die Feuchtigkeit drang durch seine Sandalen, die Kälte der unterirdischen Glashöhlen drang ihm bis ins Herz.

»Schütze deinen Kopf mit den Armen, Fischbein«, flüsterte Hicks, auch wenn er selbst nicht wusste, warum er plötzlich flüsterte – schließlich war das Ungeheuer mausetot. Aber hier unten war es so unheimlich, so gespenstisch, so düster, feucht … und kalt …

Krach! Krach! Nach zwei weiteren Schlägen brach Fischbeins gläsernes Gefängnis endlich zusammen. Und in dem Scherbenhaufen hockte Hicks’ Freund, eng in sich zusammengekauert, beide Arme über den Kopf gelegt und zitternd vor Kälte. Es war, als würde Hicks eine im Eis erstarrte Gestalt wieder ins Leben zurückholen. Und was für einen erschöpften, abgemagerten, jammervollen Anblick er bot! Tränen rannen Fischbein übers Gesicht und die Kleider hingen schlaff an ihm wie an einer von Raben zerfledderten Vogelscheuche. Fischbeins Gesicht war fast blau vor Kälte und die zerbrochene Brille hing schief auf seiner Nase.

Allerdings sah auch Hicks keineswegs besser aus. Die beiden Jungen waren keine Wikinger mehr. Ihr Stamm: verloren. Ihre Drachen: verloren. Alles hatten sie verloren. Hungrig, dünn wie Bohnenstangen, mit einem Brandmal auf der Stirn, das aller Welt klarmachte, dass sie Sklaven waren und Kümmerlinge obendrein … Und so standen sie einander schwankend vor Erschöpfung gegenüber und starrten sich an.

Fischbein war kälter als Eis, also rieb Hicks ihm die blauen Arme, um seine Blutzirkulation anzuregen.

»W-w-wieso b-b-bist d-d-du hier?«, brachte Fischbein mit klappernden Zähnen hervor.

»Ich hab dich gesucht.«

»A-a-aber ich b-b-bin nicht w-w-wichtig«, sagte Fischbein schwach und niedergeschlagen. »Du s-s-solltest lieber deine S-S-Suche vorantreiben … Das ist dein Schicksal. Was ist denn nun mit dem D-D-Drachenjuwel?«

»Du bist wichtig!«, sagte Hicks und rieb Fischbeins Arme noch heftiger, auch seine Brust und überhaupt alles, um ihn endlich wieder vollends ins Leben zurückzuholen. »Dein Hummerscherenhalsband hat mir das Leben gerettet!«

»Wirklich?«, fragte Fischbein und riss ungläubig die Augen auf. »Mein Hummerscherenhalsband hat DIR das Leben gerettet?«

Und so erzählte Hicks Fischbein die Geschichte von Fischbeins Mutter Termagant, vom Todesschatten und der Hummerreuse, die vor dreizehn Jahren im Dunst aufs offene Meer hinausgetrieben war.

Wer will da noch behaupten, nicht einmal die beste Geschichte könne jemanden wieder lebendig machen?

Nun, diese Geschichte machte Fischbein lebendig, und wie! Seine Gesichtsfarbe verwandelte sich von Grau zu Blassrosa und sein Herz, das zuvor kaum noch geschlagen hatte, begann wieder, regelmäßig zu pochen.

»Dann hat mich meine Mutter also doch geliebt!«, stieß Fischbein erstaunt hervor. »Sie wollte mich suchen und mit mir auf der Heldenende-Insel leben!«

»Und das hätte sie auch getan«, nickte Hicks, »wenn sie am Leben geblieben wäre. Und der Todesschatten, der ihr geschworen hatte, sich um dich zu kümmern, ist jetzt dein Todesschatten!«

Fischbein konnte sein Glück kaum fassen. Sein ganzes Leben lang hatten ihm immer nur die schlechtesten Sachen gehört.

Er besaß den einzigen pflanzenfressenden Reitdrachen im ganzen Archipel, was schon peinlich genug war, und noch schlimmer: Sein Reitdrache war kaum größer als ein Shetlandpony. In der Schule war er immer und in allen Fächern der Schlechteste, außerdem hatte er jede Menge Pickel, litt an Asthma, hatte X-Beine und war stark kurzsichtig. Deshalb war es für ihn ein einzigartiger Augenblick, als er erfuhr, dass dort draußen ein dreiköpfiger, bis an die Zähne bewaffneter, total cooler Todesschattendrache auf ihn wartete, der geschworen hatte, ihn zu beschützen, und bereit war, sein Leben für ihn zu opfern.

Und um allem noch die Krone aufzusetzen, zog Hicks nun etwas aus seinem Wams … das Drachenjuwel! Es leuchtete warm wie ein rotgoldener Stern in der düsteren Glashöhlenkammer.

»Ohhh«, seufzte Fischbein. Er berührte das Juwel sanft mit der Hand. »Das Drachenjuwel«, flüsterte er. Er schaute Hicks an …

… und lächelte, vor Freude und Begeisterung, zum ersten Mal seit langer, langer Zeit.

»Hicks – das kann nur eins bedeuten: dass du der König bist.«

Hicks lächelte auch, aber ein wenig verlegen. »Na ja, es bedeutet eigentlich nur, dass ich ziemlich gut darin bin, die Verlorenen Dinge des Königs zu finden. Aber vergiss nicht, dass du zuerst hier warst.«

Fischbein streichelte das Drachenjuwel noch ein paar Mal.

Dann stand er langsam auf.

»Also dann«, sagte Fischbein. Entschlossen schob er die zerbrochene Brille hoch und drückte sie fest auf den Nasenrücken. »Jetzt müssen wir erst mal hier raus! Das wird ein Auftritt! Kann es kaum erwarten, vor den Augen der anderen auf dem Rücken eines Dreiköpfigen Todesschattens zu landen! Die werden Augen machen! Tut mir leid, Kumpel, aber das will ich auf keinen Fall verpassen!«

Hicks grinste und zog Grimmbarts zerfledderte, halb verkohlte Karte aus der Tasche. Sie würde ihnen helfen, den Ausgang zu finden.

Die beiden Jungen liefen rasch durch die Höhlengänge, um zu der Stelle zu kommen, die Grimmbart auf der Karte freundlicherweise als »Ausgang« gekennzeichnet hatte.

Es kam ihnen so vor, als würden die Gänge immer weiter nach oben führen. Ein seltsames Licht erhellte die Gänge, ein Licht, das nicht von den Zitterekligen Glimmstänglern oder den Glühwürmern kam, das weiter unten die Höhle beleuchtet hatte, und plötzlich merkten sie, dass sie völlig von diesem eigenartigen Licht umgeben waren. Auf der anderen Seite der Glaswände entdeckten sie seltsame Umrisse und Schatten, die wie große Farne aussahen und sich bewegten, schwankten, winkten …

Seetang.

Der Glastunnel war nun nicht mehr von Sand umgeben, sondern von Wasser. Sie befanden sich auf dem Meeresgrund. Riesige Fischschwärme zogen vorbei, verschwanden im dichten Seetang und erschienen wieder, wie in einem unendlichen Spiel wechselten sie ständig die Form. Sanft schwebten riesige Quallen und monströse Oktopusse durch das Wasser, und als der Glastunnel wie eine riesige Glasschlange den Meeresboden hinter sich ließ und immer höher hinaufführte, sahen sie unter sich Krebse über den sandigen Meeresboden huschen.

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»Wow.« Fischbein presste die Nase an die Glaswand.

Der Tunnel bog nun steiler nach oben ab; auf dem glatten Glas konnten sich die Jungen kaum noch festhalten. Hicks kratzte mit dem Schwert kleine Ritzen in das Glas, an denen ihre Finger und Fußspitzen Halt fanden, aber es war mühsam und zehrte an ihren Kräften.

Offenbar kamen sie gerade noch rechtzeitig, denn der Tunnel machte eine kleine Biegung, die die steigende Flut noch nicht bedeckt hatte. Wenn die Flut noch höher stieg, würde der gesamte Tunnel vom Wasser eingeschlossen sein und sie hätten keine Möglichkeit mehr, ein Loch in die Glaswand zu schlagen, ohne im hereinströmenden Wasser zu ertrinken.

Aber es gab die kleine Biegung – und dahinter: nichts als reine Luft.

Hicks hackte mit dem Schwert ein Loch in die Tunnelwand. Vorsichtig, um sich nicht zu verletzen, kletterten sie durch das scharfzackige Loch in das Meer hinaus.

Und es war kalt, das Meer, eiskalt.

Sie blickten sich um, nichts als zwei winzige Köpfe, die neben dem zerbrochenen Tunnelschacht irgendwo, mitten im unendlichen Ozean, auf den Wellen auf und ab trieben. Meer, Meer, Meer, so weit das Auge blickte.

Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht.

Sie waren weiter gegangen, als Hicks gedacht hatte, eine Meile mindestens, vielleicht auch weiter, in das offene Meer hinaus. Im Westen konnte Hicks einen schmalen, verschwommenen Strich erkennen – das musste die Küste sein, die Küste der Verschlingihn-Insel.

»Das schaffe ich nie und nimmer«, keuchte Fischbein. Sein Gesicht lief bereits wieder blau an.

»Du schaffst das«, gab Hicks durch klappernde Zähne zurück. »Los, schwimm!«

Und er schwamm sofort selbst los, auf die vage graue Linie zu, die sich am fernen Horizont abzeichnete. »Schwimm! Schwimm! Du musst es schaffen …«

Aber das Meer war so riesig und so leer und sie waren so klein, so schwach und die rettende Küste war so weit, weit entfernt …