Am Morgen sehe ich, dass ihr Bett nass ist. Ich ziehe es ab und bringe ihr ein frisches Nachthemd. Sie nimmt es, sitzt mit gesenktem Kopf da und sagt nichts. Ich warte eine Weile, dann frage ich sie, ob sie nicht auch finde, dass es eine gute Idee war, die Matratze mit einer Plastikhülle zu überziehen. Sie schaut zu Boden und nickt.
Ich frage mich, ob es in umgekehrter Analogie zum Stockholm-Syndrom eine Beschreibung der Identifikation des Entführers mit seinem Opfer gibt. Vielleicht lassen manche Entführer ihre Opfer aus Sympathie laufen, ohne einen Preis zu nennen und ohne jemals darüber nachgedacht zu haben, sie zu töten. Ich fürchte, ich gehöre nicht zu ihnen.
Sympathie ist sowieso nicht meine Sache. Ich glaube, Sympathie dient in erster Linie dazu, die Beziehung zu sich selbst abzusichern. Ich nehme im anderen bestimmte Dinge als liebenswert oder zumindest in Ordnung wahr, um mich ihrer in mir selbst nicht ständig vergewissern zu müssen. So etwas brauche ich nicht.
Ich könnte nicht sagen, dass mir das Mädchen sympathisch ist. Groß, pastös, ein wenig arrogant, so ist sie. Ich bin auch arrogant, aber anders.
»Du weißt, welches Bett du im Schlafsaal bekommen hättest«, sage ich etwas später. »Irgendeins«, sagt sie. Ich sage, das neben der Tür. Tränen steigen ihr in die Augen. »Ich bin keine Bettnässerin«, sagt sie, »ich habe das noch nie gemacht.« Ich sage, nein, das könne schon einmal passieren. Außerdem stehe hier drin ein Bett zwangsläufig mehr oder minder neben der Tür, denn der Raum sei nicht sehr groß. Sie fragt, wo ich die nassen Sachen wasche. Ich sage, in der Entführerwaschmaschine. Sie findet das gar nicht lustig.
»Ich werde dir ein Zimmerfahrrad bringen«, sage ich. Sie fragt, warum, und ich sage, erstens, weil es wichtig sei, sich körperlich zu betätigen, und zweitens, damit sie sich nicht so langweile. »Ein Zimmerfahrrad ist langweilig«, sagt sie. Ich sage, der dünne Mann habe eins organisiert, ich werde es jetzt abholen, und sie sagt, sie wird sich hundertprozentig nicht draufsetzen. »Dann halt nicht«, sage ich. Bevor ich gehe, fragt sie mich, ob es heute wieder eine Geschichte gebe, der Einzug in Jerusalem oder so ähnlich. Ich sage, ja, ein Raum und eine Geschichte, so sei es vorgesehen. Sie fragt, welcher Raum, ich sage, der Speisesaal, und sie sagt, sie werde sich die Ohren zuhalten, sie möge diese Geschichten nicht. Ich schaue auf die Uhr und sage, das mit dem Zimmerfahrrad werde zirka eine Stunde dauern, sie könne sich in der Zwischenzeit mit ihrem Gedicht beschäftigen.
Zu zweit tragen wir den Hometrainer die Treppe runter, neunzehn Stufen. Ich öffne die Eisentür, wir tragen ihn den Gang entlang, dann sind wir da. »Das schaffst du jetzt allein«, sagt er, dreht sich um und geht. Ich sperre auf, hebe das Ding über die Schwelle, stelle es an die Wand und schließe hinter mir wieder ab.
Sie sitzt am Tisch und liest ein Buch, das sie sich aus dem Regal genommen hat. Fünf Freunde beim Wanderzirkus. Als ich mich zu ihr setze, schiebt sie das Buch weg und sagt: »Altmodisch.« Ich sage, Freundschaft zwischen Kindern sei nicht altmodisch und einen Hund zu haben auch nicht. Sie sagt, so, wie in dem Buch beschrieben, aber schon.
Der Speisesaal, sage ich. Sie sagt, einen Speisesaal kenne sie, in manchen Hotels, in denen sie mit ihren Eltern Urlaub gemacht habe, habe es so etwas gegeben: ganz viele Tische, jede Menge Lärm, und man finde das Klo nicht. Das Heim habe — im Gegensatz zu den Schlafsälen — nur einen Speisesaal gehabt, erzähle ich. Er habe sich im Haupthaus befunden, im Erdgeschoss, mit Zugang zur Terrasse, unmittelbar neben der Heimküche. Der Boden sei schachbrettartig mit weißen und grauen Fliesen belegt gewesen. Die Tische hätten weiße Resopalplatten und weiß lackierte Metallbeine gehabt und seien zu langen Tafeln für jeweils dreißig Kinder zusammengestellt gewesen. An den beiden Tafeln am linken Rand des Saals hätten sich die Plätze der Mädchen aus dem Schlösschen befunden. »Was soll das sein, das Schlösschen?«, fragt sie. Ich erzähle ihr von den Mädchen im Nebenhaus, zirka fünfzig, halb so viele wie die Buben, von der Zweierreihe, in der man sich zu den Mahlzeiten begeben habe, und von den Erzieherinnen, die anfangs beinahe zur Gänze Klosterschwestern gewesen seien. »Und am Schluss?«, fragt sie. »Da waren es noch drei«, sage ich.
Ich erzähle von Schwester Dietlinde, die auch Lehrerin an der Hauptschule gewesen sei, von ihrem Bambusstab und davon, wie sie im Geschichtsunterricht am allerliebsten vom einfachen Volk und vom Gesindel gesprochen habe. Ich erzähle von Bernadette, die täglich um sechs Uhr morgens mit gewissen Mädchen in die Frühmesse gegangen sei, davon, wie sie die Post der Mädchen geöffnet und gelesen habe, und von den wirklich Auserwählten, die spät am Abend zu ihr ins Zimmer durften. »Oder Notburga«, sage ich. »Welche Notburga?«, fragt sie. »Die Herrin des Speisesaals«, sage ich. »Was meinst du damit?«, fragt sie.
»Zum Beispiel Helga«, sage ich, »so verstehst du es am besten.« »Notburga. Helga. Schon wieder so komische Namen«, sagt sie.
Helga sei sieben gewesen, als man sie ins Heim gebracht habe. Ihr Vater habe versucht, eine Bank auszurauben, habe dabei einen Mann angeschossen und sei ins Gefängnis gesteckt worden. Ihre Mutter habe das nicht ertragen und sich das Leben genommen. Helgas jüngere Brüder seien auch ins Heim gekommen, ins Haupthaus, zu den anderen Buben. Helga sei ein blasses, schüchternes Mädchen gewesen, ausgesprochen dünn, mit weißblonden Haaren. »Woher weißt du das?«, fragt sie mich. »Weil ich sie gekannt habe«, sage ich. Helga habe eine schöne Singstimme gehabt, das habe manche Erzieherinnen milde gestimmt. Die geistlichen Schwestern seien geradezu verzückt gewesen, wenn sie in der Kirche Mein Heiland, Herr und Meister gesungen habe. »Notburga nicht«, sage ich. »Notburga war streng«, sagt sie. Woher sie das nehme, frage ich, und sie sagt, sie könne sich nicht genau erinnern, aber sie habe einmal die Geschichte einer anderen Notburga gehört, die sei auch streng gewesen.
Die meisten Speisen habe man sich an der Ausgabe geholt, erzähle ich. Die Ausgabe, das sei die Verbindung zwischen Speisesaal und Küche gewesen. Man sei mit dem Teller hingegangen und habe von den Küchenhilfen bekommen, was und wie viel man wollte. Manche Gerichte allerdings seien in großen, bauchigen Porzellantöpfen direkt auf den Tisch gestellt worden, Nudelsuppe zum Beispiel, Grießkoch, Semmelkren oder weiße Pilzsauce. Schwester Notburga habe diese Speisen dann eigenhändig ausgeteilt. Ich frage sie, ob man bei ihr zu Hause eigentlich aufessen müsse. Sie sagt, nein, müsse man nicht. Wenn ihr Großvater zum Essen da sei, esse er auf, was bei ihr und Jonas übrig bleibe. Er sage, er sei so erzogen worden, außerdem sei es die Aufgabe eines Großvaters, Müllschlucker zu sein.
Bei Schwester Notburga sei Aufessen oberstes Gebot gewesen. Damit hätten sich manche Mädchen schwergetan, Helga ganz besonders. Sämtliche Speisen aus dem Porzellantopf seien für sie ein Horror gewesen. Schwester Notburga habe das nichts ausgemacht. Sie sei neben ihr gestanden und habe gesagt, sie habe Zeit, als Ordensfrau sei man von Anfang an auf die Ewigkeit ausgerichtet, da komme es auf die eine oder andere Minute nicht an. Bei den Milchnudeln sei es regelmäßig passiert, erzähle ich. »Was?«, fragt sie. »Die Wiederverwertung«, sage ich. Sie sagt, Milchnudeln klinge total grauslich.
Milchnudeln seien Bandnudeln in einer dicken, süßlichen Milchsauce gewesen, ein typisches Freitagsgericht, das es einmal im Monat gegeben habe. Helga habe ihnen gegenüber von Anfang an ein enormes Grausen entwickelt. Schwester Notburga habe ihr trotzdem eine ordentliche Portion auf den Teller geladen, jedes Mal. Und jedes Mal sei der Punkt gekommen, an dem sich Helga nicht mehr habe halten können und erbrochen habe, mitten auf den Tisch. Schwester Notburga habe nicht geschimpft, sondern bloß gelächelt und gesagt, Essen wegzuwerfen sei eine Sünde, das sei daher ein Fall für die Wiederverwertung.
Elvira hält sich die Ohren zu. »Hör auf!«, ruft sie, »ich will das nicht!« »Du musst«, sage ich und rede weiter. Schwester Notburga habe das Erbrochene mit einem Löffel fein säuberlich auf Helgas Teller zurückgeschaufelt, Helga mit Nachdruck am Nacken gefasst und gesagt: »Iss!«
Elvira singt jetzt »Lalalalalala!«, um nichts hören zu müssen. Ich bedeute ihr, dass ich mit der Geschichte fertig bin. Sie hört auf zu singen, gibt die Hände von den Ohren und sagt: »Das ist schon wieder gelogen.« Bei manchen Dingen wünsche man sich, dass sie gelogen seien, sage ich, sie seien aber trotzdem wahr. »Gelogen!«, sagt sie noch einmal. Dann sitzt sie eine Weile schweigend da. Schließlich sagt sie, sie wolle wissen, wie sich die Mutter dieses Mädchens das Leben genommen habe. »Bist du dir sicher?«, frage ich. Sie nickt. »Sie ist mit ihrem Auto auf eine hohe Brücke gefahren«, sage ich, »dort hat sie das Auto auf den Pannenstreifen gestellt, ist übers Geländer geklettert und in die Tiefe gesprungen.« Sie schaut mir direkt in die Augen. »Da ist man gleich tot, oder?«, fragt sie. »Ja, da ist man gleich tot«, sage ich.
Ich frage noch nach dem Gedicht. Sie zögert und schaut durch mich hindurch. Dann sagt sie plötzlich ganz laut: »Mein Schwesterlein klein hub auf die Bein an einem kühlen Ort.« Das sei das Einzige, was sie von dem Gedicht sagen werde, obwohl es auch gelogen sei, denn sie habe gar keine Schwester. »Das hast du sehr gut gemacht«, sage ich. Sie weint jetzt. »Du hast gar nichts gut gemacht!«, schluchzt sie, »du hast nicht einmal einen Entführerbrief geschrieben!«
Doch, sage ich, habe ich schon.