Ich habe sie entführt. Es war ganz leicht. Man denkt ein wenig nach, organisiert sich die Unterstützung, die man braucht, und schon funktioniert es. Natürlich setzt du dich mit der Frage auseinander, wie es sich anfühlt, so etwas zu tun. Niemand ist ein geborener Entführer. Irgendwann hörst du dann auf, dich zu fragen, und tust es einfach.
Jetzt sitzt sie hier, mitten in diesem Raum, ein blasses, dickliches Mädchen mit dunkelblondem Haar und pinkfarbener Brille. Sie trägt eine himmelblaue Hose, ein Hello-Kitty-T-Shirt und rosafarbene Sneakers aus Leinen. Sie hat ihren Klarinettenkoffer bei sich, eine Mappe mit Noten und ihren Fahrradhelm. Sie heißt Elvira, genau genommen Elvira Magdalena, sagt sie, und dann sagt sie, dass sie ihre Freunde manchmal Virus nennen. Ich frage sie, ob ich mich vor einer ansteckenden Krankheit fürchten soll. Sie bleibt ernst und sagt, nein, so war es nicht gemeint.
Ich sage ihr, dass ich sie entführt habe, sie fragt mich, warum, und ich sage, weil es so sein muss. Die Tränen steigen ihr in die Augen, dann fragt sie mich, ob ich Geld haben möchte, sie habe vergessen, wie es heiße, aber ich wisse schon, welches. »Lösegeld meinst du«, sage ich, und sie sagt, ja, Lösegeld, ihr Vater verdiene ganz viel Geld, und die Firma verkaufe Sachen bis nach Afrika. Ich sage, nein, um Geld gehe es nicht. Sie ist eine Weile still, dann fragt sie, ob sie der dünne Mann ebenfalls entführt hat, ihn kenne sie nämlich gar nicht, mich habe sie zumindest schon einmal gesehen, und ich sage, nein, der dünne Mann habe nur aufgepasst, dass ihr nichts passiere.
Wir gehen eine Runde durch den Raum. Ich möchte, dass ihr die Dinge vertraut werden. Der Tisch, die drei Stühle, der schmale, weiß lackierte Kleiderschrank, das Regal mit den Büchern, der DVD-Player, der Flachbildschirm, das Bett aus Buchenholz, im hintersten Winkel der Eingang zum Bad. Ich zeige ihr die Handtücher, die Zahnbürste, die Seife, den Kamm. Sie fragt nach einem Föhn, ich sage, ich werde ihr einen bringen, und sie sagt, zu Hause habe sie einen grünen mit einer Biene drauf.
Ich bleibe stehen, fasse an ihre Schulter, drehe sie zu mir und sage, ich hätte gern, dass wir die letzte Stunde noch einmal durchgehen. Sie schaut mich groß an und fragt, warum. Ich sage, weil es wichtig ist, dass man sich gewisse Dinge merkt. »Wie ich entführt worden bin«, sagt sie, und ich denke, dass sie ein pummeliges, aber ziemlich waches Mädchen ist. »Viele Dinge vergisst man von selbst«, sage ich, »und den Rest, weil die anderen es so wollen.« Sie sagt nichts darauf, aber ich weiß, dass sie mich versteht.
Sie steht da und hört mir zu, wie ich damit beginne, dass sie aus der Probe gekommen ist, an der Seite ihrer Freundin Clara, die Querflöte spielt, und dass ich unten an der Treppe gewartet habe. »Clara wohnt auch in der Fürstenaustraße«, sagt sie, und ich sage, ja, in einem Haus mit einem altmodischen Türmchen. Ich erzähle, dass sie beide ein paar Sätze gewechselt und gelacht haben und dass Clara zum Abschied die Hand gehoben hat und auf ihre Mutter zugelaufen ist. »Abgeholt«, sagt Elvira. Ja, abgeholt, sage ich und erzähle, wie sie selbst zum Fahrradständer gegangen ist, das Kettenschloss geöffnet hat und nach Hause gefahren wäre, wenn nicht ich dagestanden wäre. Ich erzähle, wie ich sie freundlich begrüßt habe, ich ihr offenbar bekannt vorgekommen sei, und wie ich gesagt habe, ich hätte da eine Bitte, ich bräuchte ganz kurz ihre Hilfe. »Da hast du gelogen«, sagt sie, und ich sage darauf: »Ja, da habe ich gelogen.« »Warum?«, fragt sie. Ich gebe ihr keine Antwort, sondern erzähle, dass der dünne Mann am Auto gewartet hat und ebenfalls sehr freundlich war, vielleicht auch ein bisschen unheimlich, denn so ist er immer. Er sei vorn eingestiegen und ich hinten, gemeinsam mit ihr, er habe das Auto gestartet, und ich hätte zu ihr gesagt, das sei jetzt notwendig, wegen einer Überraschung, es dauere auch nur ganz kurz, und dann hätte ich ihr das Tuch über die Augen gebunden. Ich hätte ihr gesagt, es gehe um ein kleines Mädchen, das Klarinette spiele wie sie, ihm solle sie etwas zeigen. Das sei auch gelogen gewesen.
»Warum hast du schon wieder gelogen?«, fragt sie. Ich sage, ich weiß es nicht und dass es möglicherweise mit dem Raum zu tun hat, in dem wir uns befinden. »Hier drin ist früher ständig gelogen worden«, sage ich. Sie fragt, wo wir hier eigentlich sind, und ich sage: »Überlege dir, wie weit wir zirka gefahren sind.« Sie denkt eine Sekunde lang nach und sagt dann: »Ich glaube, wir sind in Sankt Christoph.« Ich widerspreche nicht und erzähle davon, was dieser Raum früher einmal war.
Nach einer Weile sagt sie, Separationsraum sei ein seltsames Wort, und ich sage, den Rekord habe ein Bub namens Rudolf gehalten, zwölf Jahre alt. Er sei zehn Tage hier drin gewesen, ohne Unterbrechung. »Warum?«, fragt sie. »Weil er ein Wegläufer war«, sage ich. »Woher weißt du das?«, fragt sie. »Er hat es mir erzählt«, sage ich.
»Wer — er?«
»Rudolf.«
»Das heißt, er ist nicht tot?«, fragt sie. Ich sage, nein, warum solle er tot sein. Sie sagt, zehn Tage, das sei eine lange Zeit, sie habe gedacht, da sterbe man vielleicht, und ich sage, er habe ausreichend zu essen und zu trinken bekommen. »Naschereien auch?«, fragt sie. Ich schüttle den Kopf. »Nein, Naschereien nicht.« Ich frage, ob sie denn glaube, dass sie hier verhungern werde. Sie überlegt, dann sagt sie, nein, eigentlich glaube sie das nicht. Frau Jurmann, ihre Lehrerin, habe gesagt, es sei nicht so schlecht, wenn man gewisse Reserven besitze.
Ich erzähle, dass wir zirka zwanzig Minuten mit dem Auto gefahren sind, erst geradeaus, dann einige Kurven, und sie nur einmal gefragt hat, ob es noch lange dauert. Wir seien ausgestiegen und auf einem sanft abfallenden Weg ein Stück durch den Wald gegangen, sie an meinem Arm, der dünne Mann vor uns. Am Schluss seien wir neunzehn Stufen hinabgestiegen, möglicherweise habe sie mitgezählt, bis vor eine Eisentür, die uns der Mann aufgesperrt habe. Wir seien einen Gang entlanggegangen und durch eine zweite Tür getreten. Ich hätte das Licht aufgedreht und ihr das Tuch von den Augen genommen. Wir seien hier gewesen.
Sie schaut sich um. Sie sagt; »Ich mag es nicht, wenn in einem Zimmer keine Fenster sind.« »Fenster gehen hier nicht«, sage ich. Sie fragt, warum nicht, und ich sage, weil der Raum unter der Erde liegt. »Und wenn ich schreie?«, fragt sie. Ich zeige ihr die kleine gläserne Halbkugel an der Decke. »Wir sehen dich«, sage ich. Sie schaut mir in die Augen und sagt, ihr Großvater habe ihr einmal eine Geschichte von einer Entführung eines jungen Mannes erzählt. Um zu beweisen, dass sie es ernst meinten, hätten die Entführer dem jungen Mann ein Ohr abgeschnitten, es in ein Polsterkuvert gesteckt und an die Familie geschickt. »So etwas mache ich nicht«, sage ich. Sie fragt, ob das bedeutet, dass ich es nicht so ernst meine, und ich sage, doch, ich glaube, ich meine es ziemlich ernst. Ich sehe ihre Mundwinkel zucken, und ich denke daran, dass wir uns alle keine Vorstellung davon machen, wie viel Kinder aushalten, wenn es drauf ankommt. »Ich werde dir ein paar Geschichten erzählen«, sage ich, »du kannst sie dir merken, wenn du willst. Sonst passiert gar nichts.«
Ich bücke mich, ziehe den Zettel, den ich vorbereitet habe, aus meiner Umhängetasche, falte ihn auf und lege ihn auf den Tisch. »Was ist das?«, fragt sie. »Ich habe eine Aufgabe für dich«, sage ich.
»Welche Aufgabe?«, fragt sie. Sie solle das Gedicht, das auf dem Zettel stehe, auswendig lernen, es sei auch nicht sehr lang.
»Wieso?«, fragt sie. »Für die anderen«, sage ich.
»Welche anderen?«
»Die hier drin waren.«
Ich schiebe ihr den Zettel hin. Sie wirft einen Blick darauf, liest. Dann lehnt sie sich zurück und schüttelt heftig den Kopf. Tränen schießen ihr in die Augen. »Nein!«, sagt sie, »nein!«
»Was — nein?«, frage ich.
»Das merke ich mir nicht«, sagt sie, »das ist hässlich und falsch, ganz falsch! Außerdem ist es kein Gedicht!« Ich ziehe den Zettel heran zu mir. »Ich lese es dir vor, vielleicht ist es dann leichter. Du musst es dir nur anhören«, sage ich.
Ich beginne zu lesen: »Meine Mutter, die Hur …«
Sie hält sich die Ohren zu.