»Was tun wir?«, fragte Petra Lindström leise. Florian Lipp fuhr mit dem Finger seine Augenbrauen entlang. »Fotografieren«, erwiderte er schließlich. »Das sagst du immer«, sagte Lindström. Deswegen werde sie im Gegensatz zu ihm auch Karriere machen, sagte Lipp, sie habe ständig originelle Ideen, er nie.
»Blödsinn!«, sagte sie.
Der Anruf war knapp nach dem morgendlichen Schichtwechsel von einer unterdrückten Nummer gekommen. Er sei ein besorgter Bürger, der es vorziehe, anonym zu bleiben, hatte der Mann gesagt. Er habe eine Wahrnehmung gemacht, die er melden wolle. Lindström hatte gefragt, was er beobachtet habe, und der Mann hatte gesagt, beobachtet habe er gar nichts, denn eine Beobachtung beziehe sich immer auf einen Vorgang. Eine Wahrnehmung hingegen beschreibe einen Sachverhalt, einen solchen wolle er melden, mit dem Vorgang dahinter könne er leider nicht dienen, daher habe er ja die Polizei kontaktiert. »Ein Zwangsneurotiker«, hatte Lipp gesagt, als ihm Lindström das Gespräch vorgespielt hatte. Sie hatte bloß mit den Schultern gezuckt.
Jetzt standen die beiden vor der Fassade einer neu errichteten Wohnhausanlage in Furth-Nord und versuchten die neugierigen Leute fernzuhalten. »Fotografierst du endlich!?«, zischte Lindström. Lipp zog sein Smartphone aus der Tasche.
»Mit dem Handy?!«
Ob sie denn glaube, dass er seine Kamera immer dabeihabe, fragte er, und sie sagte, ja, das sei er seinem Ruf schuldig.
»Haben wir ein Absperrband im Wagen?«
Ja, sagte er, aber er fürchte, es sei nichts da, um es zu befestigen, es sei denn, er stelle sich selbst hin, sozusagen als beamteter mobiler Ständer. »Trottel«, sagte sie.
Die Zahl der Menschen ringsherum wurde größer. Eine Frau in mintgrüner Lederjacke drängte sich von hinten an sie heran und fragte, was die Polizei zu tun gedenke. »Zuerst fotografieren wir«, sagte Petra Lindström. Das sehe sie, sagte die Frau, aber das könne doch wohl nicht alles sein. Lindström hatte einen roten Kopf, als sie sich umwandte. Sie solle so freundlich sein und ihre Personalien angeben, forderte sie die Frau auf, danach solle sie alles erzählen, was sie beobachtet habe. Jedes Detail sei wichtig.
»Typisch Polizei!«, sagte die Frau.
»Was ist typisch Polizei?«
»Dass man sofort zur Verdächtigen wird.«
Niemand werde hier zur Verdächtigen. Florian Lipp steckte das Smartphone in die Innentasche seiner Jacke. Da es sich nicht nur um schwere Sachbeschädigung und Besitzstörung, sondern vermutlich auch um einen Verstoß gegen das ARG, das Anti-Rassismus-Gesetz, handle, werde man sowohl die Kollegen von der Kriminalpolizei als auch die Spurensicherung verständigen, sagte Lipp. Beginnen werde man mit einer gründlichen Einvernahme sämtlicher Zeugen. Wer also etwas gesehen habe, solle sich jetzt an sie wenden. Alles andere könne möglicherweise ab sofort als Behinderung einer Amtshandlung gewertet werden. Lipps Blick glitt über die Menge. Er lächelte freundlich.
»Genial«, sagte Petra Lindström, als nach einer Weile etwa zwei Drittel der Leute verschwunden waren, »du wirst doch noch Karriere machen.« Lipp machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Nur weil ich manchmal ein gewisses Improvisationsvermögen besitze?«
»Nein, weil du offenbar ein halber Jurist bist. Anti-Rassismus-Gesetz, sage ich nur.«
Lipp grinste. Genau das meine er mit Improvisationsvermögen: Phantasie, Erfindungsreichtum, die Kraft der Suggestion. Lindström schaute ihn groß an. »Willst du damit sagen …?«
»Warum sollte es ausgerechnet bei uns ein Anti-Rassismus-Gesetz geben?«, fragte er. Lindström schloss für eine Sekunde die Augen. »Du kannst so was von arg sein!«, sagte sie.
Die besprayte Fläche maß etwa vier mal zwei Meter, nahm den gesamten Erdgeschosssockel zwischen dem Haupteingang des Hauses und dem Portal eines künftigen Geschäftslokals ein und war in zwei Felder unterteilt. Das rechte zeigte in Sicht von unten, also in perspektivischer Verzerrung, und farblich überwiegend in Gold und Blau, die Hagia Sophia, über ihr den Schriftzug »Gott ist grohs«, das linke ein vor allem in Rot und Braun gehaltenes Porträt des amerikanischen Filmschauspielers Jamie Foxx, über ihm den Satz »Wir sind alle Neger«.
»Aus Ray«, sagte Lindström, »vom Plakat.«
»Nein, sicher nicht aus Ray.«
Lindström drehte sich um. Ein schmächtiger junger Mann lehnte an einem Motorroller und rauchte. In der Rolle des Ray Charles trage Jamie Foxx eine Sonnenbrille, hier an der Fassade nicht, sagte er. Er tippe auf Collateral. »Kenne ich nicht«, sagte Lindström. »Es geht um einen Taxifahrer«, sagte Lipp, »und um Tom Cruise.« »Und um Arbeitsauffassung«, sagte der Mann. Lindström schaute ihn böse an.
Lipp und sie erörterten kurz die Frage, ob eine ästhetisch hochwertige Sachbeschädigung nicht anders als das übliche Geschmiere zu bewerten sei. Außerdem sprachen sie darüber, wie man den Rechtschreibfehler in grohs und die Verwendung des Begriffes Neger einordnen solle. »Als Provokation und Ablenkung«, sagte der junge Mann, »kein Mensch würde irrtümlich grohs schreiben, nicht einmal ein Erstklässler.«
»Wieso mischen Sie sich eigentlich dauernd ein?«, fragte Petra Lindström gereizt.
»Keine Ahnung, vielleicht weil ich im Haus gegenüber wohne.«
Florian Lipp legte seine Hand begütigend auf Lindströms Unterarm. »Können Sie zeichnen?«, fragte er. Der junge Mann lachte laut auf. Nein, weder könne er zeichnen, noch habe er dieses Kunstwerk angefertigt − falls das die Frage hinter der Frage sei. Allerdings sei ihm noch etwas in den Sinn gekommen, vermutlich ebenfalls eine Einmischung. Zwei Straßen weiter wohne in einem Kleingartenhaus Theresia Widrich, eine ältere Frau, die täglich ganz früh am Morgen mit ihrem Hund eine Runde drehe. Er treffe sie manchmal, wenn er nach Hause komme, daher wisse er das. Da man davon ausgehen könne, dass das Gemälde während der letzten Nacht entstanden sei, sei es möglich, dass Frau Widrich etwas gesehen habe. Lipp zog einen Notizblock aus der Tasche. »Theresia Widrich«, wiederholte er, während er schrieb, »wir werden uns darum kümmern.« Dann hob er den Kopf. »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er. »Max Kaiser«, sagte der junge Mann, »erstaunlich, dass Sie erst jetzt nach meinem Namen fragen.« »Manchmal halten wir die Leute hin«, sagte Lipp, »Sie können jetzt fahren.«
»Wieso fahren?« Der Mann richtete sich auf. Lipp wies auf den Motorroller.
»Der gehört nicht mir«, sagte er und ging.
»Ich wette, er war’s selbst«, sagte Lindström kurze Zeit später. Dann äffte sie ihn nach: »Erstaunlich, dass Sie erst jetzt nach meinem Namen fragen.« Sie hatte immer noch einen roten Kopf.
»Beruhige dich«, sagte Lipp, »er ist ein Wichtigtuer, sonst gar nichts.« Vielleicht sei er selbst der Anrufer gewesen, das lasse sich aber leicht überprüfen.
»Beobachtung oder Wahrnehmung?«, sagte Lindström.
»Wie?«
»Das hätten wir ihn fragen können.«
»Stimmt«, sagte Lipp, »Vorgang oder Sachverhalt?«
»Die Frau mit Hund?«
»Mit der werden wir reden.«
»Die Spurensicherung?«
Lipp lachte. »Kannst du dir vorstellen, was Mauritz sagen würde, würden wir ihn anfordern?«
Ja, das könne sie, sagte Lindström. Er würde fragen, ob er Fingerabdrücke vom Gehsteig nehmen oder den Straßendreck auf Hämoglobin untersuchen solle − wie er immer reagiere, wenn man etwas von ihm wolle, der Herr Fleißig. »Apropos unendlicher Fleiß«, sagte sie, »was tun wir mit Kovacs?«
»Brauchen wir ihn?«, fragte Lipp.
Ludwig Kovacs saß unter einem blau-weißen Sonnenschirm, hatte müde Beine und fror. Das Bier, das vor ihm auf dem runden Metalltischchen stand, hatte er noch nicht angerührt. Auf der Lehne des Sessels, der ihm gegenüber stand, hockte ein Spatz und schaute ihn erwartungsvoll an. Kovacs streckte den Zeigefinger aus, zielte und sagte: »Peng!« Den Vogel kümmerte das nicht.
»Kommissar, du siehst schlecht aus.« Szarah stand plötzlich neben ihm. »Was man von dir nicht behaupten kann«, sagte er und versuchte zu lächeln. Szarah war groß, schlank und von einer Würde, die einen umhaute. Wie eine Zypresse aus dem Hohen Atlas, pflegte Kovacs zu sagen, und Szarahs Mann Lefti, der Besitzer des Tin, sagte darauf, ja, manchen Menschen werde gegeben, ohne dass sie wüssten, warum. Sie stellte eine Schüssel Mangosalat mit Zwiebel und Koriander samt einem Stück Fladenbrot vor ihn hin. »Was ist das?«, fragte er. Ein zweites Frühstück, sagte sie, etwas, das ihm guttun werde, besser jedenfalls als ein Bier mitten am Vormittag. Kovacs drückte ihr das Glas in die Hand. »Du kannst es wieder mitnehmen.« Er bringe sowieso keinen Schluck runter, vielleicht liege es einfach an der Hitze. »Von der Hitze friert man nicht, Kommissar«, sagte sie, außerdem sei es noch gar nicht heiß. »Woher willst du wissen, dass ich friere?«, fragte er, und sie sagte, sie bitte um Entschuldigung, in Wahrheit wisse sie das auch gar nicht.
Als Szarah gegangen war, vibrierte Kovacs’ Handy. Lipp. Er drückte den Anruf weg. Seit einiger Zeit gingen ihm seine Kollegen auf die Nerven, Lipp, weil er nicht zur Kripo wechseln wollte, Mauritz, weil er so fett war, Demski wegen seiner Bildungsneurose und Eleonore Bitterle wegen ihrer allumfassenden Souveränität. In Wahrheit ist das alles lächerlich, dachte er, und in Wahrheit bin ich ein Vollidiot. Ich weiß, wie gut sie arbeiten, ich weiß, wie verlässlich sie sind, und ich wünsche sie trotzdem zum Teufel.
Er aß den Salat in winzigen Bissen, Gabelspitze für Gabelspitze. Die Süße der Mango, die Schärfe der Zwiebel, die Frische der Korianderblätter, dazwischen die leichte Säure des Fladenbrots. Er dachte daran, dass Marlene, wenn sie am Abend aus dem Geschäft kam, in der Regel zu müde war, um zu kochen, und dass Charlotte, seine Tochter, zwar bei ihnen wohnte, aber inzwischen ihr eigenes Leben führte.
»Szarah sagt, du siehst schlecht aus.« Ohne dass er ihn kommen gehört hatte, war Lefti da. Er stellte zwei schmale, hohe Teegläser auf den Tisch, setzte sich und schenkte aus einer Tonkanne ein. Minze mit Ingwer, sagte er, das helfe gegen beides, Hitze von außen und Kälte von innen. »Gibt es dazu vielleicht noch irgendein orientalisches Märchen!?«, blaffte Kovacs. »Du bist zornig, Kommissar«, sagte Lefti, »das ist gar nicht gut.« »Ich weiß«, sagte Kovacs.
»Das macht mir Sorgen.«
»Was — dass ich es weiß?«
Nein, dass in letzter Zeit der Zorn so überhandnehme und nun auch seine Freunde erfasse. »Zorn und Hass liegen nahe beisammen, Kommissar«, sagte er, »das macht mir Sorgen.« Sechs, sieben Jahre lang sei das Tin ein Ort gewesen, an dem sich alle getroffen hätten, die Alten und die Jungen, die Leute mit sicherem Wohnsitz und die Flüchtlinge, die Klugen und die, die auf Klugheit weniger Wert legten. »So wie ich«, sagte Kovacs, die Polizisten und die Verbrecher habe er übrigens vergessen. Ganz genau, sagte Lefti, x-mal sei er, der Kommissar, mit dem Sheriff an demselben Tisch gesessen, der Sheriff habe darauf geachtet, dass ihm der Cannabis-Markt nicht zur Gänze ruiniert wurde, und er, Kovacs, darauf, dass das wirklich gefährliche Zeug weit weg von Furth blieb. Seit einem halben Jahr sei alles anders. »Mit dem Sheriff rede ich immer noch«, sagte Kovacs. »So wie früher?«, fragte Lefti. Kovacs sagte nichts. Nein, dachte er, nicht so wie früher.
Lefti hob sein Teeglas, blies auf die Oberfläche und nahm vorsichtig einen Schluck. Spannung sei etwas, das man sehr oft erst merke, wenn es sich entlade, sagte er, leider gelte das für Spannungen innerhalb eines großen Rahmens ganz besonders. »Großer Rahmen, große Spannung, erst merkt man nichts davon, und dann, puff, große Entladung.« Kovacs schaute ihn erstaunt an. »Ist das deine neueste soziologische Hypothese?«, fragte er. »Nein, das ist von Frankie«, sagte Lefti. »Und wer ist Frankie?«, fragte Kovacs. »Ein Freund von früher«, sagte Lefti. Frankie heiße in Wahrheit Hassan und sei der Leiter des seismologischen Dienstes in Rabat. Wenn er darüber spreche, was sich zwischen der afrikanischen und der eurasischen Kontinentalplatte abspiele, gerate er jedes Mal in Verzückung und Verzweiflung zugleich. Frankies mütterliche Großeltern seien im Februar 1960 beim großen Beben in Agadir ums Leben gekommen. Frankie sei damals vier Jahre alt gewesen, gerade alt genug, um sich an sie zu erinnern. Er habe später Geophysik und Ozeanographie studiert, in Montpellier und Paris. Nach dem Studium sei er aus Frankreich zurück nach Marokko gegangen. Es sind die Gräber, die dein Leben bestimmen, habe Frankie gesagt. Er habe die Erfahrung gemacht, dass es keinen Sinn habe, sich dagegen zu wehren.
Der Kies neben ihnen knirschte. Kovacs erschrak. »Muss das sein?«, fragte er. »Muss was sein?«, fragte Florian Lipp zurück. »Dass ihr euch anschleicht − muss das sein?« »Kein Mensch schleicht sich an«, sagte Lipp − ob es vielleicht sein könne, dass er, Kovacs, sich ertappt fühle. Lefti zog den Kopf ein und stand hastig auf. »Ich lasse euch allein«, sagte er, »denk an das, was ich vorhin gesagt habe, Kommissar.« »Ich weiß«, sagte Kovacs, »die Gräber.«
»Und der Zorn«, sagte Lefti, »die Gräber und der Zorn.«
Kovacs nahm einen Schluck von seinem Tee und lud Lindström und Lipp ein, Platz zu nehmen. Ich sage nichts, dachte er, weder von der Wichtigkeit der Denkarbeit im Gastgarten noch davon, wie gut ich mir inzwischen ein Dasein ohne Polizeidienst vorstellen kann. Lefti hatte wahrscheinlich recht. Der Rahmen änderte sich, und schon verschoben sich die Dinge komplett. Vor einem Jahr war er noch jeden Abend aufs Dach gestiegen, hatte sein Fernrohr aufgebaut und in die Sterne geschaut. Jetzt war er müde, bekam schlecht Luft und schnauzte Marlene an. Ab und zu dachte er noch ans Fischen, an den Moment, wenn der Schwimmer zweimal nickte und dann steil unter die Wasseroberfläche gezogen wurde, an seine Jolle, die seit fünfzehn Monaten bei Fred Ley in Waiern auf dem Trockendock lag, und daran, dass er eigentlich den Plan gehabt hatte, sich für das Boot einen Elektromotor anzuschaffen. Marlene sagte, es sei viel besser, wenn er weiterhin rudere, aber sie hatte vom Fischen keine Ahnung.
»Warum kommt ihr hierher?«, fragte Kovacs. »Weil du dein Handy nicht abhebst«, sagte Lipp. Er habe immer noch zurückgerufen, sagte Kovacs, und Lipp sagte, ja, aber wann. Es gebe Dinge, die besäßen eine gewisse Dringlichkeit. Kovacs dachte an Charlotte, die zwar ständig so tat, als habe sie ihr Leben im Griff, in Situationen, in denen es heikel wurde, meistens doch um Rat kam. Sie verwendete dann auch diese Begriffe: Fallhöhe, Risikoabwägung, Brisanz, Dringlichkeit. In Wahrheit brauchen sie alle jemanden, mit dem sie ihre Angst teilen können, dachte Kovacs, und er dachte, dass es wohl eine Alterserscheinung war, wenn es einem plötzlich so vorkam, als verhielten sich die meisten Menschen wie Kinder. Er fragte, worum es sich bei der dringlichen Sache denn handle. Petra Lindström sagte, um ein Diptychon.
»Verstehe − um ein Diptychon«, sagte Kovacs, und Lindström sagte, ja, um eine Art Fresko in zwei Teilen, versehen mit einem politischen Kommentar.
»Mit einem politischen Kommentar.«
»Auch in zwei Teilen. Gott ist grohs, mit stummem H und rundem S, und Wir sind alle Neger.«
Das klinge eher nach einer Mischung aus blödsinniger Provokation und Teilleistungsstörung als nach einem politischen Kommentar, sagte Kovacs. Grundsätzlich stimme das schon, antwortete Lindström, wer allerdings in der Lage sei, die Hagia Sophia in einem Low Angle Shot und ein Porträt von Jamie Foxx aus Collateral in solch einer Qualität an eine Wand zu sprühen, der sei vielleicht provokant, eventuell auch legasthenisch, blödsinnig jedoch mit Sicherheit nicht. »Wie hast du das gerade genannt?« Florian Lipp starrte Petra Lindström groß an.
»Was meinst du?«
»Low Angle Dingsbums. Wie hast du gesagt?!«
»Low Angle Shot. Die Sicht aus einer Position, die tiefer liegt als die Augenlinie.«
Woher sie so etwas wisse, fragte Lipp. Lindström grinste. Sie habe schließlich etwas Vernünftiges gelernt, bevor sie auf die Polizeischule gegangen sei, Fotografin, um genau zu sein. Und nein, sie könne nicht erklären, warum sie gewechselt habe, das werde sie nämlich an dieser Stelle immer gefragt. »Die Sicht von unten«, sagte Kovacs. Lipp fragte, was er damit meine. Nichts Spezielles, erwiderte Kovacs, das sei ihm nur so eingefallen. Er musterte Petra Lindström. Sie hat es drauf, dachte er, sie hat einen weiteren Horizont als die meisten anderen, sie weiß, was Legasthenie und ein Low Angle Shot sind, und sie hat einen Standpunkt. Ähnliches hatte er seinerzeit über Sabine Wieck gedacht. Sabine Wieck hatte nach einer kurzen Zeit als Uniformierte in seine Gruppe gewechselt, und er war immer noch froh darüber. Irgendwie hatte er sich von Anfang an zu ihr hingezogen gefühlt. Das war bei Lindström ein wenig anders. Vielleicht hatte es mit ihrer Statur zu tun. Sie möchte ich nicht in den Arm nehmen, dachte er, aber vor allem möchte ich von ihr keine geknallt bekommen.
Ein paar Tische weiter nahmen zwei große Männer mit glatt rasierten Köpfen und metallgerahmten Sonnenbrillen Platz. Sie trugen schwarze Kleidung und Springerstiefel. Der größere Zusammenhang, den man nicht wahrhaben möchte, dachte Kovacs − die Spannung steigt, und irgendwann macht es rums. »Kennt ihr die schon?«, fragte er. Lipp und Lindström schüttelten den Kopf.
Lefti stellte frischen Tee, Gläser und zwei weitere Portionen Mangosalat auf den Tisch. Kovacs wies mit dem Kopf in Richtung der beiden Männer. »Aktion 18«, sagte er, »der neue Wachdienst in der Burg − das passt zu dem, worüber wir vorhin gesprochen haben.« »Worüber habt ihr gesprochen?«, fragte Lipp. »Wir«, sagte Kovacs, »worüber wir gesprochen haben.«
»Über Jamie Foxx?«
»Nein, über Teilleistungsstörungen«, sagte Kovacs.
Lefti schaute besorgt. Ja, Teilleistungsstörungen, damit habe die Sache wohl zu tun. »Woher wollt ihr wissen, dass die eine haben?«, fragte Lipp. Er hatte begonnen, Salat in sich hineinzuschaufeln. Lindström warf die Arme in die Höhe. »Du bist so ein Trottel!«, rief sie. Es sei die Burg insgesamt gemeint, diese völlig verrückte Idee, ein ausrangiertes und halb verfallenes ehemaliges Kinderheim als Quartier für sämtliche unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Land zu verwenden, sie dort zu konzentrieren, in einer Art Lager, aber Lager dürfe man nicht sagen. Die politische Absicht hinter dieser Aktion könne man nur als das Produkt einer Art Teilleistungsstörung sehen, diese Konzentrationslager-Idee, − aber wahrscheinlich genüge es, dass sie als Polizistin diesen Begriff laut denke, um sie augenblicklich außer Dienst zu stellen. Kovacs schob ihr die Salatschüssel hin. »Da, iss was, das beruhigt«, sagte er, und er dachte, dass sie wirklich einen Standpunkt hatte und wirklich sehr jung war und dass sie noch Flecken am Hals kriegte, wenn sie sich aufregte.
Petra Lindström tunkte ein Stück Fladenbrot in die Salatsoße. »Aktion 18«, sagte sie, »Aktion Arschloch 18.« Lipp setzte für einen Moment die Gabel ab. »Warum eigentlich 18?«, fragte er. Lefti warf einen Blick in Richtung der beiden Männer. Sie hatten die Beine von sich gestreckt und jeweils ein Bier vor sich stehen. Er habe im Lauf der Jahre gelernt, sagte er, dass es gar nichts bringe, paranoid zu sein, aber manchmal könne er nicht anders, als sich vorzustellen, gewisse Leute hätten es auf ihn abgesehen. Daher halte er es für besser, sich jetzt zurückzuziehen.
»Warum 18 und nicht 19 oder 21«, wiederholte Lipp, nachdem Lefti gegangen war. Kovacs hob den Zeigefinger. »Nachdenken und zählen«, sagte er. Zählen, was solle er zählen?, fragte Lipp, und Kovacs sagte, deswegen habe er ja gesagt, man solle erst nachdenken. »Die Buchstaben«, knurrte Lindström, »es geht um die Buchstaben im Alphabet.«
Lipp schien kurz zu überlegen, dann legte er sein Besteck beiseite und wischte sich mit der Serviette über den Mund. »Ich glaube, ich bin zu dumm«, sagte er. Lindström beugte sich vor und fixierte ihn mit den Augen. »Eins und acht, Mister Turbodenker«, sagte sie, »erster und achter Buchstabe. A und H.« »Wie Alfred Hitchcock«, sagte Lipp. Petra Lindström verdrehte die Augen. »Ja, wie Alfred Hitchcock«, sagte sie. Lipp streckte den Rücken durch, grinste und wurde dann plötzlich ernst. »Manchmal bin ich nur ganz kurz ein Trottel«, sagte er. Die Naziärsche gingen ihm auch auf die Nerven, und am liebsten würde er sie irgendwohin verräumen, aber in seiner Arbeit wolle er sich von ihnen nicht behindern lassen. Er erlaube sich daher, darauf hinzuweisen, dass es einen Grund gebe, aus dem er ins Tin gekommen sei. »Ein Diptychon samt politischem Kommentar«, sagte Kovacs. Genau genommen seien es zwei Gründe, antwortete Lipp, eine alte Frau mit Hund und etwas, das diese Geschichte leider zur Chefsache mache.
Kovacs merkte, wie die Dinge rings um ihn für eine Sekunde unscharf wurden. Ich will keine Chefsachen, dachte er, ich kann Chefsachen auf den Tod nicht ausstehen. »Es hat übrigens auch mit Buchstaben zu tun«, sagte Lipp.
Petra Lindströms Handy vibrierte. Sie schaute aufs Display und trat dann einige Schritte zur Seite, um zu telefonieren.
Die Recherche nach dem Besitzer dieser Wohnhausanlage sei maximal einfach gewesen, erzählte Lipp, obwohl man niemanden fragen habe können, da es noch gar keine echten Bewohner gebe. An der Haupteinfahrt habe sich eine Messingtafel mit sämtlichen Planungs- und Errichtungsdaten gefunden, auf Hochglanz poliert und zumindest einen Quadratmeter groß.
»Und?«
»Und was?«
»Wo ist die Chefsache?!«
KS-Immobilien, das sei die Chefsache, sagte Lipp, Bauträger: KS-Immobilien. Kovacs hatte plötzlich den Eindruck, es gehe ihm unterhalb des Unterkiefers das Gefühl verloren. Er griff sich an den Hals. »Was ist los?«, fragte Lipp. »Nichts«, sagte Kovacs, »gar nichts. Alterserscheinungen.« Lindström kam zurück und schaute die beiden fragend an. »KS-Immobilien«, sagte Kovacs. »Konrad fucking Seihs«, sagte Lindström. Jetzt würde ich sie doch gern umarmen, dachte Kovacs. Konrad Seihs war einerseits Hauptgesellschafter einer Bauträgerfirma, andererseits seit Jahren hochrangiger Funktionär der städtischen Wirtschaftspartei. Seine Position als Stadtrat für Innere Verwaltung und Sicherheit hatte er genutzt, um Einfluss auf die Raumplanung der Gemeinde, speziell auf die Umwidmung landwirtschaftlicher Flächen in Bauland, zu nehmen, das Ganze nicht zum Schaden seiner Firma. Ansonsten hatte er sich mit einer offensiven Law-and-Order-Haltung hervorgetan und vor allem Randgruppen für seine eigene Profilierung benutzt. Obdachlose, Drogenabhängige, Flüchtlinge — sie alle sollten irgendwo sein, nur nicht in Furth, und wenn es drauf ankam, würde er sie eigenhändig wegschaffen. Warum die Polizei von Anfang an einer von Seihs’ Lieblingsfeinden gewesen war, wusste in Wahrheit keiner; vielleicht hatte es mit seinem früheren Leben als Berufssoldat zu tun, vielleicht auch mit ganz anderen Dingen. Er nutzte jedenfalls jede Gelegenheit dazu, sie in der Öffentlichkeit als faul und inkompetent hinzustellen, und Philipp Eyltz, der Polizeichef der Stadt, hatte dem nichts entgegenzusetzen.
Als Seihs vor einem halben Jahr in die Landesregierung berufen worden war und dort das Ressort für Wohnbau und öffentlichen Verkehr übernommen hatte, hatten sie alle für einen Augenblick gehofft, er werde nun seine Aufmerksamkeit den wirklich einträglichen Dingen zuwenden und der Stadt den Rücken kehren. Dann war jedoch klar geworden, dass er nicht im Mindesten vorhatte, die Stadtregierung zu verlassen. George Demski hatte gesagt: »Ich erschieße seinen Pitbull, vielleicht verschwindet er dann«, und Eleonore Bitterle, die im Kommissariat die graue Eminenz war und im Allgemeinen als ein extrem besonnener Mensch galt, hatte geantwortet: »Warum nur den Pitbull?«
Sie einigten sich darauf, zuallererst Mauritz anzurufen und ihn zum Tatort zu lotsen. Sein Geschimpfe über die Ahnungslosigkeit der Kollegenschaft in Bezug auf die Möglichkeiten der Spurensicherung würden sie in Kauf nehmen. Erst danach würden sie entscheiden, ob es überhaupt eine Sache für die Kriminalpolizei werden würde. »Ihr holt euch den Dicken«, sagte Kovacs, »und ich besuche die alte Frau.« »Obwohl du eigentlich noch gar nicht zuständig bist?«, fragte Lindström. »Ich rede lieber mit alten Frauen, für die ich nicht zuständig bin, als mit psychopathischen Landesräten«, sagte Kovacs.
Szarah kam an ihren Tisch, um abzuservieren. Sie musterte Kovacs. »Ist es besser?«, fragte sie. »Ist was besser?«, fragte Kovacs zurück. »Dein Frieren«, sagte sie, »dein Frieren in der Hitze.« »Habe ich jemals gefroren?«, fragte er und grinste. Er fühle sich großartig, was bei ihrer maghrebinischen Fürsorge nicht weiter verwunderlich sei. Das sei erfreulich, sagte Szarah, aber wenn sie auf seinen Hals schaue, sehe sie sein Herz schlagen, und sie wisse nicht, ob es so sein solle: kurz kurz kurz lang — das erinnere sie an Beethoven. Kovacs griff sich an die Kehle. »Beethoven? Quatsch!«, sagte er, und sie sagte, jetzt sei es weg, jetzt sehe sie nichts mehr.
Auf dem Weg zum Ausgang kamen sie direkt an den beiden schwarzgekleideten Männern vorbei. »Hat der Wachdienst in der Burg eigentlich Hunde?«, fragte Lipp. »Deutsche Doggen, Deutsche Schäferhunde, Deutsch Kurzhaar«, antwortete Lindström. »Du kannst so was von blöd sein«, sagte Lipp, »ich meine es ernst.« »Ich auch«, sagte sie.
Bevor sie in die Autos stiegen, sagte Lindström, sie habe noch etwas vergessen: Ob es für einen der beiden ein Problem sei, vor oder nach der Besprechung mit Mauritz im Krankenhaus vorbeizuschauen, ganz kurz nur. Lipp machte ein besorgtes Gesicht, und sie sagte, nein, niemand brauche Angst zu haben, es habe gar nichts mit ihr zu tun. Der Anruf vorhin sei von der Sekretärin der Unfallabteilung gekommen. Es gebe da eine Verletzungsanzeige auf Grund eines nicht ganz plausiblen Unfallhergangs. Nichts Dramatisches, eine Routineangelegenheit. Ein alter Mann sei von der Leiter gefallen. Sie müsse mit ihm reden − zwanzig Minuten, länger werde es nicht dauern. Sie habe es zwar nicht verdient, aber er werde sie hinbringen, sagte Lipp, er habe das Krankenhaus schon als Kind gemocht. Was solle das heißen, sie habe es nicht verdient, fragte Lindström. »Eine gelernte Fotografin, die dabei zuschaut, wie ihr ungeschulter Kollege versucht, mit dem Handy einen Tatort zu fotografieren, sollte zur Strafe einen Tag lang zu Fuß gehen müssen«, sagte Lipp. Lindström grinste. Es gebe kaum etwas, das einen innerlich so sicher mache wie ein kleines Geheimnis, sagte sie.
Kovacs steckte den Schlüssel ins Zündschloss, gurtete sich an und saß eine Weile einfach da. Warum fallen alte Männer von der Leiter?, fragte er sich. Er dachte daran, dass er den Birnbaum in Marlenes Garten im Frühjahr wieder nicht zurückgeschnitten hatte, genauso wenig die Buchsbaumkugeln neben dem Eingangstor und die Forsythiensträucher. In der Typologie der Menschen gab es konstante Gegensatzpaare: die Bier- und die Weintrinker, die Marathonläufer und die Gastgartensitzer, die Fischer und die Gärtner. Er war definitiv kein Gärtner.
Kovacs fuhr südlich am Stift vorbei, durch die Walzwerksiedlung, in der seine Wohnung lag, schließlich in einem Bogen über Osten zur Severinbrücke. Er mochte es, durch Nebenstraßen zu fahren, von Häuserblock zu Häuserblock, von Kreuzung zu Kreuzung, so, als wäre er immer noch Streifenpolizist. »Dich kennt hier jeder«, sagten die jungen Kollegen, wenn sie mit ihm unterwegs waren, und er sagte drauf, dass er wohl seinen Beruf verfehlt hätte, würden ihn nach dreißig Jahren die Leute nicht kennen.
Er dachte an Szarah, an ihre kultivierte Art von Aufmerksamkeit, daran, dass Marlene in ihrer Zuwendung viel impulsiver war, zwischendurch tausend Dinge übersah und er sie genau dafür liebte, und an Charlotte, die sich gelegentlich zwar immer noch benehmen musste wie ein Punk, auf der anderen Seite mit einer Zielstrebigkeit in Richtung Solidität unterwegs war, die ihn immer wieder frappant an Yvonne, ihre Mutter, erinnerte. Schließlich fiel ihm Beethoven ein, kurz kurz kurz lang, und er fasste sich erneut an den Hals. Nichts. Alles rhythmisch. Alles regulär.
Er bog ab, passierte das rote Haus und parkte ein paar Autolängen dahinter neben einem verrosteten Maschendrahtzaun. Ich benehme mich wie der schlechte Ermittler in einem amerikanischen Gangsterfilm, dachte er, und zugleich wusste er, dass er das unter Garantie nicht mehr würde ablegen können.
Er zog den Notizzettel aus der Brusttasche seines Hemds und verglich die Adressen. Ich bin hunderte Male an diesem kleinen Haus vorbeigefahren, dachte er, habe es hunderte Male als das rote Haus registriert und mich nie gefragt, wer hier wohnt. Er drückte auf die Klingel neben dem Gartentor. Drinnen bellte ein Hund.
Theresia Widrich trug eine ärmellose Kleiderschürze mit Blumenmuster und Gartenpantoffeln aus grünem Kunststoff. Sie war klein, drahtig und weißhaarig. Um ihre Beine strich ein knapp kniehoher, braun-weiß gefleckter Hund. »Ich verkaufe nicht«, sagte sie. Jeden zweiten Tag stehe jemand mit genau so einem Blick am Gartentor, amerikanische Ehepaare, bulgarische Familien, Touristen aus Wien sowieso, es gehe ihr inzwischen total auf die Nerven. »Verkaufen − meinen Sie das Haus oder den Hund?«, fragte Kovacs. Die Frau erschrak. »Warum den Hund?«, fragte sie. Weil er nett ausschaue, freundlich und neugierig, irgendwie auch reinrassig, sagte er, aber in Wahrheit dürfe sie das nicht ernst nehmen, denn er habe keine Ahnung von Hunden. »Darf ich reinkommen?«, fragte er und hielt ihr seinen Ausweis hin. »Sie ist ein Kooikerhund«, sagte sie und öffnete die Gartentür. »Ein was?«, fragte Kovacs. Ein Kooikerhund, sagte sie, eine alte holländische Rasse, in erster Linie Entenjäger. »Entenjäger?«, wiederholte Kovacs, und die Frau sagte, ja, wenn sie mit ihr in der Au spazieren gehe, sei das besonders gut zu bemerken. Ihr Hund heiße übrigens Frida.
Die Terrasse an der Hinterseite des Hauses war winzig und bot gerade zwei Stühlen und einem runden Tischchen Platz. Sie saßen unter einer weißgepunkteten gelben Markise. Theresia Widrich kredenzte selbstgemachten Ribiselsaft. Sie erzählte, dass ihr verstorbener Mann das Gartenhaus ausgebaut und winterfest gemacht habe. Nach einer Urlaubsreise zum Nordkap vor beinahe dreißig Jahren habe er im Sägewerk eine Ladung gehobelte Lärchenbretter gekauft, außen an die Fassade geschraubt und falunrot gestrichen. »Falunrot?«, fragte Kovacs, und sie sagte, ja, so nenne man es in Schweden. Die Erde rings um die Stadt Falun sei auf Grund ihres Kupfergehaltes blutrot, daher komme der Name. Ihr Mann habe die Farbe an den schwedischen Holzhäusern gesehen und sei ihr sofort völlig verfallen gewesen. Die Proteste aus der Nachbarschaft hätten ihn nicht gekümmert, und als der alte Meinert in einer Quartalsversammlung des Kleingartenvereins gesagt habe, dieses Kommunistenrot sei eine Schande, habe ihr Mann geantwortet, er solle das bitte wiederholen, es tue ihm so gut.
Unterhalb der Terrasse erstreckte sich, begrenzt von einer Hecke aus gemischten Sträuchern, ein kleiner Garten. Der Hund strich in einer Achterschleife um zwei Hortensienbüsche, begann schließlich an einer Stelle hektisch zu graben. »Was sucht sie dort?«, fragte Kovacs. »Wühlmäuse«, sagte Theresia Widrich, »sie ist ganz versessen drauf.« »Und die Löcher im Boden?«, fragte Kovacs. Die schaufle sie wieder zu, sagte sie. Sie wisse, das sei kindisch, aber danach fühle sie sich jedes Mal so richtig gut. »Wenn dir jemand an die Wurzeln geht, musst du dich wehren«, sagte sie. Frida habe das von Anfang an offensichtlich genauso gesehen wie sie. Sie lege ihr die toten Wühlmäuse und Maulwurfsgrillen vor die Füße, jede einzelne; manchmal stelle sie auch noch ihre Pfote drauf wie ein siegreicher Feldherr. Kovacs machte eine entschuldigende Geste. »Ich bin kein Gärtner«, sagte er.
»Sie haben wahrscheinlich auch keinen Hund.«
Nein, sagte er und wies auf Frida, die unverdrossen weiterbuddelte, der Hund sei allerdings schon das Thema.
»Sie wollen wissen, ob ich etwas gesehen habe«, sagte Theresia Widrich. Kovacs blickte überrascht auf.
»Was sollen Sie gesehen haben?«
Das Bild auf dem Haus, sagte sie — alle in der Umgebung wüssten, dass sie zeitig in der Früh mit dem Hund rausgehe, irgendjemand habe das wohl der Polizei gesagt. Und ja, sie habe die Künstler gesehen. »Die Künstler?«, fragte Kovacs. Ja, sagte sie, es seien zwei gewesen, ein großer Blonder und ein Kleinerer, schlank mit dunklen Haaren, sie hätten einen Rucksack dabeigehabt, aus dem sie ihre Spraydosen genommen hätten, und ja, sie sage mit Absicht Künstler, denn es sei ihr in Galerien oder Museen schon wesentlich schlechteres Zeug untergekommen. Drittens, weil er das ja sicher wissen wolle — sie könne sich nicht erinnern, die beiden schon jemals gesehen zu haben. Kovacs schaute der Frau in die Augen.
»Gesetzt den Fall, Sie würden die beiden kennen …«
Theresia Widrich lächelte. »Dann würde ich natürlich ihre Namen nennen, der Polizei gegenüber muss man doch die Wahrheit sagen.«
Die jungen Männer hätten sich ihr gegenüber völlig unauffällig verhalten, erzählte sie, im Grunde genommen so, als wäre sie gar nicht vorhanden, allerdings habe sie auch nichts getan, was die zwei beunruhigen hätte können. Weder habe sie um Hilfe gerufen noch dumme Fragen gestellt. Auch Handy habe sie keins bei sich gehabt, und Frida wisse genau, dass sie auf ihren Morgenspaziergängen nicht bellen dürfe.
Ein großer Blonder, ein kleiner Dunkler und eine alte Frau, die niemanden erkennt, dachte Kovacs − ich befinde mich immer noch in einem amerikanischen Gangsterfilm.
»Haben Sie eigentlich jemals daran gedacht, die Polizei zu verständigen?«, fragte er, bevor er ging. Nein, sagte Theresia Widrich, dafür habe ihr das Bild zu gut gefallen.
Er ließ das Auto in der Seitenstraße stehen. Obwohl es schon warm war und er sich ziemlich lächerlich vorkam, ging er zu Fuß. Ich tue so als ob, dachte er, ich führe ein Leben ohne Bewegung, und ich möchte Absolution dafür. Er dachte an Entenjäger, die sich irgendwann im Leben auf Wühlmäuse umstellten, daran, dass Kooikerhund ein nettes Wort war, und an dieses rote Gartenhaus, das einen einhüllte wie eine Wolldecke. Er dachte an Marlene, die immer wieder sagte, die ganze Angelei könne ihr gestohlen bleiben, zum Lachsfischen nach Schweden würde sie ihn aber schon begleiten. Außerdem dachte er an Petra Lindström, die für nicht einmal ein Jahr einen Ehemann gehabt hatte, der aus Göteborg stammte und aussah wie ein Bruder von Ingemar Stenmark, still, sanft und blauäugig. Ein paar Wochen nach der Hochzeit war Lindström zum ersten Mal mit Sonnenbrillen in den Dienst gekommen, in der Folge immer öfter. Ein halbes Jahr später hatte sie sich im Dauerkrankenstand befunden und war nicht mehr arbeitsfähig gewesen. Am Ende hatte erst ein Besuch von Mauritz und von Zoltan Földeny, einem jungen Uniformierten, der ein ähnliches körperliches Format besaß wie der Chef der Spurensicherung, den Herrn aus Schweden motiviert, rasch und unkompliziert der Scheidung zuzustimmen. Ihren Namen hatte Petra Lindström trotzdem behalten. Was kann der Name Lindström dafür, dass auch ein prügelndes Arschloch so heißt?, hatte sie gesagt. Das fanden alle ziemlich einleuchtend.
Eine Sprayergeschichte — Kovacs war sich sicher, dass wie üblich nichts rauskommen würde. Mauritz’ Anstrengungen, verwertbare Spuren zu finden, würden sich in Grenzen halten, der besorgte Mitbürger, der am Morgen angerufen hatte, würde sich hüten, als Zeuge aufzutreten, und sonst würde sich niemand melden. Böswillige Sachbeschädigung, unaufgeklärt. Er würde den Bericht von Lindström und Lipp abwarten, Haken drunter, fertig. So würde es sein.
Als Ludwig Kovacs aus der Mühlaustraße in die Auenbruckerallee einbog, passierten drei Dinge gleichzeitig: Er sah die Kamera, sein Handy vibrierte, und Jamie Foxx blickte ihn an. Er griff in seine Hosentasche.
Es war George Demski. »Geht grad nicht − Fernsehen«, sagte Kovacs. »Muss gehen«, antwortete Demski.
»Was heißt muss?!«
»Ein Kind ist verschwunden. Zehn Jahre alt.«
»Kinder verschwinden«, sagte Kovacs, »dann tauchen sie wieder auf. Alle. Hier wird jeden Augenblick Konrad Seihs aus seinem BMW steigen und Unsinn in die Kamera sprechen.«
Was Konrad Seihs in die Kamera spreche, sei ihm so etwas von egal, sagte Demski, er habe die Eltern dieses Kindes im Nacken, eine hysterische Mutter und einen Vater, der auf wichtig tue. Das Mädchen wohne im Süden der Stadt und gehe in die vierte Klasse Volksschule. Bis vor drei Stunden habe die Kleine wie jeden Mittwoch in der Orchesterprobe gespielt — Klarinette, falls ihn das interessiere. Seither sei sie weg.