Sie war nicht da. Er langte noch einmal hinüber, aber es blieb dabei. Er tastete nach der Nachttischlampe, machte Licht und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor halb zwei, und ihre Betthälfte war unberührt. Er erinnerte sich, dass er selbst um elf ins Bett gegangen war, ungewöhnlich früh, aber er war müde gewesen. Sie hatte gesagt, sie müsse noch Noten heraussuchen, sie werde bald nachkommen, und er war offenbar sofort eingeschlafen.
Im Stall brannte Licht, das konnte er durchs Schlafzimmerfenster sehen. Sie hatten den Raum, der früher einmal ein Kuh- und Schafstall gewesen war, bis an den Dachstuhl geöffnet und zum Musik- und Lesezimmer umgebaut. Der Stall als Name war geblieben. Sehr rasch war er zu dem Ort im Haus geworden, an dem sie sich am liebsten aufhielten, wegen der breiten Fensterbank, wegen des Kaminofens und wegen des Blicks in die Linde. Wegen der Akustik, sagte er manchmal, und Irene pflegte darauf zu sagen, er solle den Mund halten, von Akustik habe er keine Ahnung.
Raffael Horn schlüpfte in die Jeans und das T-Shirt, die er am Abend über die Stuhllehne gehängt hatte. Schuhe? Keine Schuhe. Er nahm den Weg über den Hof. Die Luft war abgekühlt und die Wiese bereits taunass. Aus dem Tal drang das Geräusch eines LKWs herauf. Die Musik hörte er erst, als er die Tür öffnete. Irene saß auf dem alten Bugholzstuhl, auf dem sie üblicherweise spielte. Sie hatte ihr Cello neben sich abgelegt, die Augen geschlossen und lauschte. Cello und Klavier, aus den Lautsprechern, eine schlichte Melodie, jung und voller Sehnsucht.
»Du spielst gar nicht selbst?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.
»Was hörst du da?« Sie runzelte die Stirn und legte den Finger auf die Lippen. »Ich glaube, ich kenne das.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Entschuldige.« Er schaute sich um. Im ganzen Raum waren Noten verteilt, Sammelbände, lose Blätter, auf dem Boden, auf dem Sofa, auf dem langen Tisch aus Tannenbohlen. Vor dem Tisch stand einer ihrer grauen Hartschalenkoffer. Irgendetwas habe ich übersehen, dachte Horn. Er setzte sich in seinen Lesesessel. Mein Körper weckt mich, weil meine Frau nicht neben mir liegt, dachte er, ich stelle mir vor, sie ist gestürzt oder hat einen Erstickungsanfall, und sie sitzt hier, inmitten einer Inszenierung, die wirkt, als wolle sie ausziehen, und hört Musik. Irene Horn hob den Kopf. »Jetzt sei bitte nicht kindisch«, sagte sie. »Ich hab gar nichts gesagt«, sagte er.
»Doch, hast du. Behalte dir deine Vorstellungen. Ich hatte in meinem Leben noch nie einen Erstickungsanfall.«
Sie erhob sich und drehte die Musik leiser. »Was ist das, was du da hörst?«, fragte er. »Das Unerreichbare«, sagte sie, das, wonach man nicht zu greifen brauche, Götter unter sich sozusagen, Emanuel Feuermann spiele Franz Schubert, die Arpeggione-Sonate, wenn er es genau wissen wolle. Ein Komponist, der gerade einmal dreißig, und ein Cellist, der keine vierzig geworden sei. »Ich bin froh, dass ich kein Gott bin«, sagte Horn. »Wegen der Lebenserwartung?«, fragte sie. Ja, nur wegen der Lebenserwartung, sagte er, die Sache mit den jungen Nymphen würde er schon hinkriegen. Sie warf den Kopf hoch und drehte sich weg. Er ging auf sie zu, umarmte sie von hinten und küsste sie auf beide Ohren. »Meine Lieblingslandeplätze«, sagte er. »Ich werde sie mir umoperieren lassen«, sagte sie und tat so, als wolle sie sich ihm entwinden. »Untersteh dich!«, sagte er. Wenn sie das tue, werde er die Scheidung einreichen. Wie sie wisse, habe er sie in erster Linie wegen der Ohren geheiratet. Sie drehte sich um und küsste ihn auf den Mund. Warum sie ihn geheiratet habe, wisse sie nicht mehr, sagte sie. »Hier sieht es jedenfalls so aus, als wollest du mich verlassen«, sagte er und zeigte auf die im Raum verteilten Noten. »Eh nur kurz«, sagte sie.
Horn trat einen Schritt zurück und schaute sie ratlos an.
»Sag mir bitte, was ich übersehen oder vergessen habe.«
Irene Horn schüttelte den Kopf. »Du weißt es wirklich nicht mehr, oder?«, sagte sie. Nein, sagte er, er habe vorhin schon darüber nachgedacht. »Mantua«, sagte sie. Sie werde in zwei Tagen mit einigen ihrer Kollegen aus dem Orchester in den Bus steigen und für fünf Tage nach Mantua fahren, um dort am Konservatorium an einem Kammermusikkurs teilzunehmen. Sie habe es ihm mehrfach gesagt, zum ersten Mal sicher vor einem Jahr. »Nichts hast du mir gesagt«, sagte er, »wie immer, wenn du Schuldgefühle hast.« Außerdem: Wen interessiere schon Mantua? Andreas Hofer sei dort gefangen gehalten worden, das wisse er aus der Tiroler Landeshymne. Mehr falle ihm zu Mantua nicht ein. Und Kammermusik, das sei doch das, was man mit kleines Ensemble, wenig Publikum beschreiben könne.
Sie schaute ihm wortlos in die Augen. Natürlich hatte sie es ihm gesagt, er erinnerte sich wieder, und natürlich war er manchmal ein totales Ekel. »Entschuldige bitte«, sagte er. Sie sagte, dass sie schon wisse, wie unfasslich arm er sei, weil er ein paar Tage ohne sie durchkommen müsse. »Was heißt arm? Am Rande des Abgrunds!«, sagte er, und sie sagte, richtig, ein von der Ehefrau im Stich gelassener Psychiater befinde sich zwangsläufig in Lebensgefahr. Sie erzähle ihm jetzt auch nicht, dass sie mehrere Einzelstunden bei der schönsten Cellistin gebucht habe, die man derzeit finden könne, denn sonst komme er noch auf die Idee, mitzufahren. »Du meinst, die zweitschönste«, sagte er. Sie lachte. »Du Heuchler!« Er überlegte. Das könne dann eigentlich nur diese Argentinierin sein, sagte er.
»Nein, die ist es nicht.«
»Die andere geht nicht«, sagte er, »die ist tot.«
Ja, die andere sei tatsächlich tot. Die Argentinierin sei es nicht und die Tote auch nicht. Sie grinste.
Er schaute beleidigt. »Du kannst so gemein sein!«
Sie sei überhaupt nicht gemein — Gedankenlautwerden plus eine Namensfindungsstörung, wenn es um gutaussehende Cellistinnen gehe, wohin das wohl führe.
»Direkt ins Verderben!«, sagte er, »und in so einer Verfassung lässt du mich allein!«
Sie küsste ihn noch einmal. Sol Gabetta und Jacqueline du Pré — die Namen, die er ja sicher gewusst habe, sagte sie. Die Tote sei Jacqueline du Pré. Er legte seine Hände auf ihren Hintern. Multiple Sklerose, dachte er, diese du Pré hat multiple Sklerose gehabt, außerdem einen berühmten Dirigenten als Ehemann, und am Schluss ist sie im Rollstuhl gesessen und war völlig aufgeschwemmt vom Cortison. »Sehr traurig«, sagte Irene und blies warmen Atem in seine Halsbeuge. Die Medizin könne nicht alle retten, sagte er, auch wenn man das von ihr erwarte. Das sei schon klar, erwiderte sie, aber Feuermann umzubringen sei trotzdem nicht notwendig gewesen. Horn drückte seine Fingerkuppen in ihr Kreuzbein. Wie sie das meine: umbringen, fragte er. Emanuel Feuermann, sagte sie, der von vorhin, wahrscheinlich der beste Cellist, der jemals gelebt habe, habe den Gynäkologen seiner Frau gebeten, ihm die Hämorrhoiden zu operieren. Das sei ein Fehler gewesen. Schubert sei an der Syphilis gestorben und Feuermann an einem Frauenarzt, der ihn habe verbluten lassen. Das Schicksal zweier Götter.
»Gehst du mit mir schlafen?«, fragte er. Sie blickte prüfend auf seinen Unterkörper. »Nur, wenn du nicht unbedingt noch Sex haben willst«, sagte sie. Er nahm ihre Hand und legte sie auf seinen halberigierten Schwanz. »Wer will schon Sex haben?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie gingen über die Wiese zurück zum Haus. Im Augenwinkel nahm er wahr, dass an der Scheunenecke ein leerer Teller im Gras stand. Er ließ ihn stehen und dachte nicht weiter darüber nach. Vom Waldrand her gurrte eine Taube. »Glaubst du, werde ich vom Baum fallen, während du in Mantua bist?«, fragte er, bevor er die Haustür öffnete. Sie schaute ihn groß an. »Die Gefahr besteht natürlich«, sagte sie schließlich, »deine Fragen werden immer blöder.«
Eine Weile später lag Raffael Horn auf dem Rücken im Bett und lauschte den Atemzügen seiner Frau. Sie war auf der Stelle eingeschlafen. Er dachte daran, dass ihm die Art, in der sie von Musik erfüllt war, nie zur Gänze begreiflich werden würde. Trotzdem liebte er alles, was sie ihn davon sehen ließ, wie kaum etwas sonst, ihre Leidenschaft, ihre Verbissenheit, ihre Sehnsucht und manchmal diese unerbittliche Strenge. Er dachte an Michael, der in der Blasmusikkapelle von Mooshaim Trompete spielte, und an Tobias, den es genauso wenig dazu gedrängt hatte, ein Instrument zu lernen, wie ihn selbst. Er dachte an den rotbraunen Bugholzstuhl, der seit Jahren drohte, auseinanderzufallen, an die Notenstapel im Stall und an den Koffer, der dort stand, und er fragte sich, wie lange eine Busfahrt nach Mantua wohl dauerte.
Andrea Emler legte Horn die Zettel hin, die er zu unterschreiben hatte, einen nach dem anderen. Er hasse Unterschriftsmappen, hatte er ihr gleich am Anfang gesagt, er hasse das Wichtigtuerische an ihnen. Allein die Vorstellung einer Unterschriftsmappe erzeuge in ihm das Bedürfnis, sie ungeöffnet liegen zu lassen. Sie hatte sofort verstanden und die Mappe originalverpackt zurück ins Materialdepot geschickt. Die ärztlichen Überstunden des Vortages, einige Anträge auf Fortbildungsurlaub, die Honorarnote eines Juristen, der einen Vortrag über Familienrecht gehalten hatte, eine Rechnung über Kleinanschaffungen, Tischtennisschläger, ein neues Schachbrett, Schreibmaterialien, eine Schaumkelle für die Trainingsküche. Andrea Emler lächelte zufrieden, als sie den kleinen Stapel durchhatten. Am Schluss klebte sie ihm ein orangefarbenes Post-it auf den Handrücken. 11:30, Opferschutzgruppe stand drauf. Er strich sich über die Augen. »Mir bleibt auch gar nichts erspart«, sagte er. »Das sind doch arme Menschen«, sagte sie. »Ich bin auch arm«, gab er zur Antwort.
Er erkundigte sich nach Andrea Emlers Tochter, wie es in der Schule so laufe und wie es ihr nach dem Reitunfall gehe, bei dem sie sich vor einem Vierteljahr einen komplizierten Oberschenkelbruch zugezogen hatte. Sie sei Klassensprecherstellvertreterin und sitze schon wieder auf dem Pferd, erzählte Andrea Emler, sie wolle zirka wöchentlich über eine Taschengelderhöhung reden und ständig bei ihren Freundinnen schlafen. Wenn sie zu irgendetwas nein sage, brülle ihre Tochter, sie sei eine verbiesterte alleinerziehende Mutter, renne ins Zimmer und knalle die Tür zu. »Ich fürchte, zwölfjährige Mädchen sind so«, sagte Horn. »Ich fürchte, die Mütter von zwölfjährigen Mädchen sind auch so«, erwiderte Andrea Emler und grinste.
Es war ruhig. Manchmal fiel es ihm auf, wie sehr er sich offenbar akustisch orientierte, wenn er in Richtung Station ging. Kein Schreien, kein Weinen, kein lautstarker Konflikt. Auch keine Grabesstille. Murmeln. Sesselrücken. Schritte. Ab und zu ein Lachen. Die Stationstür unversperrt. So mochte er es.
Der Stützpunkt war ziemlich bevölkert. Günther und Katja schrieben Pflegeberichte, Christina bereitete einen Beutel Sondennahrung vor, und Karl, der Physiotherapeut, lehnte am Medikamentenschrank und erzählte etwas über seinen letzten Blechschaden. Leonie Wittmann stand neben ihm und hätte die Geschichte gern zu Ende gehört, wurde aber in diesem Moment zu einem dringenden Konsiliarbesuch gerufen. Hrachovec und Flora Altenburg hockten vor dem Schirm und kontrollierten die neuesten Laborbefunde. Horn versuchte ihnen über die Schulter zu schauen. »Irgendwas Besonderes?«, fragte er. Hrachovec wandte sich um. »Frau Pfeiffers Leberwerte sind zurückgegangen, der Kaliumspiegel unserer Melanie ist so niedrig wie erwartet, und Herr Wild hat einen ziemlich pathologischen Glukosetoleranztest«, sagte er. »Und Lisbeth Salander hat Kokain und MDMA im Harn, jeweils drei Kreuz positiv, aber das ist nichts Neues«, sagte Flora Altenburg. Horn brauchte eine Weile. »Lisbeth Salander?«, fragte er. »Unsere Lisbeth«, sagte Flora Altenburg, »die kleine Cerny.« Lisbeth Cerny habe sich angeschickt, neben der Severinbrücke zur Ache runterzuklettern, dort, wo der Fluss wirklich stark ströme. Sie habe gerufen, ihr Körper brenne, ob denn das keiner sehe, sie müsse augenblicklich ins Wasser. Zwei beherzte holländische Studenten hätten sie zurückgehalten und sich mit ihr unterhalten, bis die Polizei gekommen sei. Auf der Station sei sie nach wenigen Stunden praktisch symptomfrei gewesen, man kenne das von ihr. Sie sei vor kurzem abgeholt worden. »Abgeholt, von wem?«, fragte Horn. Von einer Betreuerin aus dem Jugendzentrum, sagte Flora Altenburg, groß, grauhaarig, sehr kompetent. Lisbeth habe beim Anblick der Frau ausgesprochen vergnügt gewirkt.
Raffael Horn erinnerte sich, wie sie im Zuge einer ihrer ersten Aufnahmen gemeint hatten, sie müssten auch den Vater Lisbeth Cernys in die Behandlung einbeziehen, und wie dieser storchenbeinige, rotgesichtige Mann auf die Frage, was er an seiner Tochter gut finde, laut gelacht und gesagt hatte, sie gleiche hundertprozentig ihrer Mutter, daher sei das einzig Gute an ihr, dass sie mit ihm nichts zu tun haben wolle. Die Sache mit den Drogen sei bedauerlich, aber wenn jemand wirklich verrecken wolle, könne man ihn ohnehin nicht aufhalten. Herbert, der trotz seiner eins fünfundneunzig und trotz seiner gewaltigen Körpermasse so etwas wie die Inkarnation der Friedfertigkeit im Pflegeteam war, hatte zu dem Mann am Schluss ihres Gesprächs gesagt, es sei günstig, dass er sich mit ihm nicht allein in einem Raum befinde, es sei nämlich schon vorgekommen, dass er sich irrtümlich auf Menschen draufgesetzt habe.
Lisbeths Mutter stand in einer Fabrik, die Kleinteile aus Aluminium herstellte, am Sortierband, hatte auf Grund ihrer Kreuzschmerzen eine Tablettenabhängigkeit entwickelt und war vor allem damit beschäftigt, die beiden jüngeren Halbgeschwister des Mädchens zu versorgen. Lisbeth war gerade erst sechzehn geworden. Sechzehnjährige brauchen Erwachsene, die sich um sie kümmern, dachte Horn, und wenn es da im Jugendzentrum jemanden gab, war das nicht die schlechteste Variante.
Um diese Jahreszeit legte sich am Vormittag die Sonne für einige Stunden in die Räume der Station. Horn mochte das, die Wärme und das weißgelbe Streiflicht, in dem der Staub in der Luft flirrte. Leute wie Raimund setzten demonstrativ die Sonnenbrille auf, aber das war ihm egal.
Die Visite verlief ohne besondere Vorkommnisse. Anna Levcik, die junge Frau, die im Fremdenverkehrsamt von Furth arbeitete, hatte sich von ihrer Panikattacke erholt und begann sich mit der Sinnhaftigkeit einer Medikamentenumstellung anzufreunden. Frau Tumler, ihre Zimmerkollegin, hatte begonnen, der Psychologin davon zu erzählen, dass sie in Wahrheit ihren ersten Limoncello schon zum Frühstück trank und der Alkoholkonsum ihrer Mutter etwas gewesen war, worüber nie jemand gesprochen hatte. Elfriede Pfeiffer war immer noch erschrocken darüber, wie gefährlich die dreißig Kopfwehtabletten gewesen waren, die sie geschluckt hatte, nachdem ihr die WhatsApp-Korrespondenz zwischen ihrem Ehemann und einer seiner Arbeitskolleginnen zugespielt worden war. Natürlich sei es Verzweiflung gewesen, viel mehr aber Empörung über diese Frau, von der sie sich nach mehr als zwanzig Ehejahren in Bezug auf das Genitale ihres Mannes nichts, aber auch schon gar nichts sagen lasse. Nein, vom Sterbenwollen könne keine Rede sein, noch viel weniger davon, dass sie es auf eine Lebertransplantation anlegen habe wollen. Das habe ihr nämlich dieser junge, pummelige Arzt unterstellen wollen. Zimmel, o Gott!, dachte Horn. Christina warf ihm einen strafenden Blick zu. Horn sagte zu Frau Pfeiffer, sie müsse das verstehen, der Kollege sei noch nicht so routiniert und habe sich offenbar große Sorgen um sie gemacht. Flora Altenburg versuchte das Lachen zu unterdrücken und bekam einen Hustenanfall.
Eugen Wild hatte die Außenjalousie runtergelassen und saß allein im Dunkeln. Horn zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. »Brauchen wir also doch den Richter?«, fragte er. Wild hob den Kopf. »Nein, wieso?«, fragte er. Horn wies zum Fenster. Das sehe nach wie vor nach Abschied von der Welt aus, sagte er, und wenn er mit diesem Eindruck recht habe, bleibe keine andere Möglichkeit als die Zwangsanhaltung. Nein, sagte Wild, er brauche das nicht schon wieder, den Richter und die Wichtigtuer von der Patientenanwaltschaft, er werde freiwillig dableiben, man könne beruhigt sein. Das Bedürfnis, sich unter den Betonmischwagen zu legen, sei verschwunden, und die Idee, das Ganze gehe von der Frau Ministerin aus, heiße doch nur, dem Trampel viel zu viel Bedeutung beizumessen. »Stellen Sie sich vor«, sagte Wild, »Sie haben zwei Söhne, denen stecken Sie immer wieder ein wenig Geld zu, auch wenn sie schon selbst eins verdienen, und sie nehmen es gern, und Ihnen macht es nichts, dass sie sich nur selten bedanken. Irgendwann kriegen Sie mit, dass die beiden, wenn sie nach dem Beruf ihres Vaters gefragt werden, herumdrucksen und nicht in der Lage sind zu sagen: Mein Vater ist Staplerfahrer. Da lässt du schon einmal die Jalousien runter und machst es dunkel.« Günther legte die Hand auf die Schulter Eugen Wilds. »Gehen wir eine rauchen?«, fragte er. Wild nickte. »Soll er aber nicht«, sagte Flora Altenburg. »Ich soll auch nicht«, sagte Günther und grinste.
Draußen auf dem Gang fragte Katja, ob man die Sache mit dem Zucker nicht hätte besprechen sollen. »Welcher Zucker?«, fragte Horn, und Katja sagte, den pathologischen Glukosetoleranztest. Der sei momentan zirka gleich wichtig wie, aufs Rauchen zu verzichten, sagte Horn. Günther nickte. Flora Altenburg schaute böse.
Horn blickte auf die Uhr. »Melanie geht sich nicht mehr aus«, sagte er. »Wieso nicht?«, fragte Christina. »Opferschutzgruppe«, sagte er. Melanie war siebzehn, wog achtunddreißig Kilogramm bei eins siebzig Körpergröße, und er hatte keine Lust auf sinnlose Streitereien, das war die Wahrheit. Sie erbrach auf Teufel komm raus, ließ sich Abführmittel ins Spital bringen und brachte andere Patientinnen dazu, für sie vom Spritzenwagen der Abteilung leere Ampullen zu stehlen, mit deren Hilfe sie dann über die Nasensonde ihren Mageninhalt absaugte. Nachts machte sie im Bett hunderte Sit-ups, um Kalorien zu verbrauchen. Konfrontierte man sie mit diesen Dingen, gab es jedes Mal ein großes Geheule: Ihr seid so gemein, wie soll ich gesund werden, wenn ihr mir nicht vertraut?!
Horn dachte an Irene, an die innige Leidenschaft, mit der sie essen konnte, daran, dass sie sich nach dem Sex manchmal ein Stück Schokolade in den Mund steckte, und daran, dass sie völlig aufs Essen vergaß, wenn sie musizierte. Geschichten über anorektische Patientinnen brachten sie augenblicklich in Rage, das war immer so gewesen, daher erzählte er sie ihr nicht mehr. Er wandte sich an Christina und Flora Altenburg. »Schafft ihr Melanie allein?«, fragte er. Christina warf ihm einen gewollt nachsichtigen Blick zu. »Geh nur zu deinen Opfern«, sagte sie.
Lili Brunner war allein. Sie hatte ihren Laptop zugeklappt, den Kopf auf die Hände gestützt und schaute aus dem Fenster. Horn stellte sich neben sie. »Schön habt ihr’s hier«, sagte er. Der Besprechungsraum der neu errichteten Hospizstation lag direkt über dem Abfluss der Ache, über jener Stelle, an der der Schilfgürtel endete und das Gefälle des Flusses zunahm. Man überblickte den See von der Biologischen Beobachtungsstation am Nordufer bis nach Mooshaim am westlichen Ende. »Die Patientenzimmer liegen alle auf dieser Seite«, sagte Lili Brunner, »wer bei uns stirbt, soll dabei nicht in einen Hinterhof schauen.« »Ich will auch einmal bei dir sterben«, sagte Horn.
»Blödsinn, du stirbst bei deiner Frau!«
»Sie verlässt mich gerade.«
Lili Brunner wandte ihm erschrocken das Gesicht zu. »Für fünf Tage«, sagte Horn und lachte. Sie schlug mit der Faust gegen seinen Oberarm. »Du kannst so ein Trottel sein!«, sagte sie. »Ich weiß«, sagte er. Außerdem wisse er, dass man übers Sterben keine Scherze mache, vor allem nicht auf einer Hospizstation. »Falsch«, sagte sie, »wo sonst.« Es gehe nicht ums Sterben, sondern ums Verlassenwerden. Darüber dürfe man sich nicht lustig machen. »Wenn alle weggehen, einer nach dem anderen«, sagte sie, »wenn am Schluss keiner mehr da ist, nur noch dieses Nichts, das schlimmer ist als bloße Einsamkeit, weil klar ist, dass einmal jemand da war« − darüber solle man keine Scherze machen. »Entschuldige«, sagte Horn. Diese kleine runde Frau, die schon als junge Assistenzärztin eine bemerkenswerte Kraft und Sicherheit besessen hatte, war innerhalb des Hauses zu einer Instanz in ethischen Fragen geworden. Selbst Leute wie Matyasek, der Chefarzt der Chirurgie, der von sich selbst sagte, er bevorzuge auch im persönlichen Leben den sauberen Schnitt als Lösung, suchten gelegentlich Rat bei ihr. Manche Leute schien sie aggressiv zu machen. Christina hatte gemeint, das liege daran, dass Heiligkeit eine spezielle Herausforderung sei, und Horn hatte daraufhin gesagt: Apropos Heiligkeit — ihm falle gerade auf, dass er Lili Brunner gegenüber noch nie eine sexuelle Regung gehabt hatte.
Horn saß da und fragte sich, warum sich ein siebzehnjähriges Mädchen an den Tod heranhungerte, warum es alles herauswürgte, was in ihm drin war, ob das Ganze mit Verlassenwerden zu tun hatte und was das Mädchen wohl sehen würde, wenn es hier am Fenster stünde. Irgendwann würde er mit Lili Brunner darüber reden wollen. Er wandte sich ihr zu. »Habe ich vor mich hin gesprochen?«, fragte er. »Nein, wie kommst du darauf?«, fragte sie und grinste scheinheilig.
Es gab nur einen angekündigten Fall. Cejpek, Oberarzt an der Internen, berichtete von einer vierundachtzigjährigen Frau, die unter dem Titel Verdacht auf Schlaganfall von zu Hause abgeholt worden sei. Üblicherweise wisse man bei Verdacht auf Schlaganfall schon alles: Der genervte Sohn sage zu seiner Ehefrau, mit der Mutter müsse etwas geschehen, ihre zunehmende Immobilität, die Neigung, zu stürzen, und dazu noch die ständige Nörgelei − sie solle doch die Rettung rufen, wozu habe man denn ein Krankenhaus. Die Frau greife zum Telefon — meine Schwiegermutter kann sich nicht mehr auf den Beinen halten, ja, sie fällt hin, immer auf die gleiche Seite, immer nach rechts — und schon stehe es da: Verdacht auf Schlaganfall, linkshirnig. Hier sei es anders gelaufen, die Anruferin habe anonym bleiben wollen, habe gesagt, sie beobachte die Sache schon länger. Am Vortag habe sie gesehen, wie die Frau versucht habe, aus dem Rollstuhl aufzustehen, dabei aber ohne jeden Halt zu Boden gerutscht sei. Sie sei dann stundenlang auf der Terrasse gelegen, ein Bild des Jammers, und als der Sohn endlich gekommen sei, habe er zuallererst herumgeschrien. Er habe irgendetwas von Tabletten gebrüllt, vom Anbinden und dass sie daliege wie eine Kröte. Die Anruferin sei ziemlich aufgeregt gewesen, habe man in der Rettungsleitstelle notiert. Der Mann habe die Leute vom Rettungsdienst anfangs nicht ins Haus lassen wollen, sondern gesagt, es müsse sich um einen Irrtum handeln, mit seiner Mutter sei alles in bester Ordnung, sie schlafe bloß. Als die Notärztin daraufhin gesagt habe, wenn das so sei, müsse sie die Polizei verständigen, sei der Mann allerdings auf der Stelle völlig eingeknickt und habe zu weinen begonnen. Die Frau habe sich in einer desolaten Verfassung befunden: Haare, Haut, Zähne, er erspare ihnen die Details, sagte Cejpek. Die Medikamente gegen ihre Herzinsuffizienz habe sie wahrscheinlich monatelang nicht eingenommen, es sei ein Wunder, dass sie überhaupt noch Luft bekommen habe. An den Unterarmen habe man Schnürfurchen gefunden, wahrscheinlich sei sie nachts mit irgendwelchen Tüchern an den Bettrahmen gefesselt worden. »Helft ihm«, unterbrach Lili Brunner Cejpeks Bericht. »Ihm?«, fragte Cejpek überrascht. Ja, ihm, dem Sohn, sagte Lili Brunner. Die Angelegenheit sei als schwere Verwahrlosung zu werten, keine Frage, besitze daher auch einen Misshandlungsaspekt. Das wahre Problem scheine aber das Festhängen des Mannes an seiner Mutter zu sein. »Irgendwann merkst du, sie hat dir nie gezeigt, wie du loskommst von ihr«, sagte sie, »und da fängst du an, sie zu bestrafen.« Cejpek schaute sie groß an. »Du denkst jetzt, ich bin eine Täterversteherin«, sagte sie. Er überlegte, dann nickte er. »Irgendwie schon«, sagte er. Loskommen sei das Wichtigste im Leben, sagte Lili Brunner, das werde oft übersehen. »Wenn dich etwas nicht loslässt, musst du es amputieren«, sagte sie, »und wenn es die eigene Mutter ist.« Sie klinge wie eine böse Chirurgin, sagte Cejpek, und Lili Brunner erwiderte, sie versuche das als Kompliment zu nehmen, auch wenn es aus dem Mund eines Internisten komme.
Sie einigten sich darauf, über den sozialen Stützpunkt eine tägliche Heimhilfe und die mobile Krankenpflege zu aktivieren und dafür zu sorgen, dass der Mann eine kompetente Ansprechperson erhielt. Auf eine Verständigung der Polizei oder des Pflegschaftsgerichtes wolle man verzichten.
Horn war dabei, über die eigenartige Dialektik von Loskommen und Verlassenwerden nachzudenken, über Söhne, die nichts weiterbrachten, und über Ehefrauen, die nach Italien abhauten, um angeblich Kammermusik zu machen, als die Tür aufschlug und Leonie Wittmann hereinstürmte. »Hier ist Opferschutzgruppe«, sagte Cejpek streng. »Ich weiß«, sagte sie und setzte sich an den Tisch, »deswegen bin ich da.«
Sie sei auf die Intensivstation gerufen worden, erzählte sie, zu einer einundneunzigjährigen Frau, einer Klosterschwester, die seit einiger Zeit mit zwei annähernd gleich alten Kolleginnen im Pensionistenheim in Waiern wohne. Von dort habe man sie am Vorabend akut ins Krankenhaus gebracht, graublau im Gesicht und kaum noch atmend. Man habe zuerst an eine Lungenembolie gedacht, doch dann rasch gesehen, dass es sich um eine massive Aspiration von Mageninhalt, also von Nahrung, gehandelt habe. Man habe großkalibrig abgesaugt und jede Menge von dem Zeug aus Mund, Rachen und Luftröhre befördert. Danach sei es der Frau deutlich besser gegangen, körperlich zumindest. Sie habe spontan geatmet, die Alveolarbelüftung habe gepasst, und von der zu erwartenden Lungenentzündung sei noch nichts zu merken gewesen. Geschlafen habe sie allerdings nichts. Sie sei die ganze Nacht hindurch mit weit aufgerissenen Augen im Bett gelegen und habe abwechselnd laut gebetet und Dinge von sich gegeben, die man auf Grund der Sauerstoffmaske nicht verstanden habe. Sie habe gewirkt wie die personifizierte Angst, vor allem, sobald sich jemand ihrem Bett genähert habe. Schließlich habe man beschlossen, den Psychiater zu holen. Vielleicht gebe es etwas zur Beruhigung, etwas, das auch eine Neunzigjährige vertrage.
Dass die Frau sie angeschaut habe, als sei sie der Teufel persönlich, habe sie auch mit der Maskenpflicht an der Intensivstation in Zusammenhang gebracht, erzählte Leonie Wittmann, daher habe sie verbotenerweise den Mundschutz abgenommen und sich ans Bett gesetzt. Nach einer Weile habe die Frau nach ihrem Arm gegriffen und begonnen, stereotyp einen Satz zu sagen: »Ich hab genug. Ich hab genug. Ich hab genug.« Auf die Frage, wovon sie genug habe, habe sie nicht geantwortet. Auch sonst habe sie kein Wort von sich gegeben, nicht einmal ihren Namen. Sie, Leonie Wittmann, sei einfach sitzen geblieben, zehn Minuten lang. Sie habe keine Fragen mehr gestellt. Am Schluss habe sie den Eindruck gehabt, die Frau habe sich ein wenig beruhigt.
Von Nala Prinz, der ärztlichen Leiterin der Intensivstation, habe sie erfahren, dass die Frau Notburga heiße, Schwester Notburga, außerdem, dass es im Zusammenhang mit der Aspiration zwei bemerkenswerte Details gebe. Erstens habe man bei der Inspektion nach der bronchoskopischen Absaugung in der Mundhöhle der Frau, an den Wangeninnenseiten, am Gaumen und an der Rachenhinterwand, Schleimhautblutungen entdeckt, so, als sei dort jemand mit einem harten Gegenstand zugange gewesen, mit einem Spatel zum Beispiel oder einem Löffel, kräftig jedenfalls. Zweitens sei im Heim an diesem Abend Fenchelrisotto serviert worden. Das Material, das man aus der Frau herausbefördert habe, sei unspezifisch breiig gewesen. Es habe keinen Fenchel enthalten und auch kein einziges Reiskorn. Es habe eigenartig gerochen, aber das tue bald einmal etwas, das sich im Magen eines Menschen befunden habe.
»Warten«, sagte Lili Brunner, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, »einfach warten. Der Schrecken wird verblassen, und sie wird reden.« Sie wird nicht reden, dachte Horn, zumindest nicht das, was wir von ihr wollen. Sie wird lächeln, fromm die Hände falten und sagen, es sei in Wahrheit doch gar nichts passiert. »Warum glaubst du das?«, fragte Leonie Wittmann. Die Angelegenheit erinnere ihn an jemanden, sagte Horn, derjenige habe allerdings mit Klosterschwestern und Aspirationszwischenfällen nichts zu tun. »Sondern?«, fragte Leonie Wittmann. Mit einem Sturz vom Baum, sagte Horn, und eben damit, dass doch eigentlich gar nichts passiert sei. Nala Prinz sei das offenbar egal, sagte Leonie Wittmann. Sie, eine bekanntermaßen sehr entschlossene Kollegin, habe die Sache auf der Stelle angezeigt. Daher werde sich auch die Polizei mit dem Schweigen der Schwester auseinandersetzen müssen. Mit dem Zeug aus ihrer Luftröhre übrigens auch. Das habe sie nämlich an die Gerichtsmedizin geschickt.
Cejpek stand auf, um sich zu verabschieden. Er habe noch eine ganz banale Frage, bevor er gehe, sagte er. Weshalb wohne diese Frau eigentlich in einem Seniorenheim und nicht in einem Kloster. Nala mit ihrer Konsequenz habe das in der Direktion des Altenheimes recherchiert, erzählte Leonie Wittmann. Der Orden, irgendeine x-te Kongregation der Franziskanerinnen, sei in Österreich kaum noch vertreten, könne daher die Betreuung der betagten Nonnen selbst nicht mehr übernehmen, habe es geheißen. Daher habe man das auf diese Weise arrangiert. Außerdem habe man die Ordensfrauen im hohen Alter nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen wollen. Alle drei hätten über Jahrzehnte in einem Kinderheim in der Nähe von Mooshaim gearbeitet, ein Heim, das eigentlich nur für Buben bestimmt gewesen sei. Allerdings habe es da ein Nebengebäude gegeben, in dem eine Zeitlang auch Mädchen gelebt hätten. Man habe es das Schlösschen genannt.
»Die Burg und das Schlösschen«, sagte Horn. Das klinge romantisch, sagte Lili Brunner, und Leonie Wittmann erwiderte, sie wisse nicht, ob romantisch das richtige Wort für ein Kinderheim sei. Der Assistent meines Sohnes lebt in der Burg, dachte Horn. Er griff sich intuitiv an den Mund und bereitete sich darauf vor, dass ihn eine der beiden Kolleginnen fragen werde, wofür sein Sohn einen Assistenten brauche. Es kam jedoch nichts.
Das rechte Hinterrad des Volvo lief unrund, das war in den Kurven, die zum Haus hinaufführten, deutlich zu spüren. Die Schaltung hakte, am ärgsten zwischen drittem und viertem Gang, und die Öldrucklampe leuchtete auf, wann es ihr grad passte. Gib die alte Schrottkiste endlich her, forderte Irene in regelmäßigen Abständen. Er sagte drauf, er denke nicht daran, der Wagen sei erst zwölf Jahre alt, für einen Volvo sei das gar nichts, außerdem — wo finde man heutzutage schon ein Auto, das vier Handkurbeln für die Fenster besitze, aber auf der Autobahn locker zweihundert gehe, ganz ohne Bleifuß. Sie verdrehte die Augen, sagte, sie werde sich einen Liebhaber mit einem Ferrari oder einem fetten Mercedes suchen, und er sagte drauf, am besten vielleicht gleich einen Autohändler, er kenne da ein paar besonders sympathische Exemplare.
Das eiernde Motorengeräusch, das in der Luft lag, als er aus der Garage trat, war ihm vertraut. Trotzdem brauchte er eine Sekunde, um es richtig zuzuordnen. Eine Mischmaschine. Er querte den Vorplatz, ging die Scheune entlang bis an ihr Ende und bog um die Ecke.
Er sah, dass zwei Löcher in die Wiese gegraben worden waren, beide in einer gedachten Verlängerung der Scheunenfirstlinie, das eine geschätzte fünf, das andere zehn Meter von der Stirnseite der Scheune entfernt. Die Öffnungen waren quadratisch mit ungefähr einem Meter Seitenlänge und jeweils bis zwanzig Zentimeter unter die Bodenkante mit Rollschotter gefüllt. Ein Stück dahinter stand Tobias an der Mischmaschine. Er war dabei, aus einem aufgerissenen Sack Zement in die rotierende Trommel zu schaufeln, und kehrte Horn dabei den Rücken zu. Horn trat an die Maschine und schaltete den Motor ab. Tobias wandte sich erschrocken um. »Was machst du da?«, rief er. »Das Gleiche könnte ich dich fragen«, sagte Horn. »Du siehst genau, was ich mache«, sagte Tobias.
»Du scheinst zu arbeiten«, sagte Horn, »das ist der erfreuliche Teil der Antwort.«
»Und der unerfreuliche?«
»Du gräbst Löcher in meine Wiese und hast offenbar vor, sie mit Beton zu füllen!«
Tobias stieß die Schaufel in den Sandhaufen, der neben der Mischmaschine aufgeschüttet worden war. »Wie meinst du das?«, fragte er. Er habe Beton in der Wiese nicht so gern, antwortete Horn. Er meine etwas anderes, sagte Tobias, Horn habe meine Wiese gesagt. Ob er jetzt vorhabe, seine väterliche Macht über Besitzverhältnisse auszuspielen. Horn tat einen Schritt nach vorn und drückte auf den Kippschalter der Mischmaschine. Die Trommel begann sich lärmend zu drehen. Ja, dachte er, ich bin für Besitzverhältnisse, und noch mehr bin ich für die Ausübung väterlicher Macht.
Irene packte. Horn stand in der Tür zum Schlafzimmer und schaute zu, wie sie Unterhosen und T-Shirts zusammenfaltete und in den Koffer legte. »Du fehlst mir jetzt schon«, sagte er. »Übertreib nicht«, antwortete sie. »Doch«, sagte er, »wenn ich mir dich in dieser silbergrauen Unterhose mit den kleinen schwarzen Punkten vorstelle, fehlst du mir.« Sie ergriff ein Paar Socken und warf es nach ihm. »Du Heuchler«, sagte sie.
Er fragte, ob sie gesehen habe, was Tobias hinter der Scheune mache. Kunst, sagte sie − so behaupte er zumindest, und für Kunst gebe es von ihrer Seite leider jedes Verständnis. Horn fragte, um welche Art von Kunst es sich handle, wenn man Löcher in eine Wiese grabe und danach mit Schotter und Beton fülle? Irene zuckte mit den Schultern. Tobias habe gesagt, er habe ein Projekt, sagte sie, und Horn erwiderte, das sei ihm schon klar − den Vater in den Selbstmord zu treiben, um dann vom Erbe zu leben. Irene legte einen dunkelblauen Pulli mit Strassbesatz und einen grauen mit einem Snoopy-Porträt nebeneinander aufs Bett. Horn zeigte auf den blauen. »Warum den?«, fragte sie. Weil er den mit dem Snoopy den Italienern nicht gönne, sagte er.
»Tobias hat vor, sich an einer Kunstuniversität zu bewerben«, sagte sie.
»Das meinst du jetzt nicht im Ernst.«
Doch, im Zusammenhang mit Kunst meine sie immer alles ernst. Tobias habe ihr zwar nicht gesagt, wo er sich bewerben wolle, sehr wohl jedoch, dass er es mit einem zweiteiligen Projekt tun werde. Es solle Elemente von Kunst im öffentlichen Raum und von klassischer Skulptur enthalten. So habe es ihm sein Lehrer geraten. »Welcher Lehrer?«, fragte Horn. Sie kenne ihn nicht, sagte Irene, sie glaube, er heiße Malek.
Horn setzte sich auf den Stuhl, der neben seiner Bettseite stand. Mein Sohn spinnt, dachte er, mit zehn hat er Comics gezeichnet, mit sechzehn hat er sich gegen den Zeichenunterricht entschieden, und jetzt spricht er von Kunst im öffentlichen Raum. »Du traust ihm nichts zu«, sagte Irene, und er dachte, dass sie wahrscheinlich recht hatte. Er hatte ihm noch nie etwas zugetraut.
Irene Horn klappte den Koffer zu. Er brauche nicht in Panik zu geraten, sagte sie, sie sei mit der Packerei noch längst nicht fertig. Ihr sei übrigens eingefallen, dass sie zuletzt vergessen habe, ihm den Namen der Cellistin zu verraten, bei der sie in Mantua Einzelstunden nehmen werde. Die Frau heiße Anne Gastinel und komme aus Lyon. Er solle sie ruhig googeln und sich am besten auf YouTube ihre Aufnahme der Cellosuiten von Bach anhören − eleganter habe man sie seit Pierre Fournier nicht gehört.
Horn saß da und betrachtete den Koffer, der geschlossen auf dem Bett lag. »Du bist in Gedanken ganz woanders«, sagte Irene. Er hob den Kopf. »Stimmt«, sagte er. Sie solle ihn nicht für blöd halten, sondern versuchen, sich für einen Augenblick eine neunzigjährige Klosterschwester vorzustellen. Die Frau liege auf dem Rücken im Bett, mit schreckensgeweiteten Augen und vollkommen stumm. Wovor könne sie solche Angst haben. Irene blickte an die Wand hinter ihm. »Vor der Hölle«, sagte sie, »wovor sonst?«