26. EIN GEIST AUS DER VERGANGENHEIT

Manchmal ist der menschliche Wille einfach nicht genug. Egal wie sehr wir uns abstrampeln, egal wie sehr wir unseren ganzen Mut zusammennehmen (und die Menschen haben die einzigartige Fähigkeit, sogar in einer aussichtslosen Lage zu hoffen, dass das Unmögliche möglich sei), manchmal reicht eben die Kraft unserer schwachen Arme doch nicht aus.

Manchmal ist unsere Welt zu groß für uns, sind die Stürme zu heftig, das Meer zu riesig … und irgendwann erschlafft sogar das mutigste Heldenherz.

Und so wäre es ohne jeden Zweifel leider auch Hicks und Fischbein ergangen: Sie wären an diesem Tag auf dem weiten Meer, irgendwo weit draußen vor den Küsten der Bernstein-Sklavenlande, jämmerlich ertrunken, trotz ihrer wundersamen Flucht aus dem unterirdischen Spiegellabyrinth und der Höhle des Höllenschlingschlungs. Hicks wäre, mit dem Drachenjuwel auf der Brust, auf den Meeresgrund gesunken, und diese Geschichte hätte ein ganz anderes Ende genommen.

Wenn ETWAS nicht gewesen wäre.

Dieses Etwas flog mit unsichtbaren Flügeln über dem Meer vor der Küste der Bernstein-Sklavenlande, suchend, suchend …

Ein Geist aus der Vergangenheit. Ein Geist, der hoffte, ein nicht gehaltenes Versprechen wiedergutzumachen, ein Geist, der niemals aufgeben würde – und alles nur, weil er vor so vielen Jahren Fischbeins Mutter dieses Versprechen gegeben hatte.

»Es bleibt immer eine Hoffnung«, flüsterte Unschuld. »Wisst ihr noch, was letztes Mal geschah, als wir aufgaben, obwohl Fischbein noch am Leben war? Man muss aus diesen Geschichten etwas lernen. Dieses Mal werden wir nicht aufgeben …«

Doch selbst Kamikazzis schier grenzenlose Zuversicht schwand allmählich, als sie auf dem Rücken des Todesschattens ritt und den Blick unablässig über das Meer gleiten ließ.

Natürlich schwand ihre Zuversicht – hatte sie denn nicht mit eigenen Augen mit ansehen müssen, wie Hicks von diesen grauenvollen Augenkrallen in den Sand hinabgezogen worden war?

Mit einem wütenden Brüllen hatte sich der Todesschatten auf die Stelle gestürzt und sich mit seinen riesigen Pranken in den Sand gewühlt, und auch Kamikazzi hatte sich in den Sand geworfen und mit ihren lächerlich kleinen Händen mitgeholfen, und sie hatten gegraben, wie sie noch nie in ihrem Leben gegraben hatten, genau an der Stelle, an der sie ihn zuletzt gesehen hatten.

Aber manchmal ist die Welt eben zu groß, sogar für Drachenklauen. Der Todesschatten war ein Geschöpf der Luft, nicht des Wassers und auch nicht der Erde, und er war nicht dafür geschaffen, im Sand oder in der Erde zu wühlen. Und trotzdem gruben er und Kamikazzi weiter, bis die große Flut heranwogte und ihre Anstrengungen schluckte. Im Nu überfluteten die Wellen ihr armseliges, nutzloses kleines Sandloch und die Welt ringsum verwandelte sich in Wasser.

Seit Stunden durchsuchten sie nun den Ozean. Ich weiß nicht, welche Lehre man aus dieser Geschichte ziehen kann, von einer Lehre abgesehen: Sie machten einfach weiter, obwohl jede Hoffnung längst verloren war.

»Vielleicht hat er sich irgendwie aus den Klauen des Ungeheuers winden können«, sagte Kamikazzi zum Todesschatten. »Glaubt mir, Jungs, ich hab oft genug gesehen, wie sich Hicks selbst aus der unmöglichsten Lage befreit hat …«

Aber diese Lage schien nun wirklich die unmöglichste aller unmöglichen Lagen zu sein. Völlig ausgeschlossen, dass Hicks sie überlebt haben konnte.

Und trotzdem suchten sie weiter und es war gut, dass sie weitersuchten, denn wie wir wissen, hatte Hicks tatsächlich überlebt und er und Fischbein brauchten nun dringend Hilfe.

Der Todesschatten war gewissermaßen in die Vergangenheit zurückgekehrt.

Er hatte völlig vergessen, dass inzwischen dreizehn Jahre vergangen waren.

Ihm kam es so vor, als sei es genau derselbe Tag, an dem er dem Menschling Termagant versprochen hatte: »›Bei unserem hellen grünen Blute und unseren schimmernden Klauen: Wir werden dein Kind beschützen.‹«

Es war genau so ein Tag gewesen wie heute, mit strahlend blauem Himmel und nur dem Hauch von Wolken über dem fernen Horizont.

»Wir versprechen … wir versprechen …«, murmelte Geduld den anderen Köpfen zu. »Wir versprechen dir, Termagant, wir werden dein Kind beschützen …«

»Wir versprechen … wir versprechen … wir versprechen …«, murmelten Hochmut und Unschuld zurück.

Und so flog der unsichtbare Todesschatten über die schier endlosen Wellen und suchte nach einer kleinen Hummerreuse, die auf den Wellen schaukelte. Seine sechs Augen, die schärfsten, die es auf der Welt gab, blinkten und suchten, alle Sinne bis aufs Äußerste angespannt.

Doch dann stieg Panik in den drei Köpfen auf. Wolken zogen heran, Dunst legte sich über die Wellen … Konnte, durfte sich die Geschichte wiederholen? War heute denn nicht der Tag, an dem der Todesschatten noch einmal eine Chance bekam? Der Drache schwang sich tiefer über die Wellen, mit wachsender Verzweiflung hielt er Ausschau nach der kleinen Hummerreuse.

Und er entdeckte sie.

Tief unter ihm nahmen die sechs Augen eine kleine Bewegung wahr, einen winzigen rosa Punkt im Wasser, der nicht dorthin gehörte, menschliches Leben, kaum wahrnehmbar in der endlosen blauen Weite.

Und hinunter schwang sich der Todesschatten, Freude stieg in seiner getarnten Brust auf, und als sie näher kamen, konnte auch Kamikazzi erkennen, was dort unten im Wasser trieb, und stieß einen Freudenschrei aus.

Eine halb zerbrochene Hummerreuse, auf dem Rücken eines Jungen, der im Wasser schwamm, eines Jungen mit einer Hummerscherenkette um den Hals. Und der Junge half einem anderen Jungen, der eine völlig verbogene Brille trug, und selbst aus der Höhe konnte der Drache im Gesicht des Jungen ungefähr die Züge eines Menschengesichts wiedererkennen, eines Menschengesichts, das der Drache einst mehr geliebt hatte als alles andere auf der Welt.

Termagants Kind!

»Wir werden uns wiedersehen, Termagant! Wir werden uns wiedersehen!«, schnaubten die drei Köpfe des Todesschattens triumphierend und schossen Freudenblitze ab, als sich der Drache noch tiefer über die Wellen schwang.

Unten im Meer zuckte Fischbein zusammen. »Wir werden angegriffen!«, flüsterte er und schaute auf, gerade als der Todesschatten in seiner überschäumenden Freude neben ihnen ins Wasser klatschte.

Hicks und Fischbein waren fast tot und der Schock des stark getarnten Drachen, der aus blauem Himmel fast auf sie herabgestürzt wäre, gab ihnen beinahe den Rest. Mühsam rangen sie um Atem und spuckten Meereswasser aus, doch schon packte sie der Drache, hob sie aus dem Wasser und setzte sie sich auf den Rücken – wo sie völlig erschöpft liegen blieben …

Aber sie lebten.

»Ich kann’s nicht glauben!«, rief Kamikazzi aufgeregt und mit glänzenden Augen. »Na gut, ich meine, ich glaube es irgendwie schon, weil du das schon so oft gemacht hast, Hicks, aber dieses Mal kann ich … ich … äh, es tatsächlich nicht glauben …«

Hicks grinste ein wenig, denn im Grunde konnte auch er es nicht so recht glauben, nach allem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Immer noch keuchend, zog er das Drachenjuwel unter dem Wams hervor.

Und das war etwas, das Kamikazzi natürlich erst recht nicht glauben konnte. Er musste das Juwel wieder wegstecken, dann noch einmal hervorziehen und Kamikazzi durfte es halten, drehte es hin und her und betrachtete es von allen Seiten. »ICH KANN’S NICHT GLAUBEN … ICH KANN’S NICHT GLAUBEN … Wie hast du denn das geschafft? Und was willst du jetzt damit machen?«

Hicks seufzte. »Ich bin mir nicht sicher«, gestand er zögernd. »Ich muss mir etwas einfallen lassen, wie ich es benutzen kann, um diesen Krieg zu Ende zu bringen.«

Er drehte sich zu Fischbein um, der erschöpft neben ihm lag. »Fischbein – das ist der Drache deiner Mutter, der Todesschatten. Der Kopf links heißt Unschuld, der rechts heißt Hochmut und der in der Mitte heißt Geduld, denn das ist es, was er haben muss.«

Fischbein klammerte sich verzweifelt auf dem Rücken des Drachen fest. Seine Kleider dampften bereits, denn der breite Drachenrücken war so warm wie ein Ofen. Doch auch Fischbein spürte allmählich, wie seine Lebensgeister zurückkehrten.

»Wie geht’s?«, flüsterte Fischbein dem Drachen zu. »Entschuldige, dass ich mich nicht aufsetze … ich bin ein bisschen müde.«

Etwas an diesem Drachen gab ihm ein Gefühl der Sicherheit und trotz seines völlig geschwächten Zustands setzte er sich mühsam auf. Der Wind blies durch sein nasses Haar, das Sklavenmal leuchtete hell auf seiner Stirn. »Dann bist du … seid ihr der Drache meiner Mutter?«

»Das waren wir!«, sang der Drache glücklich. »Aber jetzt gehören wir dir. Wir sind dein, für immer. Das versprechen wir. Wir werden dich nie wieder verlassen. Wir stehen dir zu Diensten … und wir werden dir treu dienen, von jetzt an bis zu unserem Tode.«

Hicks übersetzte alles, was der Drache sagte.

Wow. Fischbein richtete sich noch weiter auf und straffte sich. Seine Augen leuchteten. Jetzt sah die Sache doch entschieden besser aus. Er, Fischbein, der Sklave, das am meisten verachtete Mitglied des Stammes der Räuberischen Raufbolde, der Vollwaise, der Kümmerling, der Versager, war nun der stolze Besitzer des tatsächlich coolsten Drachen, den er jemals gesehen hatte. »Und meine Mutter … war die Tochter eines Häuptlings?«, fragte Fischbein.

»Ja, und der beste und aufrichtigste Menschling, den wir jemals kennengelernt haben«, antwortete Geduld.

Wieder übersetzte Hicks und fügte hinzu: »Und sie war auch eine Dichterin. Außerdem war sie halb Berserkerin, wie wir schon immer vermutet haben.«

Das gab Fischbein neue Kraft und neuen Mut, so erschöpft, hungrig und halb erfroren er auch sein mochte. Seine Mutter – eine Dichterin! Das erklärte, woher er selbst seine dichterischen Fähigkeiten hatte. Und sein Vater: ein Held! Na gut, dieser Teil der Geschichte war noch ein bisschen geheimnisvoll, aber …

… endlich wusste er, wer er war.

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SO – JETZT LEHNE DICH MAL FÜR EINEN MOMENT ZURÜCK …

Wenn du an dieser Stelle lieber mit dem Lesen aufhören willst, kannst du das natürlich tun. Das steht dir frei.
Wäre vielleicht sogar am besten.
Denn was könnte ein schöneres Happy End sein als das, was wir gerade erzählt haben? Drei Freunde, endlich wieder vereint, die sich auf dem perfekt getarnten Dreiköpfigen Todesschatten in die Lüfte schwingen, mit dem Drachenjuwel um Hicks’ Hals?
Sie hatten einen langen, harten Tag hinter sich und damit sollte die Geschichte nun endlich ihr Ende haben.
Aber ich muss dir gestehen …
… sie ist noch nicht zu Ende.

Wenn du nun also wirklich bis zum bitteren Ende weiterlesen willst, liebe Leserin und lieber Leser, schlage ich dir vor, dich ein wenig zurückzulehnen und erst mal kräftig durchzuatmen.
Trink ein großes Glas Wasser. Knabbere irgendetwas Gesundes, vielleicht etwas mit verzögerter Energiefreisetzung, zum Beispiel einen Müsliriegel mit viel Hafer drin.
Kurz: Entspanne dich für einen Moment.
Na, siehst du? Geht doch.
Okay so weit? Gut. Dann können wir ja weitermachen …