Die Heckklappe wippte in letzter Zeit auffällig, wenn man sie hochhob, rauf runter rauf runter. »Irgendwann wird sie dir auf den Kopf knallen«, hatte Irene schon mehrmals gesagt. Es gebe einen schlimmeren Tod, als von der Heckklappe eines alten Volvo erschlagen zu werden, gab er zur Antwort.
Raffael Horn schob den bordeauxroten Cellokoffer in den Kofferraum, danach Irenes Reisegepäck. Sie stand daneben und beobachtete jeden seiner Handgriffe. »Keine Sorge, ich passe schon auf«, sagte er. »Ich weiß«, sagte sie.
»Warum schaust du dann so?«
Erstens schade es nichts, wenn man den Ehemann kontrolliere, sagte sie, und zweitens sei es nett, zu sehen, wie vorsichtig er mit den Dingen umgehe, die ihr viel bedeuteten. »Das nächste Mal machst du es selber«, sagte er. Sie warf ihm eine Kusshand zu.
Er schloss die Klappe. Danach lehnten sie nebeneinander am Auto und schauten in den Nachthimmel. »Welches Sternbild soll ich dir erklären?«, fragte sie nach einer Weile. »Die Ziege«, sagte er.
»Die Ziege?«
»Ja. Kennst du sie nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Chinesisch«, sagte er, »oder den Tintenfisch.« Den kenne sie auch nicht. »Dann den Maulwurf«, sagte er. »Du kannst so was von blöd sein«, sagte sie. Die Cellospielerin, sagte er, das sei sein Lieblingssternbild, vor allem die Ohren, jedes Ohr ein eigenes Sternchen. Sie boxte ihn in die Seite. Er fasste ihren Oberarm, neigte sich zu ihr und küsste sie. »Welcher Trottel hatte denn die Idee, um drei Uhr nachts abzufahren?«, fragte er. Reinhold Haberfellner, sagte sie, der junge Posaunist, der den Bus lenken werde. Seinem Onkel gehöre das Transportunternehmen, daher werde sie die Fahrt, abgesehen vom Treibstoff, auch nichts kosten. Ein Posaunist, der gern im Finsteren fährt, sagte er, und sie sagte, ja, im Übrigen ein ganz hervorragender Posaunist.
Auf der Uferstraße kamen ihnen zwei LKWs entgegen, ansonsten gab es keinen Verkehr. Der See lag spiegelglatt vor ihnen. »Susanne fährt jetzt doch mit«, sagte Irene. »Welche Susanne?«, fragte Horn. »Susanne Munch«, sagte sie, »unsere erste Klarinette.« Susanne sei die Instrumentallehrerin von Elvira Helbich. Die Entführung der Kleinen habe sie sehr mitgenommen, und sie habe überlegt, zu Hause zu bleiben. Das bringe das Mädchen auch nicht zurück, sagte Horn. Er finde es im Übrigen bemerkenswert, dass man mit einer derartigen Sicherheit von einer Entführung ausgehe. »Was meinst du?«, fragte sie. »Keine Ahnung«, sagte er.
»Du glaubst, sie ist tot, oder?«
Er wisse nicht, was er glauben solle, sagte er, das, was man spurlos nenne, erzeuge zwangsläufig ein ungutes Gefühl. »Ihr Ärzte denkt immer gleich an den Tod«, sagte sie. Er nickte und gab sonst keine Antwort.
»Wirst du die Blumen gießen?«, fragte Irene Horn, als sie auf den Stiftsparkplatz einbogen, »die Rhododendren, die Fuchsien, den Hibiskus?« Er zog erst die Augenbraue hoch, dann grinste er und sagte: »Nein, natürlich nicht.« »Entschuldige«, sagte sie, »aber ich muss diese Fragen stellen. Wirst du die Erdbeeren ernten?« »Ich werde die Erdbeeren verfaulen lassen«, sagte Horn, »ich werde darauf achten, dass die Blumen verdursten, vor allem die Fuchsien, die mag ich nicht, wie du weißt, und die Milch wird sauer werden, weil ich vergessen werde, sie in den Kühlschrank zu stellen.« Sie schaute ihn schuldbewusst von unten an. Jetzt sei sie beruhigt, sagte sie. Eins habe er vergessen, sagte er, »unseren Sohn werde ich verhungern lassen«, aber das sei ihr sicher klar gewesen. Das habe sie selbst schon mehrmals mit aller Kraft versucht — zumindest wenn man Tobias glaube —, sagte sie, und nie sei es ihr gelungen. Sie wisse nicht, von wem er die Fähigkeit habe, aber Tobias sei ein Meister der Selbstfürsorge.
Eine Gruppe von Leuten stand neben einem kleinen Mercedes-Bus mit abgedunkelten Scheiben. »Bitte, bleib nicht bis zur Abfahrt!«, sagte sie, bevor sie aus dem Volvo stiegen. »Warum nicht?« Das Gewinke sei ihr immer schon peinlich gewesen, sagte sie, und er sagte, sie benehme sich wie eine pubertierende Zwölfjährige.
»Was werdet ihr dort eigentlich spielen?«, fragte er, während er den Cellokoffer auslud. Vor allem Vivaldi, sagte sie, wie es sich in Italien gehöre, eine der Orchestersuiten von Bach, eventuell Haydn. Vivaldi sei doch auch Arzt gewesen, sagte er − wenn man seine Musik höre, sei der Tod gar nicht zu spüren. »Du spürst vielleicht den Tod nicht, wenn du Vivaldi hörst«, sagte sie. Nebstbei sei Vivaldi Priester gewesen und nicht Arzt. »Und wer von denen ist der Posaunist?«, fragte er halblaut. Irene zeigte auf einen untersetzten jungen Mann mit schwarzem Pferdeschwanz. »Da bin ich schon beruhigt«, sagte er. Wieso, fragte sie, und er sagte, weil der Mann garantiert nicht ihr Typ sei. Sie fragte, ob er dazu neige, sich von Posaunisten gefährdet zu fühlen, und er sagte, tendenziell fühle er sich von allen Männern gefährdet.
»Immer noch? Nach mehr als dreißig Jahren?«
»Ja, immer noch«, sagte er, wenn man sich für eine schöne Frau entschieden habe, höre das nie auf. Sie lachte und tupfte ihm mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Rigoletto spielt in Mantua«, sagte er. »Woher weißt du das?«, fragte sie. »Ich habe nachgelesen«, sagte er, »die Geschichte eines traurigen alten Mannes.«
Sie gingen zum Bus, begrüßten die Leute und schoben Cello und Koffer ins Gepäckfach. »Legst du dich noch einmal ins Bett?«, fragte sie, nachdem sie einander zum Abschied umarmt hatten. Er blickte in Richtung See. Über der Kammwand war ein heller Dämmerungssaum zu sehen. »Ich glaube, ich werde auf den Berg gehen«, sagte er. »Um drei Uhr nachts?«, sagte sie, »du spinnst.« Ja, vielleicht, sagte er, andererseits sei es untertags dafür eindeutig zu heiß.
Eine Stunde später stieg Raffael Horn durch den Buchenwald oberhalb von Sankt Christoph bergan. Er hatte schon einiges an Höhe gewonnen und befand sich an jener Stelle, an der ein kleiner Felsrücken überstiegen werden musste, bevor es auf der anderen Seite in mäßiger Steigung weiterging. Auf einem schrofigen Vorsprung wuchsen ein verkrüppelter Ahornbaum und eine Schwarzkiefer. Horn mochte den Platz. Dort und da brauchte man ein wenig Kitsch im Leben. Seit einiger Zeit fühlte er sich alt genug, um sich dagegen nicht mehr wehren zu müssen.
Er war zum Bahnhof gefahren und hatte sich am Automaten eine Flasche Wasser und zwei Müsliriegel gekauft. Das musste reichen. Er hatte auf der Grazer Straße die Stadt verlassen und war nach ein paar Kilometern am Alten Mauthaus nach Westen abgebogen. Im Kammwandtunnel war ihm — unmittelbar vor der Ausfahrt — ein einziges Auto entgegengekommen. Er hatte die Kehren runter nach Sankt Christoph eher verhalten genommen, das Zentrum durchquert und war der Uferstraße in Richtung Mooshaim bis zu einem Reitstall gefolgt. Danach war er auf einem ausgewaschenen Güterweg nach Süden gefahren, hinein in den Ameringgraben, bis an einen Schranken mit Vorhängeschloss. Er hatte den Volvo neben einem Blechcontainer der Forstverwaltung abgestellt, den kleinen Rucksack, den er immer im Auto hatte, aus dem Kofferraum geholt und war losgegangen. Die Uhr hatte zehn vor vier gezeigt, und es war bereits so hell gewesen, dass er von Anfang an keine Taschenlampe gebraucht hatte.
Der Weg umging im Bogen eine sumpfige Mulde, überwand mittels einiger Kehren eine kurze Steilstufe, erreichte einen annähernd horizontal verlaufenden Rücken und führte auf dessen Scheitel zwischen alten Fichten bis an die Fläche einer aufgelassenen Alm. Horn setzte sich auf einen Baumstamm. Er schaute ins Tal und keuchte. Kaum ist meine Frau weg, mache ich Sachen, die ich sonst nicht mache, dachte er, außerdem gehe ich zu schnell. Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Eine Tannenmeise rief unentwegt, und die Baumwipfel am Waldrand begannen gelb aufzuleuchten. Er dachte an den jungen Posaunisten, der den Bus lenkte, an die feinen Äderchen, die sich in letzter Zeit auf Irenes Wangen zeigten, und an jenen Moment beim Sex, wenn sie auf ihm saß, die Augen schloss und zu summen begann. Er dachte daran, dass die Liebe im Lauf der Zeit nicht einfacher wurde, ganz im Gegenteil, dass sie nach dreißig Jahren sehnsuchtsvoller war und mehr wehtat denn je, und dass er jetzt schon spürte, wie es am Ende nur noch eins geben würde: die Angst, den anderen zu verlieren. Er dachte an Christina, die ohne Zweifel eine Frau zum Heiraten war, sich aber wegen ihrer Tochter Dolores auf rein sexuelle Beziehungen zu Röntgenassistenten und OP-Gehilfen mit unsicherem Leumund beschränkte, und an Leonie Wittmann, über deren Privatleben auch nach Jahren kaum etwas bekannt war. Manchmal erwähnte sie ihre Tochter, die Künstlerin war und in Hamburg lebte, und manchmal Schopenhauer, ihren Graupapagei. Über ihn hatte sie zuletzt erzählt, Die Welt als Wille und Vorstellung sei ihm inzwischen langweilig, daher habe sie begonnen, ihm Sigmund Freuds Persönlichkeitsmodell beizubringen. Der Satz »Wo Es war, soll Ich werden« scheine ihm gut zu gefallen. Schließlich dachte Horn an die Klosterschwester, von der Leonie Wittmann berichtet hatte, an die Verletzungen im Rachen, an die Panik und daran, dass die Frau gesagt hatte, sie habe genug. Mit neunzig darf man genug haben, dachte er, und dann dachte er, dass an der Geschichte etwas war, von dem einem übel wurde.
Er stieg im Zickzack zwischen Fichten und Lärchen bergauf, immer entlang einer schmalen Schneise, die man offenbar erst jüngst geschlagen hatte. Die Äste lagen noch zwischen den Strünken, die Stämme hatte man schon abtransportiert. Er drosselte das Tempo und achtete darauf, dass sein Puls nicht zu schnell wurde. Die beiden Male, die er mit Irene und den Söhnen da gewesen war, lagen ewig zurück. Irene hatte sich sehr geplagt, und Michael hatte überhaupt sofort gemeint, er finde es öd, mit den Eltern auf die Berge zu gehen. Ein Kolkrabe flog über seinem Kopf von Wipfel zu Wipfel und tat krächzend seinen Unmut kund. »Ist schon gut«, sagte Horn, »ich bleibe nicht lang.«
An der Kante zum Oberen Pfarrboden trat der Weg in die Sonne. Am Rand der freien Fläche bewegten sich äsend einige Gämsen. Sie hoben ihre Köpfe, als sie ihn wahrnahmen, ließen sich aber nicht wirklich stören. Er stand eine Weile da, betrachtete die Wiesen, die gelb waren von Trollblumen, und folgte einem seichten Hochtal, das zwischen Latschen und Krummerlen bis knapp unter den Kammscheitel führte. An einem Steinmann wandte sich der Pfad nach Westen, immer den Grat entlang. Geröll, Kalkblöcke, zwei, drei einfache Kletterstellen, dann war er oben.
Er schaute auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. Die Morgenbesprechung um acht würde sich nicht ausgehen. Er holte sein Handy aus dem Rucksack. Christina hob ab. Er war überrascht. »Was machst du schon dort?«, fragte er. »Meine Leute beruhigen«, sagte sie.
»Wieso?«
»Wegen Benjamin.«
»Welcher Benjamin?«
Benjamin sei sechzehn und habe versucht, sich an einem der Kastanienbäume im Stadtpark zu erhängen, gewissermaßen in aller Öffentlichkeit, um elf Uhr abends. Glücklicherweise seien gerade Leute aus der Stiftstaverne gekommen; die hätten das Schlimmste verhindert und Rettung und Polizei geholt. An der Abteilung habe er sich von Anfang an ruhig und kooperativ verhalten, sodass nichts dagegen gesprochen habe, ihn einfach schlafen gehen zu lassen. Er habe zu Katja »Gute Nacht« gesagt, und als sie kurze Zeit später den Rums aus seinem Zimmer gehört habe, habe sie sich gedacht, es sei vielleicht der Sessel umgefallen. Sie habe jedenfalls beschlossen, nachzusehen, und bereits als sie versucht habe, die Tür zu öffnen, sei die Sache klar gewesen. Er habe aus der Kordel seiner Shorts eine Schlinge geknüpft, sie an der Türschnalle befestigt, sich um den Hals gelegt und sich reinfallen lassen. Die Hypoxie habe Gott sei Dank nicht lange gedauert, daher sei der junge Mann zwar bewusstlos gewesen, aber ohne Reanimation wieder zu sich gekommen. Da er sofort Anstalten gemacht habe, die Station zu verlassen, habe man ihn gurtenfixiert und intravenös sediert. Katja sei die Jüngste im Team und ziemlich durch den Wind. Sie sei hauptsächlich ihretwegen reingefahren. »Und Dolores?«, fragte er. Die habe sie mitgenommen, das sei kein Problem, sie möge es, wenn etwas los sei.
»Wissen seine Eltern schon von der Sache?«
»Benjamin Al-Sadek«, sagte Christina, »aus der Burg, ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling«, es gebe keine Eltern. »Spricht er Deutsch?«, fragte Horn. Sie habe keine Ahnung, sagte Christina, in der Nacht habe man nicht so viel mit ihm gesprochen, und jetzt schlafe er. Ein wenig Deutsch müsse er allerdings können, denn als man ihm im Zuge der Fixierung seinen Kapuzensweater ausgezogen habe, sei ein Blatt Papier zum Vorschein gekommen, das er sich mit Tixo vorn auf den Oberkörper geklebt gehabt habe. Darauf sei gestanden: »Hier nix gut. Benjamin.«
Horn dachte an ihre Versuche, in der Burg eine psychiatrische Versorgung der Jugendlichen aufzubauen, an die Sparsamkeit der Jugendwohlfahrt und den opportunistischen Widerstand der Politik. Vor allem dachte er daran, wie lustvoll die Vorstellung war, diesem Konrad Seihs einmal so richtig eine in die Fresse zu hauen.
»Kannst du heute vielleicht etwas früher kommen?«, fragte Christina. Genau das könne er leider nicht, sagte Horn.
»Wieso nicht? Wo bist du?«
»Auf der Kammwand«, sagte er, »ganz oben.«
Christina war ein, zwei Sekunden lang still. »Du spinnst«, sagte sie schließlich. »Das habe ich heute schon einmal gehört«, sagte Horn.
Ich stinke, dachte Raffael Horn, als er zwei Stunden später sein Büro betrat. Er rief Christina an: »Ich bin da. Wie dringend ist es?« »Er liegt in den Gurten und schläft. Wieso?« »Duschen oder nicht duschen?«, fragte er. Sie lachte. Männer, die duschen wollten, dürfe man nicht daran hindern, sagte sie.
»Soll ich dir ein frisches Hemd bringen?«
»Woher hast du ein frisches Hemd?«
»Wie du weißt, werde ich ständig von Männern gefragt, ob sie duschen sollen oder nicht«, sagte sie, »Large ist okay, oder?«
Large sei okay, sagte er, Personaldusche, in einer Viertelstunde.
Er stellte auf vierzig Grad und ließ einfach laufen. Warm war am besten für strapaziertes Gehwerkzeug. Er war flott abgestiegen, nicht mehr. Jetzt spürte er jeden Muskel. Er war einer Rehgeiß begegnet, einer Kreuzotter und noch einmal dem missmutigen Kolkraben. Er hatte sich gefragt, ob Tobias irgendwann einmal mit ihm auf die Kammwand steigen würde oder nicht. Dann waren ihm die mit Beton verfüllten Löcher hinter der Scheune eingefallen, und er war sich nicht mehr sicher, ob er sich das tatsächlich wünschte.
Er schickte sich an, in die Hose zu schlüpfen, als es klopfte. »Es ist offen«, rief er. Die Tür ging einen Spaltbreit auf. Ein frisch gebügeltes, blau-weiß kariertes Hemd wurde hochkant durchgesteckt. »Du kannst reinkommen«, sagte er, »ich bin nicht mehr nackt. Außerdem würde ich sowieso nur dich nehmen, wenn ich nicht schon verheiratet wäre.« Das Hemd blieb, wo es war. »Was ist?«, fragte er. Keine Reaktion. »Christina?« Er ging zur Tür und zog sie ganz auf. Dolores stand da, den Blick zu Boden gerichtet. »Danke, Dolores«, sagte er und nahm ihr das Hemd ab, »du kannst mich anschauen, du kennst mich doch.« Dolores rührte sich nicht. Schließlich hob sie ein wenig den Kopf. »Meine Mutter würde dich nicht nehmen«, sagte sie. Dann ging sie.
Christina grinste, als er auf die Station kam. Er hob abwehrend die Hand. »Sag nichts! Und danke für das Hemd.« »Gern geschehen«, sagte sie. Dolores saß in der hintersten Ecke des Sozialraums, spielte auf ihrem Tablet und würdigte ihn keines Blicks. »Muss sie nicht zur Schule?«, fragte er. »Sie ist Integrationskind und beginnt am Freitag erst um zehn«, sagte Christina. »Du hast eine sehr kompetente Tochter«, sagte er. Christina lächelte und erwiderte nichts.
Katja war verheult, Flora Altenburg ebenso. Thomas versuchte Professionalität auszustrahlen. Das tat er in Krisenbesprechungen immer. Horn fragte Katja, ob sie nicht überlegt habe, nach dem Nachtdienst nach Hause zu gehen. Sie verneinte heftig. Allein würde sie diese Sache gar nicht mehr aus dem Kopf kriegen, sagte sie. Das Ganze laufe in ihr immer noch wie ein Film in Dauerschleife. Zuerst der Widerstand an der Tür, beim Aufdrücken das Schleifgeräusch auf dem Boden, wie von einem Sack, und dann dieses Bild: der im Bogen dahängende Körper, eigentlich mehr liegend als hängend, klein und schmächtig. Die Beine verdreht, ein Arm unter dem Becken, der Hals ganz lang, die Augen geschlossen, die Unterlippe nach vorn gewölbt, irgendwie trotzig, die Haut graubraun, als wäre es ein Standbild. »Trotzig«, wiederholte Horn. Ja, trotzig und tot, sagte Katja, so habe er ausgesehen. Sie habe natürlich intuitiv das Falsche getan und versucht, ihn hochzuheben. Erst als das nicht geklappt habe, sei ihr die Verbandsschere eingefallen, die sie nach der Wundkontrolle bei Conny, der neuen Selbstverletzerin, noch in der Gesäßtasche stecken gehabt habe. Ab da sei es schnell gegangen. Die Kordel habe sich zwar schon ziemlich fest zugezogen gehabt, sich aber trotzdem problemlos entfernen lassen. Flora sei gefühlte zehn Sekunden später da gewesen, da habe er aber schon wieder spontan geatmet. »Spontan?«, fragte Horn. »Fast spontan«, sagte Katja. Horn runzelte die Stirn. Katja richtete den Blick gegen die Decke. Horn sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Ich verstehe«, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. Sie wisse, es sei total blöd gewesen, aber sie habe reagiert wie im Film. »Sie meinen: eine links, eine rechts?«, fragte Horn. Katja nickte. »Er hat wieder geatmet«, sagte Thomas, »das ist die Hauptsache.« Herzmassage, Tubus in der Luftröhre, ausgebrochene Schneidezähne — all das habe sie ihm erspart. Katja schaute Christina direkt ins Gesicht. Wie er da an der Tür gehangen sei, sagte sie, im Bogen — er habe ausgesehen wie ein Kind.
Benjamin frühstückte, als sie in den Wohnraum der Akutgruppe kamen. Er hatte kurzes schwarzes Haar und einen wachsamen Blick. Günther saß bei ihm am Tisch. Benjamin habe gesagt: »Hungry«, da habe er die Gurten geöffnet. Wer »hungry« sage, wolle sich nicht umbringen. Er esse tatsächlich so, als habe er tagelang nichts bekommen, vor allem Käsebrote, eins nach dem anderen. Sie seien übrigens gerade Freunde geworden. »Das geht aber schnell«, sagte Thomas. »Fußball«, sagte Günther. Er nenne einen Spieler, Trainer oder Club, und jeder von ihnen tue seine Meinung kund. »Auf Deutsch oder Englisch?«, fragte Thomas. Per Daumen, sagte Günther, rauf, quer, runter, das sei ganz einfach. Da sie sich in der wichtigsten Frage sofort einig gewesen seien, seien sie jetzt Freunde. »Lionel Messi? Oder Cristiano Ronaldo?«, fragte Thomas. »Nein, Bayern München,« sagte Günther, und beide streckten lachend den Daumen nach unten. Sonst sei es sprachlich schwieriger. Immerhin sei klar geworden, dass Benjamin aus Aleppo in Syrien komme und nichts mehr habe, kein Haus, keinen Vater, keine Mutter, keine Schwester, keine Brüder. »Alle tot, alle kaputt«, habe er gesagt und die Geste des Kehledurchschneidens gemacht. Wenn man mehr wissen wolle, brauche man seiner Einschätzung nach einen Dolmetsch, sagte Günther. Wäre Leonie Wittmann jetzt da, dachte Horn, würde sie sagen: Alle tot, alle kaputt — ich muss nicht mehr wissen. »Sie macht den Konsiliardienst«, sagte Christina von hinten. Horn presste die Zähne aufeinander. Jetzt geht das wieder los, dachte er. Syrien, Arabisch — da werde man am besten Moussaidi, den Röntgenassistenten, bitten, sagte er, das gehe rascher und sei billiger als ein Termin mit dem Videodolmetsch. Benjamin stellte seine Teetasse abrupt ab und hob den Kopf. »Dolmetsch nein«, sagte er, »I want to talk to you in English.« Günther riss die Augen auf. »Warum sagst du das nicht gleich?« »Die Kameltreiberfalle«, sagte Horn. »Die was?« Kameltreiber, Mufti − als Europäer neige man in offenbar kaum korrigierbarer Weise dazu, alles, was südlich des Mittelmeers liege, für primitiv zu halten. »I am not a Mufti«, sagte Benjamin. »Sorry, I didn’t mean you«, sagte Horn. Englisch sei eine hervorragende Idee, er habe da gleich eine Frage, die für das weitere Vorgehen sehr wichtig sei. »Did you really want to die?« Der junge Mann schaute ihn verständnislos an, dann lächelte er. »First I tried to hang myself on the chestnut tree and afterwards on the door buckle. Why do you doubt that I really wanted to die?«
»I don’t doubt, I just have to ask«, sagte Horn. Benjamin lächelte nach wie vor. »Weird country«, sagte er, »no doubt, no help, no work, always just have to ask.«
Benjamin erzählte davon, wie vier, fünf Regierungssoldaten zu ihnen ins Haus gekommen seien, seinen Vater und Hakim, den ältesten der drei Söhne, am Küchentisch erschossen hätten und wieder verschwunden seien, ohne ein Wort zu sagen. Er erzählte davon, wie er, während neben ihm sein Bruder gestorben sei, dem Anführer der Soldaten in die Augen geschaut und diese Art von Augen sich ihm auf ewig eingebrannt habe. Drei Monate danach sei er am Nachmittag von der Schule nach Hause gekommen, und dort, wo ihr Haus stehen hätte sollen, sei nichts als ein großer Schutthaufen gewesen. »One rocket, no more family«, sagte er, »no more Roya, mother, no more Djamila, younger sister, no more Said, younger brother.« Er erzählte davon, dass er keine andere Wahl gehabt habe als wegzugehen. Er erzählte von den vier Monaten, die es gedauert habe, bis er in Sizilien gelandet sei, und davon, wie er sich in Bozen oben auf einen Containerwaggon gelegt habe und in Innsbruck wieder runtergeklettert sei. Ja, er habe gewusst, dass das gefährlich sei, aber es habe ihm noch niemand erklären können, welche Bedeutung das Wort gefährlich für ihn besitzen solle.
»You are really brave«, sagte Horn, weil ihm nichts Besseres einfiel. »No, I’m not brave«, sagte Benjamin, »animals are not brave, animals try to survive. I’m empty, nothing left inside myself, just an animal trying to survive.«
Keiner sagte etwas. Benjamin biss in sein Käsebrot. Irgendetwas müsse passiert sein, sagte Horn schließlich, irgendeinen Grund müsse es geben, weshalb er plötzlich nicht mehr habe leben wollen. Benjamin blickte sich um. »Where is my hoodie?«, fragte er. »In your room«, sagte Günther. Benjamin erhob sich, verließ den Raum und kam nach wenigen Sekunden mit seiner grauen Kapuzenjacke zurück. Er zippte die kleine Innentasche auf, holte eine Handvoll Kartonschnipsel heraus, legte sie auf den Tisch und begann sie zu ordnen. Alle traten langsam näher und beugten sich über ihn. »Ein Foto«, sagte Thomas. Benjamin nickte. »My family«, sagte er, »Ibrahim, father, Roya, mother, Hakim, elder brother, Said, younger brother, Djamila, sister, and me. In the garden of our house.« Ein Schnipsel fehlte. »Hakim’s left arm is missing«, sagte er. Dann erzählte er davon, wie die Polizei und die Black Guys aufgetaucht seien und alles durchsucht hätten und wie am Schluss der eine schwarze Mann das Foto vom Spind genommen und zerrissen habe. »He said schlechtes Foto«, sagte Benjamin und lächelte, »from this moment the animal didn’t try to survive anymore.« Christina trat neben Benjamin und legte ihre Hände mit abgespreizten Daumen so auf den Tisch, dass sie eine Art Rahmen um das Foto bildeten. »We’ll fix it with a tape«, sagte sie, »or stick it on a piece of cardboard.« Benjamin nickte.
Horn erklärte dem jungen Mann das Verfahren entsprechend dem Unterbringungsgesetz, das nach den beiden Selbstmordversuchen und der Fixierung im Gurtenbett unumgänglich sei, ferner, dass es von ihm und seiner Bereitschaft, am therapeutischen Programm teilzunehmen, abhängen werde, wie rasch der Aufenthalt nicht mehr unter Zwangsbedingungen ablaufen müsse. Vor Tabletten brauche er sich nicht zu fürchten, eine Dauermedikation sei vorerst nicht angezeigt. Um seinen Asylstatus und um die Kontakte zum Jugendamt und zur Burg werde sich Frau Mutz, die Sozialarbeiterin, kümmern. Benjamin sprang auf. »I don’t want you to talk to the Burg«, rief er, »they are traitors, all of them!« »Okay, okay!« Horn versuchte ihn zu beruhigen. Er müsse mit niemandem reden, mit dem er es nicht wolle. Ob es vielleicht Freunde gebe, denen man mitteilen sollte, wo er momentan sei. Benjamin überlegte. Nein, richtige Freunde habe er nicht, höchstens seine Zimmerkollegen, die seien in Ordnung, und er habe auch nichts dagegen, sollten sie auf Besuch kommen. »Can you give me their names?«, fragte Horn und zückte seinen Stift. »Hüssein«, sagte Benjamin, »but I’m afraid he is in prison. He called one of the Black Guys a Nazi and was taken away. And Malik, my second roommate. He is the one who took Hüsseins dagger to hide it.« Malik, dachte Horn, bitte nicht dieser Malik! Warum bitte nicht, fragte Benjamin, der Dolch sei made in Pakistan und just for decoration, Malik habe ihn trotzdem versteckt, zur Sicherheit. Horn schluckte. Hauptsache, der Dolch werde nicht an die Abteilung gebracht, sagte er. »Waffenverbot«, sagte Benjamin, er kenne das.
»Can you tell me who those Black Guys are?«, fragte Horn am Schluss. Benjamin schaute überrascht. »A18«, sagte er, »private security. They look like SS, they behave like SS and they have those SS eyes, just like the man who killed my father.«
Auf dem Weg ins Sekretariat begegnete er Vessy, die gerade mit einer Patientengruppe aus dem Bewegungsraum kam. Die stämmige Schwester mit dem runden Gesicht war über die Jahre zu einer der tragenden Säulen des Teams geworden. In dem kleinen Dorf am Ural, in dem sie aufgewachsen sei, habe sie gelernt, Vertrauen in die Lebenskräfte des Menschen zu haben, pflegte sie zu sagen, und Horn sagte, wenn man von ihr auf den Zustand der russischen Psychiatrie schließen könne, müssten dort umwerfende Dinge passieren. Außerdem sagte er, sie solle bitte niemals aufhören, diesen wunderbaren Begriff Lebenskräfte zu verwenden. Sie stellte das Netz mit Gymnastikbällen, das sie bei sich hatte, auf den Boden. »Alle wissen es, und alle reden davon«, sagte sie. »Wovon?«, fragte Horn. »Von Benjamin und seinen Suizidversuchen«, sagte Vessy. »Und was sagen sie?«, fragte Horn. »Das Erwartbare«, sagte sie und grinste verstohlen, »die Mütter wollen ihn retten, die Töchter wollen ihn nackt sehen, und die Väter wollen ihn zurückschicken.« Nur Eugen Wild falle ein wenig aus der Reihe. Er habe irgendwie verträumt geschaut und lediglich gesagt: »Jaja, das gute alte Erhängen.«
Horn dachte an die Vokabeln, die die Psychiatrie verwendete, an Selbstgefährdung, an Traumatisierung und an Suizidalität, und er dachte daran, dass es in Wahrheit um ganz einfache Dinge ging, um den Verlust derjenigen, die man liebte, um das gute alte Erhängen und um die Kälte im Auge des anderen. Oder um Lebenskräfte. Aber etwas so Positives sagte man sowieso nicht gerne.
Andrea Emler fing ihn in der Tür ab. Sabine Frey, die Direktorin der Volksschule, habe angerufen. Sie wünsche sich, dass er in die Klasse der abgängigen Elvira Helbich komme und mit den Kindern spreche. Alle seien überfordert, die Klassenlehrerin, die Kinder, sie selbst. Elviras Mitschüler seien voller wilder Phantasien, und sie wisse, dass niemand so gut damit umgehen könne wie ein Kinderpsychiater. Horn verdrehte die Augen. Das System Schule und sein Krisenmanagement, dachte er, abwehren, auslagern und selbst stur beim Einzelkämpfertum bleiben. Das sehe sie genauso, sagte Andrea Emler, trotzdem habe Frau Frey am Telefon ziemlich arm geklungen. »Arm bin ich selbst«, sagte Horn. »Und wie«, sagte Andrea Emler, »Leonie hat übrigens auch angerufen.« Es gehe um eine Übernahme. »Wir haben kein Bett«, sagte Horn. Deswegen habe Leonie Wittmann gemeint, es sei überhaupt das Klügste, wenn er sich die Sache vor Ort ansehe. »Die Sache«, wiederholte Horn. Ein Mann, auf der Unfall, U14, Zimmer sechs. Er scheine ziemlich von der Rolle zu sein. U14, sagte Horn − vermutlich sei er vom Apfelbaum gefallen. Wie er darauf komme, fragte Andrea Emler. Die reine Intuition, sagte Horn.
Leonie Wittmann stand auf dem Gang und schaute auf den See hinaus. »Schöner Blick«, sagte sie, »danke, dass du kommst.« Jakob Wenzel, berichtete sie, Mitte siebzig, allein lebend, Spiegeltrinker, ab und zu ein Exzess. Sie kenne den Mann seit Jahren aus der Ambulanz. »Wofür brauchst du mich dann?«, fragte Horn. Sie zuckte mit den Schultern. Es gebe Situationen, sagte sie, da habe man das Gefühl, als sei der feste Boden, auf dem man zu gehen meine, plötzlich nur Trug und Täuschung, eine Schicht Sand auf glattem Eis oder eine dünne Kruste über einem Schlammloch. Dafür brauche sie ihn. »Du meinst, es fühlt sich komisch an«, sagte Horn. Sie nickte. So könne man es auch sagen. Der Mann sei am späten Abend auf einem Rasenstück neben der Uferpromenade gefunden worden, heftig betrunken, Gesicht und Schädel blutüberströmt. Die Sanitäter, die ihn erstversorgt hätten, seien anfangs von einer der typischen Gesichts- oder Hinterkopfverletzungen bei atonischem Sturz ausgegangen, dann aber erschrocken. Auf den ersten Blick habe es nämlich ausgesehen, als habe jemand den Schädel des Mannes von vorn nach hinten gespalten, mit einer Axt oder einer Machete. Erst bei näherer Betrachtung in der Notversorgung sei klar geworden, dass der Knochen intakt sei und es sich um eine reine Verletzung der Kopfschwarte handle. »Er hat sich die Kopfhaut aufgeschnitten«, sagte Horn. Leonie Wittmann schaute verwundert. »Er sich?«, fragte sie, »ein anderer ihm, würde ich sagen.«
»Du meinst, als wollte ihn jemand …«
»Skalpieren«, sagte sie, »irgendwie so.« Der Mann sei jedenfalls zusätzlich zu seinem beginnenden Entzugsdelir so voller Angst, dass er an der Psychiatrie mit Sicherheit besser aufgehoben sei als in einem Zimmer mit anderen Kopfverletzten. »Willst du ihn sehen?«, fragte sie. »Jetzt, wo ich da bin«, sagte er.
Der Mann war groß, mager, hatte einen schütteren grauen Vollbart und trug einen turbanartigen Kopfverband. Er saß quer im Bett und nestelte an der Decke. Als Horn und Leonie Wittmann sich ihm näherten, riss er panisch die Augen auf, begann zu wimmern und versuchte aufzustehen. Horn legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Beruhigen Sie sich, Herr Wenzel«, sagte Horn. »Nein«, sagte der Mann, »nein.«
»Gib Ruhe, Jimi!« Jakob Wenzels Bettnachbar legte die Zeitung beiseite und richtete sich auf. Er war vielleicht halb so alt und trug ebenfalls einen Kopfverband. »Jimi?«, fragte Horn. Ja, er sei immer schon Jimi genannt worden, mit einem m und zweimal i, nach Jimi Hendrix. Früher habe er angeblich tatsächlich Gitarre gespielt. Das gehe jetzt nicht mehr. Der Mann machte die Geste des Trinkens. Wenn Jimi den richtigen Spiegel habe, rede er ganz normal. Seines Erachtens brauche er lediglich ein paar Gläser Schnaps, dann sei die Verwirrung weg und die Angst auch. »Wovor haben Sie Angst, Jimi?«, fragte Horn. Jakob Wenzel wimmerte weiter und gab keine Antwort. »Vor allem und jedem«, sagte sein Bettnachbar. Schnaps plus eine über die Rübe sei eine ungesunde Kombination. In der Nacht habe er stundenlang nur »Nein, nein!« geschrien, manchmal auch »Nein, nicht den Siegelring!«, aber da sei er sich nicht sicher. »Nicht den Siegelring?«, fragte Horn. Der Mann sagte, ja, so habe es geklungen, beschwören könne er es allerdings nicht, er sei selbst noch zu benebelt gewesen. »Was ist Ihnen eigentlich passiert?«, fragte Horn und zeigte auf seinen Kopf. »Ein Attentat«, sagte der Mann und lächelte säuerlich. Ein Sprung in der Schläfenbeinschuppe, eine Gehirnerschütterung. Irgendetwas sei gegen seinen Kopf geprallt, das sei das Einzige, was man wisse.
Horn griff zu seinem Telefon und gab auf der Station Bescheid, dass sie Jakob Wenzel übernehmen würden. »Haben wir doch ein Bett?«, fragte Leonie Wittmann. Noch nicht, sagte Horn, aber er habe die Absicht, Eugen Wild zu entlassen. »Wieso Wild?«, fragte sie. Wegen der Suizidantenregel, sagte Horn. Welche der vielen Suizidantenregeln, fragte Leonie Wittmann, und er sagte, die, wonach einen bei Erreichen einer kritischen Masse an Suizidanten nur die Reduktion derselben vor einem Selbstmord an der Station bewahre. »Klingt gut«, sagte sie. »Hab ich grad erfunden«, gab er zur Antwort.
»Sie werden heute eine ruhigere Nacht haben«, sagte Horn zu Jakob Wenzels Bettnachbarn, als sie sich verabschiedeten. Da sei er sich ganz sicher, sagte der Mann, er habe nämlich vor, nach Hause zu gehen. »Was sagen die Ärzte?«, fragte Horn. Das sei ihm egal, sagte der Mann.
Als sie das Zimmer verließen, nahm Raffael Horn im Augenwinkel die schwarze Jacke wahr, die über einem Kleiderbügel an der Garderobe hing. Auf der linken Brustseite war ein Wappen aufgenäht. Es zeigte eine stilisierte Tanne und einen Turm.
Horn stieg aus dem Auto und lauschte. Diesmal keine Mischmaschine, dachte er, diesmal Kettensäge. Er spürte, wie er sauer wurde. Ich bin um zwei Uhr nachts aufgestanden, dachte er, eigentlich möchte ich mich hinlegen. Langsam ging er nach vorn ans Ende der Scheune. Er blieb stehen und schaute. Von jedem der beiden Betonfundamente ragte ein Kiefernstamm in die Höhe, der scheunennähere leicht nach Osten geneigt, der andere nach Westen. Die Stämme waren offenbar unten schräg abgeschnitten, auf verzinkten Riffelblechplatten montiert und mittels derselben im Beton verschraubt worden. Auf den Stämmen waren mit weißer Kreide Längslinien gezogen worden, von einem Ende zum anderen, achsenparallel, in Abständen von vielleicht fünf Zentimetern. Tobias stand am scheunennäheren Stamm und schnitt mit der Kettensäge entlang der Linien keilförmige Furchen in den Stamm. Malik saß in der Wiese und schaute zu. Als Tobias seinen Vater sah, stellte er den Motor ab. »Keine Handschuhe, kein Gehörschutz, typisch«, sagte Horn und trat näher. Tobias senkte das Schwert der Kettensäge. »Gefällt es dir?«, fragte er. Horn strich mit Daumen und Zeigefinger die Furchen entlang. »Du hast Löcher in meine Wiese gegraben und sie mit Beton gefüllt«, sagte Horn. »Weiß ich«, sagte Tobias.
»Daher sage ich es ungern: Irgendwie gefällt es mir.«
»Last Men Standing«, sagte Tobias. »Ist das nicht ein Film?«, fragte Horn. Er habe keine Ahnung, sagte Tobias, das sei jedenfalls der Titel seiner Installation. Die letzten beiden Aufrechten, sagte Horn, und Tobias sagte, ja, so in der Art.
»Was machst du damit?«, fragte Horn. Fotografieren und einreichen, sagte Tobias.
»Einreichen, wo?«
»An Kunst-Unis. Berlin, London, New York, Wien.«
»Du hast einen Knall«, sagte Horn. Das mache nichts, denn dafür habe er ja bekanntlich ihn, antwortete Tobias und grinste.
Malik hatte sich erhoben und war herangekommen. »Was ist dein Freund jetzt eigentlich? Assistent? Lehrer? Berater?«, fragte Horn. Tobias zuckte mit den Schultern. Ein winziges Lächeln ging über Maliks Gesicht. »Ideologiecoach, könnte man vielleicht sagen«, sagte er. Ein Ideologiecoach mit einem Dolch made in Pakistan, dachte Horn. »Woher weißt du das schon wieder?«, fragte Tobias. Jetzt zuckte Horn mit den Schultern.
Er holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich unter den Sonnenschirm. Er dachte an Jugendliche, die alles hatten, und an solche, die alles verloren hatten. Er fragte sich, ob Irene schon angekommen war, und beschloss, ihr später ein Foto von Tobias’ Baumstämmen zu schicken.
Als er ausgetrunken hatte, ging er hinters Haus zum Müllcontainer, um die Bierdose wegzuwerfen. Er hob den Deckel. Ein schwarzer Plastiksack füllte den oberen Bereich. Er zog den Sack hoch und warf einen Blick hinein. Spraydosen. Er nahm eine raus. Minneapolis Premium Graffiti Spray. Die Farbe Pink.