Sie sitzt da und löffelt Fruchtjoghurt. Ich habe gefragt, was sie zwischendurch essen möchte, und sie hat gesagt, Fruchtjoghurt mit Erdbeergeschmack. »Essen Kinder heutzutage noch Fruchtjoghurt mit Erdbeeren?«, habe ich gefragt. Sie hat mich strafend angeschaut und gesagt, was denn sonst. »Hättest du Waffeln oder Hohlhippen gewollt?«, frage ich. Sie schaut mich noch einmal streng an und sagt, Waffeln oder Hohlhippen gehören zu Eis und nicht zu Joghurt, das wisse doch jeder.
»Es scheint dir zu schmecken«, sage ich, und sie sagt noch einmal, was denn sonst. Sie finde es seltsam, dass Erwachsene so eine Freude daran hätten, wenn es Kindern schmecke. »Wenn du fertig bist, werde ich dir etwas erzählen«, sage ich. Sie schaut in ihren Becher und sagt: »Ich will aber nicht.« »Es muss sein«, sage ich. Sie sagt: »Ich weiß ja nicht einmal, wie du heißt«, und ich sage: »Ich bin dein Entführer.« Tränen steigen ihr in die Augen. »Namen sind nicht so wichtig«, sage ich, »ich bin dein Entführer, und der dünne Mann ist der dünne Mann. Das muss genügen.« Ich denke an das Haus in der Fürstenaustraße, hoch über dem See, an den großen Garten, an Urlaube am Roten Meer und in den französischen Alpen und daran, dass manche Kinder Eltern mit einer Firma haben, die Aluminiumprofile herstellt. Sie sagt, vor dem dünnen Mann habe sie Angst, sie sei sich sicher, dass er ihr das Ohr abschneiden werde. »Er ist in manchen Dingen sehr genau«, sage ich, »aber nicht bösartig.« Ich warte darauf, dass sie mir sagt, das sei sicher wieder gelogen.
Der Schlafsaal, sage ich − das Haus habe mehrere wichtige Räume gehabt, der Separationsraum sei einer davon, die Schlafsäle seien auch wichtig gewesen. Sie hebt den Kopf und sagt, sie wisse nicht genau, was das sei, ein Schlafsaal. Ich erzähle ihr, dass es in jedem Stockwerk einen Schlafsaal gegeben habe, mit jeweils zweiunddreißig weiß lackierten Stahlrohrbetten, vier Reihen zu je acht, mit beige-weiß gestreiften Matratzen, die älteren mit Federkern und Rosshaarfüllung, die neueren aus Schaumstoff. An der einen Wand des Saals seien die Spinde gestanden, für jedes Kind einer, aus Blech, wie beim Militär. Sie fragt, was ein Spind sei, und ich sage, etwas für die Kleidung. Sie zeigt auf den Kleiderschrank und fragt: »So etwas?« Ich sage, im Prinzip ja, aber kleiner. »Noch kleiner?«, fragt sie, und ich sage, ja, noch kleiner, die Kinder hätten damals nicht so viele eigene Sachen gehabt. Die Leintücher seien weiß gewesen — man habe in die Ecken einen Knoten gemacht und sie über die Matratzen gespannt —, die Decken- und Polsterbezüge hell türkis mit feinen weißen Streifen. »Das ist fad«, sagt sie, sie selbst habe eine Hello-Kitty-, eine Mond-und-Sterne- und eine Pocahontas-Bettwäsche. Pocahontas sei altmodisch, aber ihre Mutter sage, das mache nichts.
Der Bub habe das erste Bett in der zweiten Reihe gehabt, gleich neben der Tür, erzähle ich. Sie fragt, welcher Bub, und ich sage, Otto. »Ein komischer Name«, sagt sie. Ich sage, damals habe man den Kindern andere Namen gegeben als heute, vielleicht habe auch sein Vater Otto geheißen, oder es sei ihnen kein besserer Name eingefallen, denn in Ottos Familie hätte schon eine Handvoll Kinder gelebt. Der Bub sei in die erste Klasse Hauptschule gegangen, sei also ein wenig älter gewesen als sie. Eines Tages habe nach dem Unterricht ein Polizeiauto vor der Schule gehalten. Der Bub habe einsteigen müssen, und die anderen Schüler hätten gesagt, endlich, dafür, wie dreckig er sei, sei es hoch an der Zeit, dass man ihn einsperre. Er sei auf die Bezirkshauptmannschaft gebracht worden. Dort habe ihm die Sozialarbeiterin des Jugendamtes erzählt, der älteste seiner Brüder sei auf dem Polizeiwachzimmer aufgetaucht und habe erzählt, was sein Vater mit ihm und seinen Geschwistern mache, wenn er zornig oder betrunken sei. Die Sozialarbeiterin habe ihn, Otto, gefragt, ob er kurz sein Hemd hochziehen wolle. Sein Bruder habe das auch getan.
Das Mädchen schaut mich mit großen Augen an. »Und?«, fragt es. Er habe es gemacht, sage ich. Danach habe man den Buben ins Heim gebracht, einfach so und ohne noch einmal zu Hause vorbeizufahren. Im Heim habe man ihn gefragt, ob er Bettnässer sei. Er habe ratlos geschaut, daher habe man ihm erklärt, ein Bettnässer sei jemand, der nachts das Leintuch nass mache. Als er daraufhin den Kopf gesenkt und keine Antwort gegeben habe, habe man ihm das Bett gleich neben der Tür zugeteilt.
»Hat er es nass gemacht?«, fragt sie. Ich sage, ja, aber das sei nicht das Hauptproblem gewesen. »Sondern?«
Schon am zweiten Abend habe er versucht wegzulaufen, sei aber noch vor dem Tor des Heimgeländes von einem Erzieher eingefangen und zurückgebracht worden. Man habe ihm gleich den Kopf geschoren. »Wieso?«, fragt sie. Um ihm das Ausreißen schwerer zu machen, sage ich, ein Kind mit Glatzkopf falle überall auf. Es habe allerdings nichts genützt. Der Bub habe es schon wenige Tage später wieder probiert und danach wieder und wieder. Am Schluss habe er es geschafft, in Furth in einen Schnellzug zu steigen und bis nach Graz zu kommen. Danach — es habe sich um seinen sechsten Versuch gehandelt — sei der Einzug in Jerusalem beschlossen worden.
Sie schaut verwirrt. »Du kennst es vielleicht aus der Kirche oder aus dem Religionsunterricht«, sage ich, »Jesus auf dem Maultier und links und rechts die Leute, die Palmzweige schwenken und ihm zujubeln.« Sie nickt.
»Otto haben sie auch zugejubelt«, sage ich. Sie fragt, wer, welche Leute, und ich sage, die anderen Kinder. Sie hätten nach dem Abendessen im Mittelgang des Schlafsaals Aufstellung genommen und ein Spalier gebildet, links und rechts. Ob sie wisse, was ein Spalier sei. Sie nickt erneut. »Wie bei der Hochzeit«, sagt sie, und ich sage, ja, wie bei der Hochzeit. Jeder habe eine zirka zwei Meter lange Weidenrute in die Hand gedrückt bekommen. Jimi habe die Ruten am Tag zuvor zum Einweichen ins Hofbrunnenbecken gelegt gehabt. Jimi sei der Weidenrutenspezialist unter den Erziehern gewesen, Mannstein der Kommandant. Mannstein habe den Buben angewiesen, sich bis auf die Unterhose auszuziehen. Als der Bub nackt neben ihm gestanden sei, habe Mannstein einen Blick auf seine Schultern und seinen Rücken geworfen. Er habe eine Augenbraue hochgezogen, gegrinst und gesagt, es scheine so, als habe er mit gewissen Dingen schon ein wenig Erfahrung. Die beiden seien nebeneinander in der Schlafsaaltür gestanden, bis Jimi mit der Rutenverteilung fertig gewesen sei. »Ein Lied!«, habe Mannstein gerufen, und sie hätten alle ein fröhliches Lied angestimmt — »Ein Vogel wollte Hochzeit halten«. In diesem Moment habe Mannstein dem Buben einen Schubs gegeben. Der Bub sei nach vorn gestolpert, in das Weidenrutenspalier hinein. Mannstein habe gerufen: »Hände vors Gesicht!«, und der Bub habe die Unterarme vor sein Gesicht gehoben. Nach zwei, drei Schritten seien die ersten Schläge auf ihn niedergesaust. Pro Strophe einmal hin und her, so sei es gewesen, sage ich, während der Strophenzeile in die eine Richtung, während des Refrains in die andere. Der Sperber, der Sperber, der war der Hochzeitswerber, fiderallala, fiderallala, fiderallalalala. »Die Gänse und die Anten«, sage ich. »Das war’n die Musikanten«, sagt sie. »Der Uhu, der Uhu«, sagt sie. »Der macht die Fensterläden zu«, sage ich.
Wir schweigen eine Weile, dann fragt sie, ob es ihm ein wenig Spaß gemacht habe. Ich sage, nein, es habe ihm gar keinen Spaß gemacht. Sie fragt noch, wie dick die Ruten waren. Ich sage, so dick wie ihre Finger. »Wie der kleine?«, fragt sie, und ich sage, ja, manche so dick wie der kleine. Sie betrachtet ihre Hände. »Wenigstens hat er aufgehört«, sagt sie schließlich. »Womit hat er aufgehört?«, frage ich. »Mit dem Weglaufen«, sagt sie. »Nein, hat er nicht«, sage ich. Sie schaut mich groß an. »Ist er tot?«, fragt sie. Ich sage, nein, er sei nicht tot, warum sie das glaube. »Einfach so«, sagt sie.
Ich erzähle, dass der Bub noch einige andere Dinge bekommen habe, die Decke zum Beispiel. Welche Decke, fragt sie, und ich sage, es sei im Grunde ganz ähnlich gewesen wie beim Einzug in Jerusalem: der Schlafsaal, der breite Mittelgang, die anderen in einem Kreis um den Buben. Er habe sich auf den Boden kauern müssen, die Arme um den Kopf gelegt. Die anderen hätten ein paar Decken über ihn geworfen, Mannstein habe das Kommando gegeben, und die anderen hätten mit den Fäusten auf ihn eingeprügelt. Manche hätten auch die Füße verwendet. Sie fragt, welches Lied sie gesungen hätten. Ich sage, dass ich nicht wisse, ob bei der Decke überhaupt gesungen worden sei. »Mannstein war der Oberste«, sagt sie. Ich sage: »Nein, Mannstein war der Kommandant.« »Und wer war der Oberste?«, fragt sie. Ich sage: »Der Direktor.«
Ich stehe auf und sage, dass ich jetzt ihr Gedicht holen werde. Sie schaut an die Wand hinter mir. Das Gedicht, sage ich noch einmal, vielleicht habe sie es schon auswendig gelernt. Jetzt schaut sie mich an. »Wenigstens hat er nichts gesehen«, sagt sie. »Wer?«, frage ich. Der Bub, sagt sie, unter der Decke.