Es gab offenbar Dinge, die waren wie Instrumentensaiten, die irgendwann einmal jemand in einen hineinmontiert hatte. Man merkte sie erst, wenn sie zum Schwingen gebracht wurden. Raffael Horn stand in der Halle der Volksschule und hatte ein Resonanzerlebnis. Es ist fünfzig Jahre her, dachte er, es ist nicht meine Volksschule, und es fühlt sich trotzdem an wie damals: die Stimmen, der Geruch, die Art der Kinder, sich zu bewegen. Der Schulkakao fehlte, außerdem das Spiel, das sie in der vierten Klasse in den Pausen gespielt hatten.
Sabine Frey, die Direktorin, kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Sie trug ein gelbes Kostüm und eine Brille mit getigertem Rahmen. »Spielen sie es noch?«, fragte er, bevor sie etwas sagen konnte. »Wer soll was spielen?«, fragte sie, sichtlich verblüfft. »Die Kinder«, sagte er, »spielen sie noch: Wer traut sich von Stufe sieben?« Wer traue sich was von Stufe sieben, fragte sie, und er sagte: Springen, wer traue sich von der siebenten Stufe runterspringen. Sie schüttelte den Kopf. Das sei viel zu gefährlich und daher verboten, sagte sie, das dürfe nicht gespielt werden. Zu seiner Zeit sei es auch verboten gewesen, sagte er, sie hätten es trotzdem gespielt, in jeder Pause. »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte die Direktorin, sie glaube, das sei gut so. Horn nickte. Das glaube er auch, sagte er. Bei manchen Erinnerungen packe einen die Sentimentalität, das sei ihr sicher vertraut.
»Die vierten Klassen sind oben«, sagte die Direktorin. Während sie die Treppe hochstiegen, erzählte sie, dass die Polizei mehrmals im Haus gewesen sei, einige Uniformierte, eine ausgesprochen nette grauhaarige Kriminalbeamtin und am Ende sogar die Suchhundestaffel. Die Kinder seien befragt worden, gemeinsam und manche von ihnen einzeln, vor allem die besten Freundinnen des Mädchens, ganz wie man es erwarte. Alles sei sehr behutsam vonstattengegangen, sie könne sich nicht beschweren, aber trotzdem. Trotzdem was?, dachte er. »Trotzdem diese Verunsicherung«, sagte die Direktorin, man sei nicht gerüstet für solche Dinge, wer denke schon an eine Entführung. Die Klassenlehrerin könne noch so engagiert sein, allein sei sie zwangsläufig überfordert mit den Phantasien der Kinder. Zombies, Außerirdische, die Verbündeten von Lord Voldemort − es sei unglaublich, was da alles komme. Horn legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. Ausländer hast du vergessen, erstens, dachte er, und zweitens: Warum lässt eine Direktorin ihre Lehrerinnen allein, wenn sie überfordert sind?
Der Gang lag in der Sonne. Schülerzeichnungen hingen an der Wand, Osterhasen, blühende Bäume, Kinder auf Fahrrädern, ein Clowngesicht. Horn erinnerte sich an jene Zeit, in der Michael gezeichnet hatte, Ritterburgen, Autos, Piratenschiffe, am Schluss Raketen, und es wie ein verzweifelter Versuch gewesen war, sein Unvermögen im Schreiben auszugleichen. Er hatte ihn gefragt, warum ausgerechnet Raketen, und Michael hatte gesagt, weil man damit am weitesten wegkomme. Irene hatte lediglich gemeint, Zeichnen sei nicht das ihre, damit kenne sie sich nicht aus. Sie fürchte sich nur vor dem Punkt, an dem Michael beginnen werde, sie als Hexe oder als Alien darzustellen. Michael war damals zwölf gewesen.
Die Kinder standen auf, als sie in die Klasse traten. »Ist das immer noch so?«, fragte Horn. Die Lehrerin lachte. Wenn die Frau Direktor oder jemand Fremder komme, sei das so, ja. Die Zeiten ändern sich doch nicht, dachte er. Die Direktorin schaute pikiert und verabschiedete sich.
»Stella Jurmann«, sagte die Lehrerin und reichte ihm die Hand. »Ich weiß«, sagte er. Sie wurde rot. Es tue ihm leid, sagte Horn, Bauer komme hin und wieder zu ihm. Von ihr erzähle er nur selten. Trotzdem wäre es ihm komisch vorgekommen, so zu tun, als wisse er nicht, wer sie sei. Sie nickte.
»Psychiater wissen immer alles.«
»Schön wär’s«, sagte er.
Sie stellte ihn den Kindern als jemanden vor, der sich mit Menschen beschäftige, die Probleme hätten, mit den Eltern, mit dem Chef oder mit sich selbst, deshalb sei er da. »Oder mit Entführern«, sagte ein speckiger blonder Bub in der ersten Reihe. »Das ist Jakob«, sagte die Lehrerin, »er kennt sich mit Entführungen aus. Er kann sogar das Stockholm-Syndrom erklären.« Da werde er vielleicht einmal Kriminalpsychologe werden, sagte Horn. Der Bub schüttelte den Kopf. Nein, sagte er, er werde Hochhausbauer, das sei aber noch nicht ganz sicher.
Sie räumten die Tische zur Seite und stellten die Sessel in einem Kreis auf. Horn sprach darüber, dass er selbst, im Gegensatz zu ihnen allen, Elvira gar nicht kenne, dass sie Elviras Verschwinden daher viel mehr beunruhigen müsse als ihn, obwohl es ihn auch beunruhige, denn das Verschwinden eines Kindes beunruhige fast alle Menschen. »Wo ist sie?«, fragte Luise, ein dunkelhaariges winziges Mädchen mit Brille, und Horn sagte, es sei wichtig, dass man sämtliche Möglichkeiten durchüberlege: weggelaufen, verirrt, versteckt, alles sei denkbar. Luise sagte, mehrere Tage lang versteckt, das könne sie sich nicht vorstellen, da verhungere man ja. Es gebe im Wald zwar Erdbeeren, aber das reiche nicht, außerdem, wieso verstecken, nur weil sie vielleicht mit den Eltern einen Streit gehabt habe, das finde sie ein wenig übertrieben. Jakob sagte, vor dem Verhungern müsse man sich nicht fürchten, Entführer achteten immer darauf, dass ihre Geiseln ausreichend zu essen hätten, auch ein ordentliches Bett, denn sie hätten es ja auf das Lösegeld abgesehen. Horn war dabei zu bekräftigen, die Vorstellung von einem Bett und genug zu essen sei doch etwas Angenehmes, da sagte Viktor, ein hochgewachsener Bub mit rotblonder Krause, der zwei Plätze rechts neben Jakob saß: »Die geben ihr aber nichts.« »Wie meinst du das?«, fragte Horn. »Mein Vater kennt solche«, sagte Viktor, »er sagt, die geben ihr keinen Bissen, und dann kassieren sie ab.« Stella Jurmann machte eine hilflose Geste. Horn fragte Viktor, woher sein Vater das denn wisse, und Viktor sagte, er bewache diese Leute, in der Burg, Entführer, Autoanzünder und Attentäter. »Autoanzünder?«, fragte Horn. Ja, spät am Abend habe mitten in der Stadt ein Auto gebrannt. »Und Attentäter?« Der Bub nickte. »Ja, Attentäter und Ausnützer«, sagte er. Stella Jurmann schloss die Augen. Dann sei es ja gut, sagte Horn. Wenn sein Vater diese Leute bewache, könne nichts mehr passieren. Viktor schaute zufrieden. »Oder sie ist tot«, sagte er plötzlich. Für ein paar Augenblicke herrschte Stille. Dann begann ein blondes Mädchen mit Zöpfen zu weinen. Stella Jurmann trat auf das Mädchen zu, ging neben ihm in die Hocke und legte ihm den Arm um die Schulter. »Ist schon gut, Clara«, sagte sie, »ist schon gut.« Das Mädchen rechts neben Clara sprang auf. »Sie ist nicht tot!«, rief sie in Viktors Richtung, »du lügst, sie ist nicht tot!« Viktor schaute betreten und sagte nichts. Horn wandte sich an Clara und fragte, ob sie Elviras Freundin sei. Das Mädchen nickte schluchzend. »Die beste Freundin«, sagte die Lehrerin.
Sie sprachen über die Vorstellungen, die man sich mache, wenn ein Mensch verschwinde, über die schlimmen — er könne sich verletzt haben, irgendwo herumirren oder entführt worden sein — und über die ganz schlimmen. Sie sprachen über die Angst, die man bekomme, davor, derjenige könne für immer wegbleiben, und vor dem Bösen, das plötzlich da sei. Sie sprachen über die Wichtigkeit von Angst im Leben des Menschen überhaupt und darüber, warum sie zu engen Beziehungen dazugehöre, dass es daher ganz normal sei, als beste Freundin Angst zu haben und als Familie erst recht. Clara stand auf. »Ich habe ein Bild von ihr«, sagte sie. Sie ging zu ihrem Fach, kramte herum und zog ein Blatt Papier hervor. »Ich bin drauf«, sagte sie, »sie hat es für mich gemalt.«
Auf dem Bild war Elviras Familie zu sehen, Mutter, Vater, Großvater, am rechten Rand der jüngere Bruder. In der Mitte standen nebeneinander zwei Mädchen, eins mit gelben Zöpfen und eins mit pinkfarbener Brille. Vor ihnen saßen zwei riesige Hasen mit Hängeohren in der Wiese, einer braun, der andere weiß mit schwarzen Flecken. »Das sind Methusalem und Kleopatra«, sagte Clara, »sie sind wirklich so groß.«
Bevor sie Schluss machten, sprach Horn noch darüber, dass gute Vorstellungen und Wünsche zwar keine Zauberkraft besäßen wie im Märchen, dass es aber für alle besser sei, sie zu haben, als sie sich ausreden zu lassen. Niemand könne sagen, wann Elvira wieder zurückkomme, aber jeder könne sich zum Beispiel vorstellen, es passiere morgen oder übermorgen. »Morgen«, sagte Clara. »Ich glaube nicht«, sagte Jakob. Er hob die Hand. »Darf ich noch das Stockholm-Syndrom erklären?«, fragte er. Horn schaute zur Lehrerin hinüber. Sie verdrehte die Augen. Es tue ihm leid, aber er glaube, das passe jetzt nicht, sagte Horn.
Stella Jurmann begleitete ihn zum Schultor. »Was denken Sie?«, fragte sie. Er habe keine Ahnung, sagte Horn, die meisten Kinder würden irgendwann wieder auftauchen. »Regina glaubt, sie ist ertrunken«, sagte sie. Ein See, ein Fluss, ein Kind, das sei keine gute Kombination. »Wer ist Regina?«, fragte er. »Meine Schwester«, sagte sie, »sie arbeitet mit Joseph im Come In.« Ein Dreieck, dachte Horn, zwei Schwestern und ein Benediktinerpater. Zugleich dachte er an die beiden Kaninchen auf dem Bild des verschwundenen Mädchens, schließlich an das Wort, das der Bub gebraucht hatte: Ausnützer. Er hatte es noch nie gehört. Stella Jurmann lachte. Er schaute sie fragend an. »Meine Schwester ist nicht so«, sagte sie.
Er nahm den Weg durch die Altstadt, die direkte Linie, ging durch zwei Hinterhöfe und überquerte den Parkplatz eines Baumarkts. Wenn man die Schleichwege kannte, war man an einem Ort zu Hause. Manchmal brauchte er dieses Gefühl. Er dachte an sein Haus, daran, wie Irene und er sich vor mehr als dreißig Jahren entschlossen hatten, es zu kaufen, wie er sie zweifelnd angeschaut und gesagt hatte: »Aber es ist so verwinkelt«, und sie geantwortet hatte: »Genau deswegen.« Er dachte an den Blick über die Stadt, an die beiden schiefen Baumstämme hinter der Scheune und an Tobias in der Wiese, mit der Kettensäge in der Hand. Er erreichte die Ache, folgte ihr ein kurzes Stück flussabwärts und stieg über die alte Steintreppe rauf zur Severinbrücke. Vom Brückenscheitel aus schaute er über das Schilf auf den See. Abgesehen vom üblichen Dunst war der Himmel wolkenlos. Die Namen Methusalem und Kleopatra fielen ihm ein, und dann dachte er daran, dass man sich viel zu selten den Luxus gönnte, mit Kindern zu reden.
Leonie Wittmann erwartete ihn an der Stationstür. »Gehst du, oder gehe ich?«, fragte sie. »Gehe ich wohin?«, fragte er. Benjamin, sagte sie, Erstanhörung, die Richterin und die Patientenanwältin seien schon da. Ich habe gar nichts mehr im Griff, dachte er, weder meine Frau noch meinen Sohn, meine Termine schon gar nicht. »Bei den Terminen muss ich dir recht geben«, sagte Wittmann. Er griff sich an die Schläfen. »Wie würdest du das nennen, was da in mir abläuft?« Gedankenlautwerden, sagte sie, erhöhte Durchlässigkeit oder einfach genug ist genug. »Es wird mit den Jahren mehr«, sagte er, und sie sagte, das sei ihnen allen nicht verborgen geblieben. »Ich gehe trotzdem«, sagte er. Sie hob beide Arme. »Ganz wie du willst.« Was er wissen müsse, sei, dass Benjamin auf die Ankündigung der Verhandlung absolut panisch reagiert habe. Er habe erst versucht, die Zimmertür zu verbarrikadieren, dann, sich im Kleiderschrank einzuschließen. Die ganze Zeit habe er gerufen: »No judgement, please, no judgement!«, und die Botschaft, dass es ausschließlich um die Rechtmäßigkeit der Behandlung gegen seinen Willen gehe, habe er nicht einmal in Ansätzen wahrgenommen. »Wo ist er jetzt?«, fragte Horn. »Unterm Bett«, sagte Leonie Wittmann. Mit seiner Decke und seinem Foto habe er sich dort verschanzt. Herbert stehe in der Tür und achte darauf, dass sie offen bleibe.
Die Richterin war eine rundliche Person, die Horns Einschätzungen der Selbst- oder Fremdgefährlichkeit eines Menschen noch nie in Frage gestellt hatte. Entsprächen die Maßstäbe eines anderen im Großen und Ganzen den eigenen, lohne es sich nicht, über Details zu streiten, pflegte sie zu sagen. Außerdem sagte sie, sie lasse es sich von niemandem verbieten, vernünftig zu sein. Die Patientenanwältin — schlank, straff zurückgebundenes Haar, Mitte dreißig — war neu. Horn konnte sie nicht einschätzen. Sie hatte ein Tablet vor sich liegen, auf das sie ab und zu tippte. Herr Al-Sadek habe abgelehnt, mit ihr zu reden, sagte sie. Ihrerseits habe es diesbezüglich mehrere Versuche gegeben − sie wünsche, dass das zu Protokoll genommen werde. Selbstverständlich, sagte die Richterin und schrieb etwas in ihr Notizbuch.
Horn erzählte von Benjamins Herkunft, vom Verlust seiner Familie, von seiner Flucht und von den Ereignissen im Quartier. Dann erzählte er vom Kastanienbaum und der Türschnalle, vom Poltern, das die Kollegin gehört habe, und davon, wie gering die Mittel waren, die einem zur Verfügung standen, wenn ein Mensch wirklich sterben wollte. Die Patientenanwältin hob die Hand. Sie wolle die Sache nicht unnötig kompliziert machen, aber sie frage sich, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gebe. Horn stutzte. »Nämlich?«, fragte er. Der Mann habe doch einen unsicheren Asylstatus, sagte sie, und sie selbst sei psychiatrisch auch mehr oder minder ein Laie, aber angesichts der gewissen Theatralik der Umstände habe sie sich die Frage gestellt, ob in diesem Fall nicht eine spezifische Absicht … Nein, dachte Horn, nein! Es müsse doch möglich sein, im Verhandlungskontext so etwas zu besprechen, sagte die Patientenanwältin. Horn stand auf. »Was ist?«, fragte die Frau. »Ich zeige Ihnen die Strangmarke«, sagte Horn, »und das Foto wollen Sie doch sicher auch sehen.« Die Frau hob abwehrend die Hand. Sie habe das Gefühl, sie werde missverstanden. Sie habe nicht das Gefühl, sagte die Richterin, außerdem müsse man sich sowieso zu dem jungen Mann begeben. Wenn er nicht in die Verhandlung komme, komme die Verhandlung zu ihm.
Herbert stand in der Tür und deutete unters Bett. »Seit einer Stunde«, sagte er. »Spricht er etwas?«, fragte Horn. Herbert schüttelte den Kopf. Einmal habe er ihn Verräter genannt, das sei alles gewesen. »Wovor fürchtet er sich?«, fragte die Richterin. »Vor Ihnen«, sagte Herbert und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Die Richterin blickte an sich hinab, grinste ebenfalls und sagte, das verstehe sie. Sie ging in die Knie, um unters Bett zu schauen. »Mister Al-Sadek«, sagte sie, »I’m the judge who has to check if the treatment against your will here in this hospital is justified or not. According to our law we are not allowed to let you kill yourself, so I tend to consider a treatment against your will as okay unless you stay here voluntarily.« Nichts geschah. »Can you hear us?«, fragte Horn nach. »Go away!«, rief Benjamin plötzlich, »go away, you Nazi-Judge! You traitors! You just want to send me back, I know it!« Die Patientenanwältin zog die Augenbrauen hoch. »Nazi-Judge«, wiederholte sie. Die Richterin streckte Herbert die Hand hin. Er half ihr hoch. »Da geht momentan nichts«, sagte sie. Es ergehe daher unter der Zeugenschaft der Anwesenden mündlich folgender Spruch: Die Anhaltung werde für vorläufig zulässig erklärt, zur fachlichen Überprüfung ein externer Gutachter bestellt und die nächste Verhandlung für in vierzehn Tagen anberaumt. Die Patientenanwältin hüstelte. Sie habe gedacht, man zeige ihr die Strangmarke und dieses Foto, sagte sie. »Sie können es ja versuchen«, sagte die Richterin und wies unters Bett, »das Foto hat er bei sich, schätze ich, die Strangmarke sowieso.« Jetzt würde ich sie gern umarmen, dachte Horn. Die Richterin wandte sich um. »Nur zu«, sagte sie.
Abgesehen von seiner panischen Angst vor allem, was mit Polizei oder Gericht zu tun habe, verhalte sich Benjamin völlig angepasst, erzählte Herbert etwas später beim Kaffee. Er sei höflich, lache gern, spiele hervorragend Tischtennis und Schach, zeige ein deutliches Interesse für Ayshe, eine der Schwesternschülerinnen, und fresse wie ein Scheunendrescher. Das mache ihn, Herbert, in seiner simplen Mütterlichkeit so richtig froh. Besuch habe Benjamin noch keinen erhalten, einen habe man mit der Unterstützung der Frau Oberärztin abgewehrt, davon wisse Benjamin allerdings nichts. Horn schaute zu Leonie Wittmann. »Ich auch nicht«, sagte er. »Sei froh, dass du nicht alles weißt«, sagte sie.
Das Ganze sei nach der Morgenbesprechung passiert, erzählte sie. Er, Horn, sei in der Schule gewesen, daher habe Andrea Emler sie angerufen. Es stünden ein paar drängende Polizeibeamte am Empfang und wollten unbedingt mit Benjamin Al-Sadek sprechen. Es gehe um strafrechtlich relevante Dinge. Sie habe die Herren erst einmal warten lassen, um das richtige Maß an Zorn in sich hochzuladen, erzählte Leonie Wittmann. Das tue sie immer, wenn jemand dränge. Die zwei Herren in Zivil hätten sich dann als SEA-Beamte ausgewiesen, Sondereinheit Ausreise, der dritte sei ein Typ in schwarzer Uniform gewesen, Security aus der Burg. Es bestehe der begründete Verdacht, dass Benjamin Al-Sadek eine gezielte Gewalthandlung gegen einen Vertreter des Sicherheitsdienstes gesetzt und sich danach der behördlichen Verfolgung entzogen habe. Daher sei es unbedingt notwendig, mit ihm zu reden. Sie habe gesagt, notwendig sei gut und schön, aber unmöglich sei stärker, aus medizinischen Gründen unmöglich sei besonders stark. Das habe den Ton der Herren so verschärft, dass sie sich ihrerseits zur Frage veranlasst gesehen habe, worum es sich bei der SEA eigentlich handle. Wenn sie sich richtig erinnere, habe es vor langer, langer Zeit eine Sondereinheit der Polizei gegeben, die sich ganz intensiv mit der Außerlandesschaffung von Menschen befasst habe. Ob die SEA ein ähnliches Profil aufweise. Einer der beiden SEA-Typen habe sich daraufhin ihren Namen aufgeschrieben und eine der üblichen dumpfen Drohungen ausgestoßen: Das werde Folgen haben, sie werde von ihnen hören, man wisse, wohin man sich zu wenden habe. Es sei egal, es passiere in solchen Situationen sowieso nie etwas. »Hast du das Wort ausgesprochen?«, fragte Horn.
»Du meinst das gefährliche?«
»Es beginnt mit G und hört mit ESTAPO auf.«
Erstens sei sie kein Trottel, sagte Leonie Wittmann, und zweitens wolle sie ihm nicht um jeden Preis Schwierigkeiten bereiten. Natürlich habe sie nichts gesagt. Derjenige, der sich wie ein Nazi verhalte, mache den Umstand, dass das ausgesprochen werde, zum Skandal − das sei das kleine Einmaleins pathologischer projektiver Abwehr. Sie denke, so etwas könne sie vermeiden. Herbert schaute Leonie Wittmann bewundernd an. Er wäre zu gern dabei gewesen, sagte er. Sie lachte. »Wieso?«, fragte sie. »Reiner Voyeurismus«, sagte er. »Du lügst«, sagte sie, »du liebst es, in die Gesichter von Arschlöchern zu schauen und in ihnen die Frage zu sehen, wie es sich wohl anfühlt, von dir eine geknallt zu bekommen.« Jetzt lachte er auch. »Touché«, sagte er. »Woher kennst du dieses Wort?«, fragte sie. »Ich bin auch kein Trottel«, sagte er.
Horn fragte, ob es sonst Berichtenswertes gebe. Flora Altenburg, die gerade das letzte Stück einer Laugenbrezel verdrückte, sagte, ja, Eugen Wild sei gegangen. Er habe zum Abschied gesagt, es gebe Verbrecher, die ab einem bestimmten Punkt in ihrem Leben ohne Gefängnis nicht mehr auskämen, und auf ihren Einwand, er sei alles andere als ein Verbrecher, habe er gesagt, viel schlimmer, er sei ein Selbstmörder, der es nicht einmal schaffe, sich von einem Betonmischwagen überrollen zu lassen. Mit anderen Worten − er sei einer, dem am Ende die geweihte Erde verwehrt bleiben werde, und zugleich ein Maximalversager. Selbst im Elend sei er noch ein Hinterbänkler. »Er geht und ist mit einem Bein schon wieder da«, sagte Altenburg, irgendwie sei das frustrierend. »Etwas Besseres als den Tod findest du überall«, sagte Herbert aus dem Nichts. »Was soll das heißen?«, fragte Flora Altenburg. Er habe keine Ahnung, sagte Herbert, es sei ihm plötzlich eingefallen. Er glaube, es stamme aus einem Kinderbuch, am ehesten von Astrid Lindgren, Ronja Räubertochter oder Die Brüder Löwenherz. »Die Bremer Stadtmusikanten«, sagte Leonie Wittmann. »Bist du dir sicher?«, fragte Horn. Der Esel sage es zum Hahn, sagte sie, sie sei sich sicher. Es sei in Wahrheit einer der zentralen revolutionären Sätze. Der Geknechtete, Minderwertige, Ausgesonderte erkennt, dass er einen Handlungsspielraum besitzt, und sei es nur den, wegzugehen. Oder den, wiederzukommen, dachte Horn. »Wann hat Wild seine nächste ambulante Kontrolle?«, fragte er. »In drei Wochen«, sagte Flora Altenburg. »Bestellen Sie ihn früher«, sagt Horn. Er dachte an Betonmischwägen, an Kabelbinder, an Erzengel und Ministerinnen, die Macht über einen gewannen und einen abstießen, wenn es ihnen passte. Am Schluss dachte er an das gute alte Erhängen. Das beunruhigte ihn.
Er räumte seine Kaffeetasse in den Spüler und blickte fragend in die Runde. Spreche irgendetwas dagegen, dass er früher nach Hause gehe? Es gebe da etwas mit seinem Sohn zu regeln. Außerdem habe ihm diese neue Patientenanwältin den Nerv gezogen. Er habe das Gefühl gehabt, sie halte eine Strangmarke für eine Art Halskette, sagte Herbert. »Sie wird eine Weile brauchen, bis sie merkt, dass sie im falschen Beruf ist«, erwiderte Horn und wandte sich zum Gehen.
Leonie Wittmann hob die Hand. Sie wisse, das komme jetzt ungelegen, aber da sei noch etwas. Horn kniff ein Auge zu und schaute sie an. »Jakob Wenzel«, sagte sie. »Jakob wer?«, fragte er. Eugen Wild sei gegangen, und Jakob Wenzel sei gekommen, sagte sie.
»Ein Neuer?«
»Jimi!«, sagte Herbert und tat so, als würde er auf einer E-Gitarre spielen. Horn griff sich an die Stirn. Er sah den hageren Mann auf dem Bett sitzen, mit aufgerissenen Augen und Kopfverband, sah ihn an der Decke herumzupfen und hörte ihn wimmern. »Hat er sich erfangen?«, fragte er. Ja, das habe er, sagte Leonie Wittmann, er brauche jede Menge Tranquilizer, aber die Symptome des Alkoholentzugs seien praktisch verschwunden. Das sei allerdings nicht der Punkt.
»Sondern?«
In der ersten Nachthälfte sei Jakob Wenzel noch massiv von Ängsten und Halluzinationen geplagt gewesen. Er sei vor seinem Bett gekniet, habe die Arme über dem Kopf und vor dem Gesicht gehabt und permanent geschrien, nein, bitte nicht, er wolle nicht, er wolle den Siegelring nicht. Kurz nach Mitternacht sei er eingeschlafen, und am Morgen sei der Spuk dann vorbei gewesen. Sie habe sich beim Frühstück zu ihm gesetzt und ihn gefragt, ob er sich erinnern könne, an sie oder daran, was passiert sei. Er habe zuerst gesagt, nein, könne er nicht, er erinnere sich an einige Bruchstücke an der Unfallabteilung, zum Beispiel an seinen Bettnachbarn, der auch etwas mit dem Kopf gehabt habe. Das sei aber auch schon alles. Als sie nicht lockergelassen und gesagt habe, die Psychiatrie sei doch dazu da, es Menschen zu ermöglichen, die wirklich schwierigen Dinge zu besprechen, habe er noch ein paarmal von seinem Brot abgebissen. Dann habe er gesagt: »Es waren vier.« Sie habe gefragt, was er damit meine, und er habe gesagt: »Vor dem Lokal. Es waren vier.« Er sei aus der Cantinetta gekommen, ziemlich betrunken, wie immer, wenn Antonio eine neue Grappa-Lieferung bekomme, habe noch überlegt, ob er nicht gleich ein Taxi rufen solle, da seien sie plötzlich da gewesen, wie aus dem Nichts, alle mit Kapuzen auf ihren Köpfen. »Einer links, einer rechts«, habe er gesagt, zwei hätten sich untergehakt, was ihm in seiner Verfassung nicht unrecht gewesen sei. Sie hätten ihn auf ein Wiesenstück geführt, das sei das eine, woran er sich erinnere, das andere, dass einer der vier ein wirklich mächtiger Mensch gewesen sei. Sie hätten ihn aufgefordert, sich in die Wiese zu knien, der Große sei vor ihm gestanden wie ein Berg, dann sei es passiert. Was sei passiert, habe sie gefragt, und der Mann habe wortlos auf seinen Kopf gezeigt.
Er habe plötzlich sehr erschöpft gewirkt, außerdem so, als steige der Schrecken wieder in ihm hoch. Sie habe ihn daher gefragt, ob er aufhören wolle. Er habe verneint, und sie habe gesagt, sie habe eh nur noch eine Frage, nämlich, was es mit diesem Siegelring auf sich habe. Er habe genickt: Ja, man habe ihm erzählt, dass er das im Delirium von sich gegeben habe. Er habe keine Ahnung, aber in so einem Zustand rede man doch nur wirres Zeug. Als sie von ihm wissen habe wollen, ob er selbst einen Siegelring besitze, habe er gelacht und gesagt, nein, er habe in seinem Leben eine einzige Person mit einem Siegelring gekannt, und das sei schon ewig her. Es sei sein Direktor gewesen. Sie habe gefragt, in welche Schule er damals gegangen sei, und er habe gesagt, er spreche nicht von einer Schule, sondern von dem Kinderheim, in dem er über viele Jahre hinweg gearbeitet habe. In einem Kinderheim gebe es auch einen Direktor.
»Es fühlt sich komisch an«, sagte Eleonore Bitterle. »Was? Die Sache mit dem Siegelring?«, fragte Horn. Nein, die nicht, sagte sie, der Siegelring sei symbolisch interessant — Geheimbund, Siegel der Verschwiegenheit, et cetera —, ihr komisches Gefühl habe eher mit den vier Gestalten zu tun, von denen Jakob Wenzel gesprochen habe. »Hältst du sie für real?«, fragte Horn. »Ich weiß nicht«, sagte sie, so konkret und detailreich wie der Mann die Szene beschrieben habe, komme sowohl ein wahnhaft-halluzinatorisches Erlebnis als auch die Wirklichkeit in Frage. Andererseits, und das mache wahrscheinlich ihre Irritation aus, wirke die ganze Inszenierung so unglaublich theatralisch − die Kapuzen, das Eskortieren auf die Wiese, die Art der Verletzung sowieso. »Vielleicht hat er alles erfunden«, sagte sie. Dann sagte sie, sie werde trotzdem die Polizei informieren. Horn überlegte. »Wie hast du damals gesagt?«, fragte er.
»Wann damals?«
»Als du mich auf U14 rufen hast lassen.«
»Eine Schicht Sand auf glattem Eis.«
Genau, sagte Horn, er habe damals an absurde Kombinationen gedacht, an Dromedare in der Arktis oder an Eisbären in der Wüste. Herbert stand auf, tanzte tapsig durch den Raum und summte Probier’s mal mit Gemütlichkeit. »Baloo ist aber kein Eisbär«, sagte Flora Altenburg. »Eh nicht«, sagte Herbert, »aber Jimi hat’s mit der Musik.« »Und was heißt das?«, fragte Horn. »Keine Ahnung«, sagte Herbert, »ist mir eingefallen, wie ihr so gescheit dahergeredet habt.« Er glaube, gute Musik passiere dort, wo Realität durch Inszenierung erträglich gemacht werde. Er stellte sich breitbeinig hin, warf den Kopf in den Nacken und begann Luftgitarre zu spielen und zu singen: »There must be some kind of way out of here /Said the joker to the thief / There’s too much confusion / I can’t get no relief.« Flora Altenburg zog missbilligend die Nase kraus. »Was soll das sein?«, fragte sie. »All Along The Watchtower«, sagte Leonie Wittmann.
»Kenne ich nicht.«
»Ist auch nicht von Mozart«, sagte Herbert und grinste. Horn dachte an den Club 27, an das Leuchten in den Augen Herberts, wenn er über die Eleganz einer Fender Stratocaster sprach, und daran, dass er selbst alt wurde, auch wenn er sich nicht so fühlte. Dann dachte er daran, wie sehr Leute wie Herbert die Atmosphäre an seiner Abteilung bestimmten, und er fragte sich, wann dieser Mann mit den riesigen Händen zuletzt selbst Gitarre gespielt hatte.
Er fuhr mit offenen Fenstern. Er mochte es, wie sich auf dem Weg aus der Stadt die Luft veränderte, wie es kühler wurde und wie es in den Kurven, die aufwärts zu seinem Haus führten, plötzlich nicht mehr nach See, sondern nach Wald roch. Er sah die Kiefern, die Martin Schwarz weiß markiert hatte, und an der Stelle, an der der Himbeerschlag an die Straße reichte, sah er, dass die Beeren inzwischen reif waren.
Horn stellte sich vor, wie er zuallererst hinters Haus gehen, den Deckel der Mülltonne heben und sehen würde, dass der schwarze Sack weggeräumt war. Er würde sein Arbeitszimmer betreten, die Dose Minneapolis Premium Pink aus dem Schreibtisch holen, sie Tobias präsentieren und ihm die notwendigen Fragen stellen. Tobias würde es die Sprache verschlagen. Ich brauche die Vorstellung, meinen Sohn zu kontrollieren, dachte er, und ich brauche die Vorstellung, zu gewinnen. Ab und zu stellte er sich vor, Tobias überhaupt aus dem Haus zu jagen, ihm die Koffer vor die Tür zu stellen und zu sagen: »Verschwinde!« Dann fühlte er sich für einen Moment so richtig befreit. Danach ging es ihm tagelang schlecht. Irene erzählte er von diesen Dingen nichts.
Er schloss das Garagentor und schritt auf das Haus zu. Tobias saß unter dem Sonnenschirm und rührte sich nicht. Er schläft, dachte Horn. Als er näher kam, zeigte Tobias in Richtung Scheune. An der Ecke hockte eine grau getigerte Katze vor einem Teller und fraß. »Was ist das?«, fragte Horn. »Eine Katze«, sagte Tobias.
»Das sehe ich. Wem gehört sie?«
In Bezug auf Katzen über Besitzverhältnisse zu sprechen heiße, sie als Sache zu betrachten, sagte Tobias. Das lehne er ab. Eine Katze gehöre sich selbst, sonst niemandem. »Du bist ein Depp«, sagte Horn, »du weißt genau, was ich meine.« Er habe keine Ahnung, sagte Tobias, er glaube, die Katze gehöre niemandem. »Eine Streunerin«, sagte Horn. Wenn er so wolle. Sie nehme Futter, verhalte sich aber ansonsten extrem reserviert. Außerdem sei sie eine behinderte Streunerin. Horn fragte, wieso behindert, und Tobias sagte, sinnesbehindert. »Sie schielt.« Woher er das wisse, fragte Horn. Tobias sagte, woher wohl, die Katze habe es an den Augen, nicht er.
Horn setzte sich. »Ich muss mit dir reden«, sagte er. »Ich auch«, sagte Tobias. Es sei wegen Malik. »Freund Malik«, sagte Horn, »welche Funktion hat er denn gerade?«
»Wie meinst du das?«
»Assistent, Lehrer, künstlerischer Beistand − was ist er?«
»Schlafgast«, sagte Tobias. Im Übrigen möge er die Art nicht, in der er Freund Malik sage. Horn fragte, was Schlafgast heiße, das klinge nach einem heruntergekommenen Fremdenverkehrsbetrieb, und Tobias sagte, Malik könne momentan nicht ins Quartier. Man beschuldige ihn der Beteiligung an Widerstandshandlungen gegen die Polizei und den Sicherheitsdienst und warte nur darauf, ihn festnehmen und abschieben zu können. Außerdem habe er eine gefährliche Stichwaffe verschwinden lassen. Tobias zeichnete Gänsefüßchen in die Luft. Zuletzt habe Malik zweimal auf einem Notschlafplatz im Come In genächtigt, länger gehe das allerdings nicht. »Er schläft bei dir — das willst du mir sagen, oder?«, fragte Horn. Tobias wiegte den Kopf hin und her. Das treffe es nicht genau.
»Sondern?«
»Er schläft bei uns«, sagte Tobias. »Bei uns?«, fragte Horn. Tobias deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. »Im Stall«, sagte er. Er habe mit Malik eine der Reservematratzen vom Dachboden geholt und ihm etwas von seinem Bettzeug gegeben. Horn dachte an die Musikanlage, an seine Bücher und an Irenes Noten. »Wie stellst du dir das vor?«, fragte er. Das sei die spießigste Frage überhaupt, sagte Tobias − so, wie es momentan sei, genau so stelle er sich das vor. Seine widerwärtigen Befürchtungen könne er sich übrigens sparen, Malik sei Künstler und kein Dieb.
Horn legte seine Hände flach auf den Tisch. Apropos Künstler, sagte er. Tobias beugte sich vor. »Wir waren es«, sagte er. »Ihr wart was?«, fragte Horn. Er gehe davon aus, dass er in die Mülltonne geschaut, die leeren Spraydosen gefunden und eins und eins zusammengezählt habe, sagte Tobias. »Gefällt es dir wenigstens?«, fragte er. Horn sah die Dose Minneapolis Premium Pink vor sich und dachte an seine Vorstellung, Tobias aus dem Haus zu jagen. »Ich müsste mir’s anschauen«, sagte er. Er habe lediglich die Bilder in der Zeitung gesehen. »Ich — Jamie Foxx, Malik — Hagia Sophia«, sagte Tobias und strahlte. »Was erwartest du jetzt von mir?«, fragte Horn. Tobias schaute ihm in die Augen. Dass er das tue, wovon er immer wieder behaupte, dass es seinen Patienten gegenüber das Wichtigste sei — stillhalten.
Horn blickte sich um. »Wo ist Malik eigentlich?«, fragte er. »Er schläft«, sagte Tobias. Die Nacht sei anspruchsvoll gewesen. Horn schaute ihn fragend an. Nicht, was er denke, sagte Tobias, sondern Kunst im öffentlichen Raum. »Last Men Standing?«, fragte Horn. Nein, die seien längst fertig − etwas anderes, viel flüchtiger, viel effektvoller, viel politischer. Horn schaute übers Dach in die Baumwipfel. Zuerst dachte er, dass er den Dolch made in Pakistan gern einmal selbst in Händen halten würde. Dann fiel ihm ein, was dieser große, rothaarige Bub in der Volksschulklasse erzählt hatte. Er fixierte Tobias. Er werde jetzt gehen und noch einmal in die Mülltonne schauen, sagte er, er sei schon neugierig. Tobias hielt seinem Blick stand. Den Weg könne er sich sparen, sagte er. »Aha«, sagte Horn, »weil?«
»Zwei Plastikkanister, jeweils drei Liter, leer.«
»Was war drin?«
»Nitroverdünnung.«
Horn strich sich seitlich über die Nase. »Noch einmal: Was erwartest du von mir?«, fragte er. »Immer noch das Gleiche«, sagte Tobias, »stillhalten. Du bist mein Vater.«
Die Katze saß neben dem leeren Teller und putzte sich. Sie war ein großes, kräftiges Tier. Warum zeigt sie mir ihre Augen nicht?, dachte Horn. »Sie mag nicht jeden«, sagte sein Sohn.