Wenn Mauritz tobte, war das ergiebig. Hundertfünfzig Kilogramm in Aufruhr. Was das Absperrband hier zu suchen habe − das sei so etwas von lächerlich. Was das Ganze überhaupt sein solle? Ein Tatort, von oben angeordnet? Eine angeordnete Spurensicherung — an einem Platz, über den am Vortag die Fronleichnamsprozession und danach noch stundenlang die Touristen marschiert seien? Oder vielleicht ein angeordneter Lokalaugenschein? Mit den Benediktinern als Zeugen? Am besten zuallererst mit Joseph Bauer, der genau während des Vorfalls das Evangelium gelesen und ziemlich sicher Bob Dylan gehört habe!?
»Ich liebe ihn«, flüsterte Sabine Wieck Ludwig Kovacs zu. »Wer liebt ihn nicht? Schau ihn dir an. Sogar ich liebe ihn ab und zu«, sagte Kovacs und grinste.
Sie standen unter der alten Platane am Beginn der Auffahrt zum Hotel Weitzer, vier Leute von der Kriminalpolizei und acht Uniformierte. Philipp Eyltz schritt vor ihnen auf und ab. »Sind Sie fertig?«, fragte er Mauritz. Nein, sagte Mauritz, aber auch wenn es vielleicht nicht so wirke, sei er jederzeit in der Lage, zu unterbrechen. Gut, sagte Eyltz, die Stadt werde es ihm danken. Man könne ihm, Eyltz, natürlich Alarmismus vorwerfen, aber im Prinzip habe der Herr Landesrat schon recht, wenn er davon spreche, dass die Zeichen einer echten Destabilisierung unübersehbar seien. Rassistische Schmierereien, Attacken gegen Sicherheitspersonal im Asylantenheim, die Entführung eines Kindes und jetzt der Anschlag gegen die Fronleichnamsprozession − wie solle man das sonst nennen. »Er redet wie der Polizeichef in SOKO irgendwas«, sagte Eleonore Bitterle. Er sei auch immer so angezogen, sagte Kovacs, Cordhosen, auch im Sommer, blaue Hemden mit weißen Krägen, Tweedsakkos, die vermutlich nach Mottenkugeln stinken. Er erwarte konzentrierte Arbeit, und er erwarte, dass jeder Vorfall ernst genommen werde, sagte Eyltz. Am Vortag sei ein Mann beinahe ums Leben gekommen, und man wisse bis jetzt gar nichts. Das sei schlichtweg inakzeptabel. »Ich kann schwarze Uniformen auch nicht ausstehen«, sagte Mauritz halblaut, »ich habe nur leider nicht immer einen Stein zur Hand.« Wieso Stein, fragte Sabine Wieck, und Mauritz sagte, ein Jugendlicher, ein frustrierter Ministrant zum Beispiel, oder einer, der nicht denkt, nimmt einen Stein, wirft und trifft das einzige Mal in seinem Leben − wie sonst solle es gewesen sein. Vermutlich hat er recht, dachte Kovacs, vermutlich war es so einfach. Er schaute sich um. Die beiden Häuser gegenüber der Hotelauffahrt. Die Fenster, aus denen man hätte schießen können, mit einem Luftdruckgewehr zum Beispiel. »Dreißig, vierzig Meter und Luftdruck«, sagte Sabine Wieck, »das bringt keinen Mann mehr zu Fall.« »Woher weißt du, was ich gerade denke?«, fragte Kovacs. Sie lachte. Sie sei eine Kriminalbeamtin und er ein offenes Buch.
Niemand habe etwas gesehen, sagte Eyltz, weder bei der Entführung des Kindes noch bei der Fassadenschmiererei, noch bei dem feigen Fronleichnamsattentat. Das sei das Muster. Das Verborgene, das Unsichtbare. Man könne von dunklen Elementen sprechen und von einer hohen kriminellen Energie. Die Stadt lebe in Angst, die Stadt erwarte Ergebnisse. »Jetzt spricht er wie Konrad Seihs«, sagte Eleonore Bitterle. »Stimmt«, sagte Mauritz, er habe Seihs geradezu reden gehört, er sei sich nur bei einem nicht sicher — habe Eyltz dunkle oder dunkelhäutige Elemente gesagt. Sabine Wieck schüttelte den Kopf. »Du bist so ein Depp«, sagte sie.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Mauritz, nachdem der Polizeichef und die Uniformierten abgezogen waren. Was man nach einer Standpauke am besten tue, sagte Kovacs, »unsere Arbeit.«
Sie nahmen die Häuser der Umgebung in Augenschein, stellten fest, dass — unabhängig von der fehlenden Wucht des Geschosses — die zehn Fenster, die theoretisch in Frage kamen, um ein Luftdruckgewehr abzufeuern, zur Ordination eines Augenarztes, zur Praxis einer Psychotherapeutin und zu einem Übersetzungsbüro gehörten und dass diese Betriebe zu Fronleichnam geschlossen gewesen waren. »Das bedeutet gar nichts«, sagte Mauritz. Rein theoretisch kämen auch die Bäume in Frage, sagte Sabine Wieck, an der Prozession hätten jedoch an die tausend Menschen teilgenommen. Es sei daher ausgeschlossen, dass jemand unbemerkt Steine von einem Baum geworfen habe.
Sie gingen die Straßenränder entlang, umkreisten den Platz im und gegen den Uhrzeigersinn und schritten ihn am Schluss noch einmal im Zickzack ab. Mauritz kickte demonstrativ Steine zur Seite. »Vierhundertzweiundneunzig, vierhundertdreiundneunzig«, zählte er. Kovacs schaute ihn fragend an. Er zähle die möglichen Tatwaffen, sagte Mauritz. Er könne sie auch asservieren, wenn man das von der Spurensicherung wünsche.
Etwa dort, wo der Altar gestanden war, bückte sich Eleonore Bitterle plötzlich und hob etwas auf. »Wieder einmal ein Schneckenhaus?«, fragte Ludwig Kovacs. Bitterle schüttelte den Kopf. Sie hielt das Ding, das sie gefunden hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. »Ups«, sagte Mauritz.
Die Stahlkugel war blank. Mauritz lockerte die Arme der Schublehre. »Durchmesser acht Millimeter«, sagte er. »Hast du so ein Gerät immer bei dir?«, fragte Sabine Wieck. Mauritz nickte. Man glaube nicht, wie oft einem Dinge unterkämen, die zu vermessen seien — Projektile, Flintenläufe, Hammerköpfe, sagte er. So etwas habe er allerdings schon länger nicht gehabt. »Was so etwas?«, fragte Wieck. »Eine Zwillenkugel«, sagte Mauritz.
»Eine was?«
Zwille, Steinschleuder. Das sei die Kugel für eine Präzisionszwille, sagte Mauritz. Zwille — das sei doch … Kovacs zeichnete ein Ypsilon in die Luft. Genau, sagte Mauritz, Bubenromantik: der Ast von einem Haselnussstrauch, ypsilonförmig gewachsen, ein Hosengummi, ein Lederfleck, und schon überkomme einen dieses Gefühl, dass seinerzeit alles besser war. Hier sei allerdings nicht von einem Kinderspielzeug die Rede, sondern von einem ergonomisch geformten Kunststoffgriff, einer Armstütze aus Metall und einem hochreißfesten Gummizug. »Wer verwendet so etwas?«, fragte Kovacs. »Böse Buben«, sagte Eleonore Bitterle. Er kenne die Geschichte eines Mannes aus Salzburg, erzählte Mauritz, der von seinem Schlafzimmerfenster aus früh am Morgen die Tauben von den Dächern des Alten Marktes geschossen habe. Die Vögel seien tot auf dem Pflaster gelegen, die Zwillenkugeln hätte die Polizei aus der Dachrinne des Café Tomaselli geholt. »Daher nichts für mich«, sagte Mauritz. »Was ist nichts für dich?«, fragte Kovacs. Dachrinnen, sagte Mauritz, bekanntermaßen habe er Höhenangst.
Kovacs schaute sich noch einmal um. Zehn Fenster. Der Augenarzt, die Psychotherapeutin, das Übersetzungsbüro, dachte er, das wird mühsam werden. »Wer schießt auf einen A18-Security?«, fragte er. »Jeder«, sagte Eleonore Bitterle.
Sie entfernten die Absperrbänder und steckten sie in den nächsten Mistkübel. Er müsse einräumen, dass auch ein angeordneter Tatort manchmal ein Tatort sei, sagte Mauritz. Er wirkte dabei nicht im Mindesten schuldbewusst. Apropos Zorn von vorhin, sagte Kovacs, von wem habe er anfangs gemeint, dass er das Evangelium gelesen habe? »Joseph Bauer«, sagte Mauritz, Benediktinerpater mit einer gewissen Tendenz zur Unangepasstheit. »Der Musikfreak?«
»Genau der«, sagte Mauritz. Mit dem wolle er sprechen, sagte Kovacs.
Sie verteilten die Tagesaufgaben. Sabine Wieck würde sich um die zehn Fenster kümmern, Bitterle würde den Ermittlungsstand in der Sache Helbich aktualisieren, Kovacs selbst würde ins Pensionistenheim nach Waiern fahren, und Mauritz würde den Waffengeschäften der Region einen Besuch abstatten. Lux in Furth und Steiner in Waiern, sagte Mauritz, Lux sei größer, aber wenn er sich vorstelle, er benötige dringend Zwillenkugeln für ein Fronleichnamsattentat, würde er sich an Schorsch Steiner wenden. »Apropos Verhaltensoriginalität: Wo ist eigentlich Demski?«, fragte Kovacs. Bei Farben Bünker, sagte Mauritz, auf der Spur von Acryl-Prepolymeren.
Kovacs hob die Hand. »Um vier im Tin«, sagte er, bevor sie sich trennten.
Auf der Steigung westlich der Stadt hatte er einen Holztransporter vor sich. Er versuchte gelassen zu bleiben. Holztransporter hatten ein Recht auf ihr Tempo. Auf dem Scheitel der flachen Anhöhe wurde der Blick nach vorne frei. Er überholte. Er war froh, dass man im Vorjahr den Vectra endlich ausgetauscht hatte. Der neue Q3 war zwar nicht größer, jedoch sonst kein Vergleich. Er war schneller, spurtreuer, und die Sitze boten mehr Halt. Nur Demski trauerte dem Opel nach. Oben auf dem Armaturenbrett hatte seine einäugige Blechente perfekt Platz gehabt. Das sei jetzt nicht mehr so, behauptete er. Die Ente war sicher fünfzig Jahre alt, konnte mit einem Schlüssel aufgezogen werden und hoppelte dann durch die Gegend. Demski nannte das Blechtier Mason. Er sagte, der Name sei ihm einfach zugeflogen und habe keine besondere Bedeutung. Kovacs glaubte ihm kein Wort. Bei Demski hatte alles Bedeutung. Was die Ente für Demski wirklich war, konnte keiner sagen. Wenn jemand von Glücksbringer oder Fetisch sprach, wurde er missmutig, und wenn man ihn direkt fragte, sagte er: Ganz einfach — sie sei sein Haustier.
Die Geflügelhallen von Leo Schilcher hatten vor kurzem eine neue Fassade bekommen: überdimensionale, fotorealistisch dargestellte Hühner, hauptsächlich gescheckt oder rotbraun, auf einer Wiese unter Obstbäumen, darunter der Schriftzug: Guten Morgen! Ihr Frühstücksei. Idylle und Manipulation liegen immer nahe beisammen, dachte Kovacs. Wenn du dein Omelett isst, sollst du vor deinem inneren Auge die flauschigen Federknäuel unter den Apfelbäumen sehen und nicht die Legebedingungen in diesen Hallen. Er kannte die Realität der Bodenhaltung, und er kannte die primitive Nüchternheit, in der einem Leo Schilcher die Eierquote pro Quadratmeter Lauffläche vorrechnen konnte. Charlotte hatte zuletzt gesagt, man müsse die Hühner befreien und dann Schilchers Hallen anzünden. Er hatte skeptisch geschaut und geantwortet, er bezweifle, dass es gut sei, diese Hühner zu befreien. Charlotte hatte daraufhin gesagt, genau das sei über Jahrhunderte das Argument der Sklavenhalter gewesen: Freiheit sei ungesund, solange man sich nicht an sie gewöhnt habe.
Er nahm die Abzweigung nach Waiern. Als er über den Kirchenplatz fuhr, sah er aus dem Augenwinkel, dass in einer der Nebengassen noch junge Birken an den Hausfassaden lehnten. Fronleichnam war überall. Er fragte sich, wie viel Übung es brauchte, mit einer Steinschleuder den Kopf eines Mannes zu treffen, außerdem, ob die Annahme, dass Leo Schilcher ein Freund von Konrad Seihs war, einer echten Erinnerung entsprang oder bloßes Konstrukt seines Gehirns war. Eleonore Bitterle pflegte in solchen Situationen zu sagen: »Naheliegende Dinge sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nahe zueinander liegen«, und Demski sagte darauf Sätze wie: »Arschlöcher existieren auch unabhängig voneinander.« Sie werden mir abgehen, dachte Kovacs, egal, wann ich meinen Abschied nehme.
Er brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, was sich an dem Gebäude verändert hatte. Dort, wo sich die Balkone befanden, hatten sie Glasplatten vor die Vorderfront gesetzt. Ästhetisch machte das die Angelegenheit nicht besser. Es gab Dinge, die waren einfach von fundamentaler Hässlichkeit. Pensionistenheime aus den 1980er Jahren gehörten dazu. Wenigstens waren die Balkone wieder benutzbar. Nachdem es einem Heimbewohner gelungen war, in einem Zustand von Verwirrtheit über die Brüstung zu klettern, und er den Sturz aus dem zweiten Stock nicht überlebt hatte, waren die Balkone über Jahre hinweg gesperrt geblieben. Jetzt standen auf manchen von ihnen wieder Stühle und Kaffeetische.
Der Parkplatz war zu zwei Dritteln leer. Am Vormittag hielt sich die Zahl der Besucher in Grenzen. An den einen Flügel des Eingangstors war ein Plakat der Seefestspiele Mörbisch geklebt. Warum glaubte immer noch alle Welt, dass alte Menschen Operette mochten?
Der Empfang war unbesetzt. Kovacs drückte auf die Klingel und schaute sich um. In der Halle standen in weißen Porzellanübertöpfen mehrere große Bananenstauden und ein Ficus benjamini mit geflochtenem Stamm. Er dachte daran, wie ihn Marlene knapp nach ihrem ersten Kennenlernen ganz vorsichtig gefragt hatte, welche Beziehung er denn zu Zimmerpflanzen habe, und wie erleichtert sie gewesen war, als er gesagt hatte, es tue ihm sehr leid, aber er habe noch jede Topfblume zu Tode gebracht.
Die Frau, die den Gang entlangkam, hatte kurzes graues Haar, einen sehr dynamischen Schritt und ein offenes, freundliches Gesicht. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Sie heiße Monika Beyer und sei die Heimleiterin. Sie habe den Besuch der Polizei erwartet. Woher sie wisse, dass er von der Polizei sei, fragte Kovacs. Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie, »Angehörige sehen anders aus, Lieferanten auch.«
Eine Ärztin aus dem Krankenhaus habe angerufen und mitgeteilt, Schwester Notburga wolle möglichst rasch wieder nach Hause gehen, erzählte die Frau. Da auf der Bettenstation des Heimes eine gewisse medizinische Versorgung gewährleistet sei, sei das ärztlich vertretbar. Die Befragung durch die Polizei könne dadurch allerdings nicht mehr im Spital stattfinden. Polizei?, habe sie gefragt, woraufhin ihr die Ärztin die Sache mit dem Zeug in der Lunge und den Rachenverletzungen erzählt habe.
Schwester Notburga sei übrigens ganz und gar nicht zum Sterben ins Heim zurückgekommen, wie manche vom Personal prophezeit hätten. Sie erhole sich erstaunlich rasch und sei beinahe wieder die Alte. Zweimal pro Tag erhalte sie ein Antibiotikum, das sei alles. Die Alte — was das bedeute, fragte Kovacs. Vital, gesellig und überzeugt von sich selbst, sagte Monika Beyer, ab und zu vielleicht ein wenig forsch. Sie öffnete eine Tür. »Gehen Sie einfach durch den Behandlungsraum und hinaus auf den Rasen. Sie finden sie unter den Bäumen im Liegestuhl«, sagte sie.
Die Frau saß bei hochgestellter Lehne im Liegestuhl und schaute ins Grüne. Sie hat ein wachsames Gesicht und kräftige Hände, dachte Kovacs. Er stellte den Sessel ab, den er sich von der Terrasse mitgenommen hatte. Die Frau trug einen grauen, beige gesäumten Morgenmantel und Filzpantoffeln. Das weiße Haar hatte sie zu einem dünnen Zopf geflochten. Früher habe man freien Blick auf den See gehabt, sagte sie, dann sei die Hecke gepflanzt worden, und innerhalb von zwei, drei Jahren sei es mit der Aussicht vorbei gewesen. Sie hustete. »Strengen Sie sich nicht an«, sagte Kovacs. Er habe von ihrem Lungenbefund gehört, er werde nur die allernötigsten Fragen stellen. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Es gehe schon, sagte sie, alles nicht so schlimm. Es gebe ohnehin nicht viel zu erzählen.
»Wie heißen Sie eigentlich wirklich?«, fragte Kovacs, »ich meine, wie haben Sie geheißen, bevor Sie …« Elisabeth, sagte die Frau, sie habe Elisabeth Hämmerle geheißen, bevor sie bei den Franziskanerinnen eingetreten sei. Es sei ein wenig peinlich, aber wie es zu Notburga als Ordensnamen gekommen sei, wisse sie in Wahrheit nicht mehr. Sie könne sich lediglich erinnern, als Kind einmal staunend in der Wallfahrtskirche von Eben am Achensee gestanden zu sein, vor dem Skelett der heiligen Notburga, das einen da vom Hochaltar aus anschaue. Ihre Mutter habe von einer Sichel erzählt, die Notburga in den Himmel geworfen habe. Dort sei sie hängen geblieben. Vielleicht habe sie das beeindruckt. Elisabeth sei ein schöner Name, sagte Kovacs. Die Frau nickte. »Mit der Zeit verliert es sich«, sagte sie, »wenn sie dich sechzig Jahre lang Notburga nennen, bist du keine Elisabeth mehr.«
Es habe Fenchelrisotto mit Frischkäse zum Abendessen gegeben, als Dessert einen Punschwürfel, sie erinnere sich genau. Sie sei mit Bernadette und Dietlinde, ihren beiden Mitschwestern, am Tisch gesessen wie jeden Abend. Am Nebentisch habe jemand besonders laut über richtige und falsche Religionen gesprochen. Das passiere ständig, so, als ob man als Ordensfrau dafür zuständig sei. Nach dem Essen habe sie mit Dietlinde und Frau Herzog, die Spätdienst gehabt habe, eine Partie Dreierschnapsen gespielt. Bernadette habe nur zugesehen, sie sei inzwischen sehr vergesslich, und Kartenspielen überfordere sie. Dietlinde habe dreimal hintereinander gewonnen, dann habe man Schluss gemacht, Frau Herzog sei nach Hause gefahren, und sie seien alle auf ihre Zimmer gegangen. Sie habe den Fernseher aufgedreht, einfach so, er kenne das sicher, man starre hinein, und ein paar Minuten später könne man sich an nichts mehr erinnern. Bevor sie zu Bett gegangen sei, habe sie Hunger bekommen, ihr ganzes Leben lang sei das so gewesen, der kleine Hunger vor dem Nachtschlaf, und sie sei noch einmal runter in den Speisesaal gegangen. Dort gebe es einen Kühlschrank für Leute, die das Abendessen versäumen, weil sie spät nach Hause kommen. Sie habe sich eine der bereitgestellten Portionen Fenchelrisotto im Mikrowellenherd gewärmt und gegessen. Es habe ihr geschmeckt, und sie habe keine Spur von schlechtem Gewissen gehabt. Den Teller habe sie von Hand abgewaschen, wie es so ihre Art sei. Dann sei ihr plötzlich schlecht geworden, von einer Sekunde auf die andere. Sie sei in Richtung Garten gelaufen, wegen der frischen Luft, das wisse sie noch. Das Nächste, woran sie sich erinnern könne, seien Bernadettes Gesicht, das auf sie herabschaue, daneben die Gesichter anderer Menschen, das Gefühl, auf Rasen zu liegen, und die Gewissheit, jetzt sterben zu müssen.
Sie schaute ihn direkt an. Die Ärztin von der Intensivstation rede Unsinn, sagte sie, wer solle einer neunzigjährigen Klosterschwester etwas antun wollen. Am ehesten sei es wohl eine Kreislaufschwäche gewesen − der Blutdruck geht runter, man wird ohnmächtig, erbricht, atmet das Erbrochene ein, und fertig. Bernadette sei als Erste bei ihr gewesen und habe versucht, das Zeug mit einem Löffel aus ihr rauszukriegen, daher die Verletzungen in der Mundhöhle. Aus ihrer Sicht sei das alles nicht so schwer zu verstehen. Bernadette selbst zu befragen habe leider wenig Sinn. Sie merke sich gar nichts mehr.
Die Frau spitzte den Mund, sooft sie ausatmete. Sie war weiß um die Nase. Es strengt sie an, dachte Kovacs. Er erhob sich. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe«, sagte er. »Geht schon noch«, sagte sie. Er winkte ab.
»Sie sind sich jedenfalls sicher, dass während Ihrer Spätmahlzeit sonst niemand da war?«, fragte er, bevor er ging. Sie nickte. Nur sie und das Fenchelrisotto, sagte sie. Sie sei sich ganz sicher.
Monika Beyer saß am Empfang. »Sie haben vorhin recht gehabt«, sagte Kovacs. Womit habe sie recht gehabt, fragte sie. Mit vital und überzeugt von sich selbst, sagte er. Sie lachte. »Auf diese Weise wird man alt«, sagte sie, »vital, überzeugt von sich selbst und eine Braut Christi.« Apropos Braut Christi, sagte Kovacs, zwei Dinge seien ihm nach dem Gespräch unklar. Erstens, ob es etwas bedeute, dass Schwester Notburga ihre Ordenstracht nicht trage. Er habe gedacht, eine Braut Christi sei dazu verpflichtet, von der Profess bis ins Grab. Die Heimleiterin zuckte mit den Schultern. Sie schätze, dass es der liebe Gott mit diesen Dingen heutzutage auch nicht mehr so genau nehme, sagte sie. Im Krankenstand gewähre er vielleicht sowieso Dispens. »Und zweitens?«, fragte sie.
»Was zweitens?«
Er habe von zwei unklaren Dingen gesprochen, nicht nur von einem. Kovacs schaute ins Freie und schwieg eine Weile. Das zweite sei im Grunde ganz einfach, sagte er schließlich. — »Warum lügt sie?«
Fred Ley arbeitete mit der Polierscheibe am Rumpf einer aufgeständerten Bavaria 34. Kovacs bedeutete ihm, er solle sich Zeit lassen. Er ging langsam durch die Wellblechhalle der Werft. Ein Aluminiumboot der Seerettung, eine Motorzille, die einen neuen Anstrich brauchte, zwei Laser-Jollen, die offenbar regattafertig gemacht werden sollten. Im hinteren Teil der Halle war Jack, Fred Leys Kompagnon, damit beschäftigt, einen Außenbordmotor zu zerlegen. Er schimpfte dabei halblaut vor sich hin. Als er Kovacs sah, hob er grüßend die Hand. GfK-Matten verschiedener Stärke, Dosen mit Polyesterharz, Winschen, Leinen, Kartuschen mit Silikon, Schmieröl.
»Was brauchst du?« Fred Ley hatte die Polierscheibe zur Seite gelegt. »Diesen Anblick«, sagte Kovacs, »den Lärm, den Geruch.« Fred Ley grinste. »Wonach riecht es hier?«, fragte er. »Nach einem Fluchtweg«, sagte Kovacs, »nach einem anderen Horizont.« »Nach einem Fluchtweg?«, fragte Ley, und Kovacs sagte, ja, das wisse er bestimmt, denn mit Fluchtwegen kenne er sich aus. »Du weißt …«, sagte Ley. »Ich weiß«, sagte Kovacs.
»Jederzeit.«
»Jederzeit. Wie oft ruft dich Marlene an?«, fragte Kovacs und lachte. Fred Ley lachte auch. »Einmal«, sagte er, »ein einziges Mal hat sie mich angerufen, vor ein paar Tagen.« »Was hat sie gesagt?«, fragte Kovacs. »Dass das Böse giftig ist und dass sie das Gefühl hat, gegen das Gift des Bösen gibt es keine Immunisierung«, sagte Ley. Außerdem habe sie gesagt, sein Gesicht sei manchmal so rot, dass einem angst und bange werde, das komme hundertprozentig vom Blutdruck, und manchmal sei er sich offenbar nicht sicher, ob er die nächsten Minuten überleben werde oder nicht, dann müsse er sich in die heiße Badewanne legen.
Kovacs schwieg eine Zeitlang. »Und was hast du gesagt?«, fragte er.
»Zu Marlene? Ich glaube, ich habe gesagt, dass du Seeluft brauchst.«
Kovacs betrachtete Fred Ley. Der Mann befand sich in den späten Sechzigern. Er war untersetzt, grauhaarig und braungebrannt. »Du siehst aus, als ob du sie täglich hättest«, sagte er. »Was? Seeluft? Habe ich auch«, sagte Ley.
»Wo?«
»Hier drin.«
Kovacs legte die flache Hand auf den Rumpf der Bavaria. Jederzeit, hatte Ley gesagt. Jederzeit Seeluft. Das Gift, das sich in einem sammelt, dachte er. Wenn es nicht abfließen kann, bringt es die Pumpe zum Stolpern. Kurz kurz kurz lang. Er horchte in sich hinein. Momentan war alles regulär.
»Manche Leute sterben früh, weil sie das Böse vergiftet«, sagte er, »manche haben Kontakt nach oben und werden uralt.« Er habe da noch eine Frage. Sein Kontakt nach oben halte sich aber sehr in Grenzen, wandte Fred Ley ein. Da sei er sich erstens nicht so sicher, erwiderte Kovacs, und zweitens spiele das in diesem Fall keine Rolle. »Warum lügt eine neunzigjährige Klosterschwester?«, fragte er. Fred Ley schaute erstaunt. »Weil sie Angst hat«, sagte er schließlich. »Wovor?«, fragte Kovacs.
»Vor der Hölle.«
Durch das geöffnete Tor legte sich das Licht als großes weißes Trapez in die Halle. Ganz hinten setzte sich rumpelnd der Kettenaufzug in Bewegung. Zwischendurch hörte man lautes Fluchen. »Müsste ich mich vor ihm fürchten?«, fragte Kovacs. »Vor Jack?«, sagte Fred Ley, »du kennst ihn doch.« Jack sei ein herzensguter Mensch und sein Schimpfen so etwas wie eine permanente Liebeserklärung an die Welt. »Weiß das die Welt auch?«, fragte Kovacs. Fred Ley lachte. Kovacs reicht ihm zum Abschied die Hand. Sein Boot sei im Übrigen fertig, sagte Ley − neuer Anstrich, neue Dollen, Sitzbrett getauscht, Riemen lackiert. Man könne es jederzeit einwassern, er müsse es nur sagen.
Da ausreichend Zeit blieb, überlegte Kovacs, eine Runde um den See zu fahren — Mooshaim, Leonsberg, Sankt Christoph —, ließ es dann aber bleiben und nahm den direkten Weg zurück in die Stadt. Er stellte das Auto im Hof des Kommissariats ab, ging vor an die Promenade und setzte sich neben dem Anleger der Ausflugsboote im Schatten einer Markise auf eine Bank. Er schlug eine leere Seite seines Notizbuchs auf. Obwohl er insgeheim ein Verfechter der dokumentationsfreien Ermittlung war, gab es Situationen, in denen er Dinge aufschrieb. Er zog zwei senkrechte und zwei waagrechte Striche. Tic-Tac-Toe, immer das Gleiche, dachte er. Die anderen machten Witze darüber und sagten, er halte das wohl für elektronische Datenverarbeitung. Ihm war es egal. Er konnte nicht anders. Er dachte an Mauritz und seine Launenhaftigkeit, an die Unbestechlichkeit von Eleonore Bitterle, an Demskis Blechente und daran, dass ihm diese Menschen weitaus mehr bedeuteten als die Frage, wie weit er in seiner Laufbahn bei der Polizei kommen würde. Dann dachte er daran, dass Leute wie Eyltz nach und nach alles aufgaben, was ihnen einmal wichtig gewesen war, und in Wahrheit keine Ahnung hatten, weshalb.
Die Zwillenkugel war das Erste, was Kovacs in sein Notizbuch schrieb, dann das Bild, Konrad Seihs, das Kind, alte Menschen, der Apfelbaum, die Decke, die Ordensfrau, Aktion 18, kein Wort und mit der Zeit verliert es sich. Schließlich setzte er seinen Bleistift in die Mitte des Rasters und schrieb die Hölle ins zentrale Feld. Er dachte an seine Kindheit, an den Religionsunterricht, an seinen Banknachbarn Fritz, der Ministrant gewesen war, und daran, dass er selbst kaum jemals eine Kirche von innen gesehen hatte. Vom Himmel hatte ihm nie jemand erzählt. Von der Hölle hatte er im Lauf der Jahre eine gewisse Ahnung bekommen, immerhin.
Ein Signalhorn ertönte. Die Seagull 1, Frank Holdereggers mobile Tauchbasis, legte ab. Sie war wie immer gut besetzt. Frank würde an die Kammwandabstürze heranfahren und seinen Gästen etwas von einem im Zweiten Weltkrieg gesunkenen Lotsenboot und von Nazigold erzählen. Dann würde er mit ihnen zum Wrack eines Fischkutters abtauchen, der dort auf fünfzehn Metern Tiefe an einem Felszacken hängen geblieben war. Die Leute würden begeistert sein und ihm im Internet hervorragende Rückmeldungen geben. Dass jeder Satz seiner Geschichte frei erfunden war, würde keinen Menschen kümmern.
Kovacs schaute auf die Uhr, steckte das Notizbuch weg und stand auf.
Die Männer waren zu fünft. Sie hatten zwei Tische zusammengeschoben, Bier vor sich stehen und lachten. Einer von ihnen trug einen Kopfverband.
»Sie werden immer mehr«, sagte Szarah, als sie neben Kovacs auftauchte, »anfangs waren es zwei, jetzt sind es fünf. Sie kommen jeden Tag.« »Tun sie irgendwas?«, fragte Kovacs. Nein, sagte Szarah, sie seien einfach da, aber manchmal genüge es, wenn jemand einfach da sei. Vorhin hätten sie sie gedrängt, eine Flasche Sekt zu besorgen. Das Tin habe Sekt nicht auf der Karte. Die Männer hätten gesagt, es gebe etwas zu feiern und sie wolle doch sicher keine Probleme kriegen, daher sei sie in den Supermarkt und ins Haushaltswarengeschäft gegangen. Sektgläser seien im Tin klarerweise auch nicht vorhanden.
»Ich will keinen Sekt«, sagte Kovacs. »Ich weiß«, sagte Szarah. Sie stellte Teegläser, Tonschalen mit Holzlöffeln und einen Korb, gefüllt mit Fladenbroten, auf den Tisch. »Bin gleich wieder da«, sagte sie.
Eleonore Bitterle und George Demski kamen gemeinsam. Demski trug ein rosafarbenes Kurzarmhemd und groß karierte Bermuda-Shorts. »Heirate ihn doch endlich«, sagte Kovacs, »dann zieht er sich vielleicht vernünftig an.« Bitterle zeigte keine Regung. Demski streckte ihm den Mittelfinger entgegen und sagte: »Spießer.«
Die beiden waren seit Jahren ein zusammengeschweißtes Paar, Maigret und Mrs. Brain, wie sie in der Kollegenschaft genannt wurden. Sie dachten gemeinsam nach, sie recherchierten füreinander, sie nahmen einander Aufgaben ab, ganz egal, ob sie einer Sache als Team zugeteilt waren oder nicht. Was daneben zwischen den beiden lief, konnte keiner sagen. Demski behauptete, er sei mit der kontrollierenden Liebe seiner Lebensgefährtin zufrieden, und Bitterle, so hieß es, hatte nach dem Tod ihres Ehemanns keinen anderen Mann an sich herangelassen. Als Mauritz bei der Feier von Demskis Geburtstag vor einem Jahr gefragt hatte: »Bumst ihr eigentlich miteinander?«, hatte Demski gesagt: »Ja, tun wir. Ich liege unter ihr und rede über die Selbsttötung bei Montaigne, und sie sitzt obenauf und erklärt mir das römische Recht.« Kovacs hatte daraufhin Marlene gefragt, was sie von der Konstellation halte, und sie hatte gesagt, die Annahme, die Kopulation sei das Zentrum menschlicher Beziehungen, sei sowieso nichts als ein Riesenblödsinn.
Kovacs deutete mit dem Kopf in Richtung der Schwarzgekleideten. »Habt ihr unsere Freunde gesehen?«, fragte er. Demski nickte. »Sie feiern etwas«, sagte er. »Einer hat überlebt«, sagte Bitterle.
Sabine Wieck habe angerufen und mitgeteilt, sie befinde sich beim Augenarzt, es dauere etwas länger, berichtete Demski, und Mauritz habe gemeint, er gehe lieber ins Bad. Seine Frau sage, Nikolaus müsse schwimmen können, wenn er im Herbst in die Schule komme. »Seit wann hat Sabine irgendwas mit den Augen?«, fragte Kovacs. Die anderen beiden sagten nichts und lachten. Schließlich kapierte er und griff sich an die Stirn. Die Fenster, die Zwillenkugel, sagte er, es sei ein Jammer mit seinem Hirn.
Szarah balancierte ein Tablett auf der flachen Hand. Sie stellte eine Kanne Pfefferminztee und eine bauchige, blau glasierte Keramikschüssel auf den Tisch. »Was ist das?«, fragte Kovacs. »Geeiste Gurkensuppe mit Basilikum und Dille«, sagte Szarah. »Mag ich das?«, fragte Kovacs. »Ja, Kommissar«, sagte sie, »das magst du.« Sie nahm eine würdevolle Haltung ein, verneigte sich leicht und füllte mit einem Porzellanschöpfer die Schalen. »Mahlzeit«, sagte sie. »Bismillah«, sagte Kovacs. Sie lächelte und verneigte sich noch einmal.
Die Suppe war dick, Joghurt, Gurke, Schalotte, das Gemüse fein stückelig, offenbar von Hand geschnitten. Kovacs bog ein Stück Fladenbrot zu einem Löffel, nahm eine Portion von dem Brei auf und biss ab. »Ich mag das«, sagte er und lachte. »Ich auch«, sagte Demski. Er meine, sein Wohlbefinden ganz einer Frau anzuvertrauen, sagte Kovacs. Demski sagte, er meine das Gleiche. »Präfeministisches Patriarchenpathos«, sagte Eleonore Bitterle, die Suppe, die ganz hervorragend sei, könne nichts dafür.
Sie habe sowohl die Protokolle der beiden Suchhundeeinsätze gelesen, erzählte Bitterle, während sie aßen, als auch mit dem Staffelführer persönlich gesprochen. Bei dem einen Einsatz, der den Umkreis des Wohnhauses der Familie Helbich betroffen habe, habe man ein T-Shirt des Mädchens gefunden. Es sei offenbar neben dem Swimmingpool auf einen Strauch gehängt, dort vergessen und in der Folge ins Unterholz verweht worden. Beim zweiten Einsatz habe man das Gebiet zwischen Musikschule und See abgesucht — ohne jeden Erfolg. Der Staffelführer habe gesagt, mit Ergebnislosigkeit könne er gut umgehen, die Angst dieser Mutter sei für ihn allerdings schwer auszuhalten gewesen. Auch dem Großvater habe man die Belastung angesehen. Der Mann habe es sich nicht nehmen lassen, bei beiden Einsätzen selbst mitzugehen. Trotzdem habe er so gewirkt, als halte er seine Enkelin insgeheim bereits für tot. Der kleine Bruder des Mädchens habe sich in erster Linie für die Hunde interessiert, vor allem für Lars, einen an Kinder gewöhnten Riesenschnauzer. Außerdem habe er ständig davon gesprochen, was man den Entführern seiner Schwester antun müsse: ins Gefängnis stecken, tot machen, den Kopf blutig schlagen. Das sei wenig realistisch gewesen, aber nicht so deprimierend wie alles andere.
Der Bruder, Jonas. Als sie unlängst im Haus der Helbichs gewesen seien, habe der Bub dem Entführer noch den Ring seines Großvaters schenken wollen, wenn er seine Schwester freilasse, sagte Kovacs, sie könne sich mit Sicherheit erinnern. Ja, sie wisse es noch genau, sagte Bitterle.
Aus der Sprayerecke gebe es ebenfalls wenig Aufregendes zu berichten, sagte Demski. Farben Pinsel Leinwände Bünker sei ein ausgezeichnet sortiertes Künstlerbedarfsgeschäft mit ausgesprochen freundlichem Personal, und die Angestellte, die man herbeigeholt habe, übrigens die Nichte des Inhabers, habe sich noch genau an die zwei jungen Herren erinnern können. Einer sei blond gewesen, mit längerem Haar, sicher an die eins neunzig groß, der andere kleiner und dunkelhaarig, mit Dreitagebart. Alles habe exakt jener Personenbeschreibung entsprochen, die damals die alte Frau aus dem roten Haus abgegeben habe. Die beiden Männer hätten zwölf Dosen Graffiti-Spray einer eher teuren Marke gekauft, lauter verschiedene Farben, das habe sich anhand der elektronischen Rechnung an Ort und Stelle rekonstruieren lassen. Sie hätten bar bezahlt. Sie, die Verkäuferin, sei neugierig gewesen und habe gefragt, ob man im Internet Arbeiten von ihnen anschauen könne, daraufhin habe der Blonde gesagt, nein, aber vielleicht bald, er bereite sich nämlich gerade auf einen Wettbewerb vor. Abgesehen von den Sprayfarben hätten die beiden zwei Kanister Nitroverdünnung genommen. Das sei ihr anfangs seltsam vorgekommen, und sie habe gefragt, wofür man als Sprayer Nitroverdünnung brauche. Der Blonde habe gelacht und gesagt, Sprayen sei nicht alles, als Künstler verwende man auch heutzutage noch gelegentlich Pinsel, Spachtel und Palette. Diese Dinge wollten gereinigt werden. Der Dunkelhaarige, der eine irgendwie melancholische Ausstrahlung besessen habe, habe in Wahrheit gar nichts gesprochen. So oder so, sie habe die beiden jedenfalls noch nie gesehen gehabt.
»Vergiss es«, sagte Kovacs. Ohne eine echte Konkretisierung der Hinweise werde man KS-Immobilien gegenüber die Empfehlung aussprechen müssen, den Hochdruckreiniger anzuwerfen und das Gemälde auf eigene Kosten zu entfernen. »Da wird der Konrad aber traurig sein«, sagte Demski und grinste. »Ich nehme mir noch etwas«, sagte Eleonore Bitterle und griff zum Schöpfer.
»Darf ich auch?« Petra Lindström beugte sich über den Tisch, fischte sich ein Stück Fladenbrot aus dem Korb und tunkte es in die Gurkensuppe. »Das gehört verboten!«, empörte sich Kovacs. »Entschuldige«, sagte Lindström, »es sieht einfach zu appetitlich aus.« Er meine das Anschleichen, sagte Kovacs, ständig sei es das Gleiche, keiner rechne mit ihr, und plötzlich stehe sie da, wie ein Geist. »Um Mittsommer haben wir diese Fähigkeit«, sagte Lindström und grinste.
»Wer ist wir?«
»Wir Schweden«, sagte sie, »um Mittsommer schweben wir eine Handbreit über dem Boden, und keiner hört uns.« Sie sei nicht die Spur von einer Schwedin, sagte Kovacs. Wenn man von einem schwedischen Ehemann grün und blau geprügelt werde, sei das Schwedische ziemlich unauslöschlich in einem drin — von wegen Spur, erwiderte Lindström. »Setz dich«, sagte Kovacs und schob ihr einen Sessel hin.
Lindström legte einen Briefumschlag auf den Tisch. Demski warf einen Blick drauf. »Aus dem Spital«, sagte er. Ja, sagte sie, sie wisse nicht, warum man den Befund an sie geschickt habe, vermutlich weil sie zuletzt bei der Befragung des Mannes, der vom Apfelbaum gefallen sei, ihre Visitenkarte hinterlassen habe. Mit der Frau, um die es hier gehe, habe sie noch nie zu tun gehabt. Lindström zog ein bedrucktes Blatt aus dem Kuvert und faltete es auf. »Forensisch-molekularbiologisches Labor«, las sie. Die Sache betreffe eine Elisabeth Hämmerle, geboren 1928, stationär an der Intensivstation des städtischen Krankenhauses. Untersuchungsmaterial entnommen mittels bronchoskopischer Absaugung. »Zusammensetzung«, las sie, »Wasser 79 Prozent, Protein 10 Prozent, Lipide 5 Prozent, Rohfaser 0,4 Prozent, Rohasche 2 Prozent. Zusatzstoffe: Eisensulfat 35 Milligramm, Mangansulfat 7 Milligramm, Zinksulfat 44 Milligramm, Vitamin B1 34,2 Milligramm, Vitamin E 19 Milligramm.« Sie schaute auf. »Jetzt kommt es«, sagte sie und las weiter, »Ergebnis: Auf Grund der angeführten Zusammensetzung inklusive der in typischer Konzentration feststellbaren Zusatzstoffe handelt es sich bei der gegenständlichen Probe mit hoher Wahrscheinlichkeit um fertig zubereitete Weichnahrung für Haustiere, am ehesten um im Einzelhandel erhältliches Futter für die Hauskatze. Mit freundlichen Grüßen.«
»Wer ist Elisabeth Hämmerle?«, fragte Demski. Kovacs schob langsam seine Suppentasse von sich. »Notburga«, sagte er, »die Klosterschwester.« Er dachte an Fenchelrisotto, daran, wie diese alte Frau gesagt hatte, es verliere sich alles, und daran, wie sie ganz weiß um die Nase gewesen war. Dann dachte er an die Dinge, die er in sein Notizbuch geschrieben hatte, an die Decke, an die Hölle und an kein Wort.