Kein anderer kennt die Stelle, nur sie. Jedes Mal, wenn sie sich ihr nähert, spürt sie diese Gewissheit. Die Zufahrt zur Biologischen Beobachtungsstation. Ein Stück östlich davon eine kleine Pannenbucht. Kurz danach Erlen- und Robiniengehölz, im Geäst über eine Strecke von vielleicht dreißig Metern ein dichter Waldrebenvorhang. Sie erhöht das Tempo, lenkt das Rad nach rechts, fährt direkt auf die grüne Wand zu, senkt den Kopf und stößt mitten hindurch. Auf den Pedalen stehend quert sie einen leicht abschüssigen Wiesenstreifen. Sie erreicht einen Pfad, der sich den Schilfgürtel entlang windet, folgt ihm und gelangt seitlich von einer riesigen tellerförmigen Schieferplatte ans Ufer. Sie legt ihr Fahrrad ins Gras, klettert auf den Felsen und schaut sich um. Rechts von ihr, vielleicht vierzig, fünfzig Meter entfernt, stakst ein Graureiher die Wasserlinie entlang. Neben ihm lärmt ein Schwarm Distelfinken in den Büschen. Draußen auf dem See fahren einige Stand-up-Paddler auf ihren Boards langsam von Osten nach Westen, wahrscheinlich eine von Antonios Kursgruppen. Sonst ist niemand zu sehen. Stand-up-Paddeln — eine ziemlich vertrottelte Art, sich auf dem Wasser fortzubewegen, denkt sie, aber die Leute tun im Grunde alles, was man ihnen einredet.
Sie legt Rucksack und Helm ab, schlüpft aus Sneakers, Shorts, T-Shirt und Unterhose, stapelt die Sachen zu einem Häufchen und beschwert sie mit einem Stück Schwemmholz. Eigentlich blöd, denkt sie, es ist nicht der Hauch von einem Wind zu spüren, aber man macht das halt so. Die Mulde in der Mitte der Platte ist mit Flugsand gefüllt. Sie genießt das winzige Einsinken, geht ganz nach vorn und krallt die Zehen um die raue Kante des Steins. Nackt ist super, denkt sie, und sie denkt, dass es sich manchmal am allerbesten anfühlt, die Dinge in kleine dumme Sätze zu fassen. Dann springt sie.
Schon als kleines Kind hat sie es geliebt, unter Wasser die Augen zu öffnen, jenen Moment, in dem das Sehen plötzlich kühl war, und trüb oder klar, blau oder grün keine Rolle spielten. Wenn sie Stella von ihrem Augapfelgefühl erzählte, sagte die stets: »Du spinnst.« Jetzt spürt sie es jedenfalls auch. Sie sieht die Schwebeteilchen im Sonnenlicht und von unten das perlmuttartige Schimmern der Wasseroberfläche, bevor sie auftaucht. Sie legt sich erst auf den Rücken, schwimmt mit kurzen, wenig auslenkenden Beinschlägen und spürt, wie ihr das Wasser vom Gesicht rinnt. Als sie die Augen schließen muss, weil sie die Sonne blendet, dreht sie sich auf den Bauch. Sie krault mit langsamen, ausgreifenden Zügen. Der Wunsch nach dem perfekten Zug, denkt sie, immer noch. Sie erinnert sich an ihre Entscheidung, mit dem Leistungsschwimmen aufzuhören, unmittelbar nachdem sie Landesmeisterin über zweihundert Meter Lagen geworden war, daran, wie ihr Trainer gefragt hatte, warum, und daran, wie sie gesagt hatte: Weil mir das Falsche wichtig ist. Sie war damals sechzehn Jahre alt.
Als sie das nächste Mal hochblickt, sieht sie, dass aus Richtung Waiern ein Elektroboot herankommt. Ein Mann mit weißer Schirmkappe sitzt am Ruder. Am Heck sind zwei Schleppangeln ausgelegt. Sie taucht ab und wendet. Manchmal mag ich keine Menschen, denkt sie, und sie weiß, dass es nichts damit zu tun hat, dass sie gerade splitternackt ist. Sie spürt die seitlichen Auslenkungen ihrer Wirbelsäule, das Einströmen der Luft in ihre Lungen und das Wasser an ihren Brüsten und Oberschenkeln. Ich habe vor vier Monaten zum letzten Mal gevögelt, denkt sie, jetzt schwimme ich nackt im See, das Wasser nimmt mich in Besitz, und es reicht mir völlig.
Etwas später sitzt sie auf dem Felsen in der Sonne, um sich trocknen zu lassen. Sie denkt an ihre Schwester, an ihre Scheu, ihre tiefdunkle Traurigkeit und an das Leuchten in ihrem Gesicht, wenn sie von ihren Schulkindern spricht. Sie denkt daran, wie sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr mit ihr an den See ging und sie dachte, es habe mit Konkurrenz und ihrem Wettkampfschwimmen zu tun. Schließlich denkt sie an jenen Abend, an dem Stella plötzlich das Kleid über den Kopf zog und ihr zum ersten Mal seit Jahren ihren Körper zeigte, und wie sie selbst erst fassungslos dastand und dann zu weinen begann. »Wenn dir ein anderer sagt, dass du nichtswürdig bist, glaub es nicht«, sagte ihre Schwester damals, außerdem, dass sie zu sich selbst lieb sein solle, die Wahrscheinlichkeit, dass das sonst jemand erledige, sei gering. Sie sah die Narben an ihrem Körper, an den Armen, den Beinen und am Bauch, sie sah die frischen Schnitte dort und da, und sie sah Alexander vor sich, Stellas Ehemann, mit seinem blondlockigen Engelsgesicht. Zugleich — sie merkte es anfangs kaum — begann damals irgendwo tief in ihr die Ahnung aufzuglimmen, dass das nicht die ganze Erklärung war.
Die Luft ist klar und warm. Der Wasserfall auf der anderen Seite des Sees wirkt unwirklich nahe. Das Elektroboot mit dem Mann und den beiden Angeln ist verschwunden. Sie schüttelt ihr Haar, fährt mit den Fingern ein paarmal durch und schlüpft in die Kleider.
Sie folgt dem Pfad, auf dem sie gekommen ist, bis er die Uferpromenade erreicht. Auf ihr fährt sie bis knapp vor den Abfluss der Ache, biegt ab und gelangt in einer Schleife auf die Severinbrücke. Die Ausläufer der Kammwand liegen vor ihr, die Dächer der alten Hotels, die Türme der Stiftskirche. Sie stellt sich Joseph Bauer vor, wie er vor dem Altar liturgische Dinge tut, die Arme ausbreitet, die Hostie hochhebt oder das Messbuch küsst, wie er immer wieder das Gesicht verzieht und halblaut seltsame Sachen sagt, »Spirit on the water, darkness on the face of the deep«, zum Beispiel, und dann stellt sie sich vor, wie er vor ihrer Schwester steht und sie so anschaut, wie jeder irgendwann einmal angeschaut werden möchte.
»Was ist denn mit dir passiert?« Norbert steht mit Iorgos und Andrea vor dem Eingang zum Come In und grinst. Sie kettet ihr Rad an den Ständer. »Wieso?«, fragt sie. »Deine Haare«, sagt Norbert.
»Ich war schwimmen.«
»Und?«
»Was und?«
»War’s kalt?«
Norbert ist klein, hat schütteres Haar und eine Wampe. Er spürt, dass er nicht mein Typ ist, denkt sie, und er versucht es trotzdem. »Du brauchst Nachhilfe«, sagt sie. »Ich? Wieso?«, fragt er. Coaching, sagt sie, er brauche ein paar Coaching-Stunden im Anbraten. Auf die Was-ist-mit-dir-passiert- und War’s-kalt-Art werde er es nie zu einer Freundin bringen. Iorgos lacht. »Er will keine Freundin«, sagt er, »er liebt nur dich.« Sie verdreht die Augen. »Ja, ich euch auch«, sagt sie.
Als sie den Fernsehraum betritt, stürzt Lisbeth auf sie zu und hält ihr das Handy unter die Nase. »Wer, glaubst du, war das?«, fragt sie. »Wer war was?«, fragt sie zurück.
Lisbeth trägt eine schwarze Latexhose und einen langen Wollpullover, schwarz mit goldenen Sternen, viel zu warm für die Jahreszeit. Sie heißt in Wahrheit Marianne Elisabeth, hasst aber Marianne. Sie tut alles, um wie Lisbeth Salander aus der Stieg-Larsson-Trilogie auszusehen.
»Das da. Wer war das?« Ihre Fingernägel sind schwarz lackiert mit goldenen Halbmonden. An ihrem rechten Mittelfinger steckt ein Silberring mit einem Medusenhaupt. Sie riecht nach Zigaretten und Bier und zittert ganz leicht. Ich mag es, wenn sie neben mir steht, denkt sie, auch wenn sie betrunken oder bekifft ist. Das Display zeigt ein offensichtlich gespraytes Bild mit einer Moschee und einem dunkelhäutigen Männerkopf.
»Du meinst, wer das gesprayt hat. Woher soll ich das wissen?«
»Jakubek war da und hat gefragt, wer von uns das war«, sagt Lisbeth. »Wieso Jakubek?«, fragt sie. »Keine Ahnung«, sagt Lisbeth, »irgendetwas ist wichtig.« Sie sieht den neuen Jugendamtsleiter vor sich, im taubengrauen Anzug, die Sonnenbrille im Haar, wie er sich aufpflanzt und versucht, Druck zu machen. »Jakubek ist ein Trottel«, sagt sie. »Das weiß ich«, sagt Lisbeth, sie selbst habe ihn gefragt, ob sie für ihn ausschaue wie eine, die so ein Bild malen könne, und er habe gesagt, nein, aber man könne nie wissen.
Die Sessel sind schon zu einem Kreis gestellt, das nimmt sie wahr, als sie das Casino betritt. Bauer sitzt da, drei Plätze rechts von ihm Rosemarie. Beide wirken ziemlich entspannt. »Störe ich?«, fragt sie. Rosemarie lacht. »Nein«, sagt sie, »wobei solltest du stören?«
»Ich weiß nicht«, sagt sie , »ihr wirkt so …« »Intim, meinst du?«, fragt Rosemarie. Ja, sagt sie, so zu zweit, wie bei der Beichte. »Wer bei wem?«, fragt Rosemarie und lacht wiederum. Bauer hebt den Kopf. Er trägt wieder seinen Habit, samt bodenlangem Skapulier. »Hat eure Wäscherei diesmal ausnahmsweise schnell gearbeitet?«, sagt sie. »Nein«, sagt er.
»Ausgeborgt?«
»Nein, nicht ausgeborgt.«
Sie schaut verwirrt. Erst als er die Augen verdreht, kapiert sie. Sie schlägt sich an die Stirn. »Ich bin ein Trottel«, sagt sie. Jetzt verstehe sie etwas nicht, sagt Rosemarie. Das sei auch nicht notwendig, sagt sie, es gehe um die Frage, wer die Wäsche wasche − sozusagen eine Familienangelegenheit.
Sie setzt sich in den Kreis, vis-à-vis von Rosemarie. So möchte ich einmal werden, denkt sie, so selbstbewusst, aufrecht und scharfsinnig. Rosemarie selbst sagt, wenn man sich entschließe, mit Teams und Organisationen zu arbeiten, habe man keine Wahl. Entweder man entwickle Scharfsinn und Selbstbewusstsein, oder man werde geschluckt, sagt sie. Am Anfang zahle jeder Lehrgeld, aber irgendwann müsse man sich entscheiden. Wer weich und manipulierbar sei, werde erst ausgequetscht und dann fallen gelassen.
Fünf Minuten noch. Sie stellt die Füße parallel hin und presst die Sohlen vollflächig gegen den Boden. Manchmal macht sie diese Übungen: Kontakt mit der Erde, fühle den Boden und so weiter. Rosemarie hat die Augen geschlossen, Bauer starrt gegen die Decke. »Hat dir Lisbeth das Bild auch gezeigt?«, fragt sie ihn. »Das Diptychon«, sagt er. »Das was?«, fragt sie. Den Zweiteiler aus der Auenbruckerallee, sagt er, mit Kopf und Moschee, ja, den habe sie ihm gezeigt. Wieso Auenbruckerallee, fragt sie, und er sagt, weil er daran vorbeigelaufen sei, früh am Morgen, vor der Sechs-Uhr-Messe. Leider habe er die Sprayer nicht mehr gesehen. Die Sprayer, sagt sie, warum Plural, und er sagt, zwei Bilder, zwei Sprayer, völlig intuitiv. Stilistisch gebe es seines Erachtens keinen Unterschied zwischen den Hälften, also könne es genauso gut nur einer gewesen sein. Sie mustert ihn. Hager und immer ein wenig unter Spannung. LDR, denkt sie, Long-Distance Runner. So bezeichnet er sich gern, und dann sagt er, man könne nicht früh genug damit beginnen, sich auf die Ewigkeit mit ihren Entfernungen und Zeiträumen vorzubereiten. Zu Stella sagt er manchmal, es gebe zwei Dinge, die ihn davor bewahrten, in tausend Teile zu zerfallen, das Laufen und die Musik. Wenn sie daraufhin beleidigt schaut, sagt er: »Du bist kein Ding.«
Die anderen kommen rein und setzen sich. Ein Platz bleibt leer. Natascha. Rosemarie blickt fragend in die Runde. »Weiß jemand, wo sie ist?« »Dort, wo sie angeblich immer ist«, sagt Andrea, »auf dem Weg.« Und dann sagt sie, dass ihr Nataschas notorisches Zuspätkommen inzwischen total auf die Nerven gehe und sie die Absicht habe, ihr das auch unter die Nase zu reiben, sofern sie ihnen die Gunst ihrer Anwesenheit noch schenken werde. »Vielleicht hat sie etwas Wichtiges zu tun«, sagt Rosemarie, und Andrea sagt: »Ja, hundertprozentig. Die Frau Supervisorin mit ihrer grenzenlosen Verständnisbereitschaft!« Rosemarie grinst. Das gehöre irgendwie zu ihrer Stellenbeschreibung, sagt sie.
Sie sprechen über den harten Kern, die paar Jugendlichen, die fast täglich da sind. Über Lisbeth, die so tut, als habe sie ihr Leben, vor allem ihren Substanzkonsum, im Griff, und dann doch das Spital braucht, weil sie Flammen aus den Steckdosen schlagen sieht oder sich die Seele aus dem Leib kotzt. Über Magdalena, die seit einigen Monaten immer wieder dabei gesehen wird, wie sie das Fernkorn, das eine der beiden alten Seehotels, betritt, meistens spät am Abend, manchmal auch vormittags, wenn sie eigentlich in der Schule sein sollte, und wie sie nach etwa einer Stunde wieder rauskommt. Über den Dicken schließlich, der eigentlich Ossi heißt, fünfzehn ist, seit einem Jahr gar nichts tut und ihren Messungen nach im Schnitt pro Monat zwei Kilo zugenommen hat. Rein körperlich habe der Dicke die Ausstrahlung eines Sumoringers, sagt Iorgos, er müsse nur noch lernen, die Kraft auf den Punkt zu bringen. Andrea sagt, ein Sumoringer, eine Süchtige und jemand, dem es ein Anliegen ist, die Systematik der Transgender-Typologie über den Haufen zu werfen, wie Fritz The Cat: Es sei überhaupt nicht zu verstehen, warum sie alle tagtäglich in ein sogenanntes Jugendzentrum kämen, das in Wahrheit nichts zu bieten habe als denkmalgeschützte Mauern, einen Flipperautomaten, der, wenn es hoch komme, zweimal pro Woche funktioniere, und Betreuerinnen, deren Motivation sich darin erschöpfe, sich die Haare blau zu färben.
Sie schaut zu Rosemarie. Warum sagt sie nichts?, denkt sie. Die Anwesenheit der Jugendlichen in Frage zu stellen geht gar nicht. Wenn die Sache in diese Richtung läuft, sollte ihr als Supervisorin etwas einfallen. In Wahrheit lag das Problem bei Andrea. In Wahrheit war sie falsch in diesem Job. Alle wussten es, und keiner sagte es ihr. Jetzt war sie seit mehr als einem Jahr im Team und hatte immer noch Angst, wenn man sie mit den Jugendlichen allein ließ. Sie merkt, wie Rosemarie ihren Blick sucht. Nein, denkt sie, ich will nichts sagen. Sie will es, aber ich nicht. »Nächsten Donnerstag ist Fronleichnam«, sagt Bauer unvermittelt. Alle schauen ihn an. Sie atmet langsam aus. Er hat mich gerettet, denkt sie, er knallt zwar gleich durch, denkt sie, gleich fängt er an, Kirchenlieder zu singen oder einen Bob-Dylan-Song, aber er hat mich gerettet. »Und?«, fragt Iorgos. Er habe erst an die dicken Mauern des Stiftes gedacht, sagt Bauer, dann an Transsubstantiation, und plötzlich habe er die Jugendlichen in der Fronleichnamsprozession vor sich gesehen, ganz vorn den Dicken, im Anzug, mit frommem Blick. »Du spinnst«, sagt Iorgos. Das sei bekannt, erwidert Bauer. Außerdem habe er dieses Wort noch nie gehört, sagt Iorgos, Transsubstantiation. Es klinge ein wenig nach Beamen. »Wonach?«, fragt Bauer. Nach Beamen, wiederholt Iorgos, Raumschiff Enterprise: Beamen Sie mich hoch, Scotty.
Draußen ist es plötzlich laut. Dann wird die Tür aufgerissen. Es ist Lisbeth. »Entschuldigung«, sagt sie, »Malik — er hat ein Messer.«
Malik steht mitten im Fernsehraum, ist weiß wie die Wand und bebt. Iorgos geht auf ihn zu. Als Malik die Hand hebt, bleibt er stehen. Malik greift nach hinten, zieht ein dolchartig gebogenes Messer aus dem Gürtel und legt es vor sich auf den Couchtisch. Er hebt noch einmal die Hand. »Ich kenne die Regeln«, sagt er. Er blickt sich um, schaut schließlich sie an. »Ich brauche einen Schlafplatz«, sagt er, »heute zumindest.« Keine Waffen, das ist die eine Regel, denkt sie, Notschlafplatz braucht Not, das ist die andere. Sie sieht den Schweiß an Maliks Schläfen und zeigt auf die Fauteuils. »Ich rede lieber im Sitzen«, sagt sie.
Malik bleibt stehen. Die Razzia sei völlig überraschend gekommen, erzählt er. Die Leute vom Sicherheitsdienst hätten die Ausgänge blockiert, unmittelbar danach sei die Polizei vorgefahren, drei Autos, zehn Beamte, vier in Uniform, sechs in Zivil mit Schutzweste. »SEA«, hätten sie gerufen, »Sondereinheit Ausreise.« Sie hätten in ihre Zimmer gehen müssen, dann sei alles durchsucht worden. »Sie haben die Spinde ausgeräumt und gelacht«, sagt Malik, »die Schwarzen haben alles rausgerissen, und die Bullen sind dagestanden und haben gelacht.«
»Welche Schwarzen?«, fragt sie. »Aktion 18«, sagt er, »die Leute vom Sicherheitsdienst.«
Der Dolch gehöre Hüssein. Er habe ihn vor einiger Zeit gestohlen, in Waiern bei Waffen und Fischereibedarf Steiner. Er habe sich Angelruten zeigen lassen und als der Verkäufer sich abgewandt habe, um einen Schrank zu öffnen, habe er den Dolch unter sein Hemd gesteckt. Er sei made in Pakistan, aber das sei Hüssein egal gewesen. Er sehe aus wie original aus dem Irak. Da auch mit Leibesvisitationen zu rechnen gewesen sei, sei ihnen nichts anderes eingefallen, als den Dolch außen auf das Fensterblech zu legen. Keiner habe dort nachgesehen. Überhaupt habe alles gut geklappt, bis Hüssein an diesem A18-Typ angestreift sei, zufällig und nur ganz leicht. Der Mann habe gesagt: »Pass auf, du Mufti.« Hüssein sei zwar ein ausgezeichneter Dieb, aber leider kein Diplomat. Er habe gesagt: »Pass selber auf, du Nazi.« Das habe gereicht. Hüssein sei auf den Gang gezerrt, niedergeprügelt und mitgenommen worden, keiner wisse, wohin. Benjamin, der Dritte in ihrem Zimmer, sei dagestanden und habe sich nass gemacht. Ein anderer Mann von A18, der sich plötzlich im Zimmer befunden habe, habe Benjamins Familienfoto von der Spindtür genommen, es betrachtet und gesagt: »Ein schlechtes Bild.« Dann habe er es zerrissen, kreuz und quer, einmal, zweimal, dreimal. Er habe Benjamins nasse Hose gesehen, den Kopf geschüttelt und gegrinst. Am Schluss habe er sich getraut, den A18-Mann nach dem Grund der Razzia zu fragen, und der Mann habe gesagt: »Weil ihr alle Kopfabschneider und Entführer seid.« Er habe gefragt, wie Entführer zu verstehen sei, und der Mann habe gesagt, er solle sich nicht blöd stellen, sie entführten doch alles, was sich nicht wehren könne, am liebsten kleine Kinder.
Malik steht da und sagt nichts mehr. »Bist du müde?«, fragt sie. Er nickt. Sie steht auf. »Komm mit«, sagt sie. Auf dem Weg zum Schlafraum passieren sie die Tür zum Casino. Bauer und Rosemarie stehen dort. Bauer summt irgendwas. Rosemarie hat Tränen in den Augen.