Sie hat rote Wangen und schwitzt. Gleichzeitig wirkt sie zufrieden. »Ich bin heute schon vier Kilometer gefahren«, sagt sie. »Gratuliere«, sage ich, »Bewegung tut gut.« »Mir ist sonst fad«, sagt sie, »deswegen tu ich es.« Im Übrigen sei der Sattel zu hoch eingestellt, und wenn sie rechts ganz kräftig trete, quietsche das Pedal. »Das macht nichts«, sage ich. »Mir schon«, sagt sie, das Quietschen mache sie nervös.
»Ich bin durstig«, sagt sie. Im Kühlschrank seien Saft und Milch, sage ich, und wenn man im Badezimmer den Hahn öffne, komme Wasser aus der Leitung. Eine Sekunde lang schaut sie beleidigt, dann springt sie vom Zimmerfahrrad, geht zum Kühlschrank und gießt sich Apfelsaft in ein Glas. »Mir kommt vor, du bist ein wenig verwöhnt«, sage ich. Sie schüttelt den Kopf. Seit Jonas auf der Welt sei, sei sie gar nicht mehr verwöhnt. Er schon, sie nicht. Ihr Vater sage, sie sei groß und selbständig. Ihr Großvater sage das auch.
Ich setze mich an den Tisch. Sie nimmt ihr Glas und setzt sich übereck. Ich hebe den Zeigefinger. Sie schaut vor sich auf die Tischplatte und beginnt zu sprechen. »Mein Schwesterlein klein / Hub auf die Bein / An einem kühlen Ort; / Da ward ich ein schönes Waldvögelein; / Fliege fort, fliege fort!« Sie hebt den Kopf.
»Die hässlichen Zeilen sag ich nicht!«
Das sei verständlich, sage ich, aber komplett sei die Sache nur, wenn man auch die hässlichen Zeilen spreche. »Die kannst du selber sprechen«, sagt sie. Dann fragt sie mich, wie ich überhaupt auf dieses blöde Gedicht komme, es gebe viel schönere, auch lustige. Dieses sei gar nicht lustig. Ich sage, es spiele keine Rolle, wie es gekommen sei, es müsse einfach sein. »Wie die Entführung?«, fragt sie, und ich sage, ja genau, wie die Entführung.
Heute das Büro, sage ich. Sie möge kein Büro, sagt sie, ein Büro sei total langweilig. Ihr Vater habe eins, Konferenztisch, schwarze Sessel und an den Wänden Bilder, auf denen Dinge aus Eisen zu sehen seien. Das Büro müsse trotzdem sein, sage ich, es sei vielleicht der wichtigste Raum. »Warum?«, fragt sie. »Weil es dem Direktor gehört hat«, sage ich.
Sie solle es sich so vorstellen: Man gehe einen Gang entlang, auf glatten cremefarbenen Steinplatten. Sie fragt, was cremefarben sei. Ich sage, beige, eine ruhige Farbe, wie Kaffee mit viel Milch, und sie sagt, sie möge keinen Kaffee, auch nicht mit viel Milch. Rechts seien hohe Rundbogenfenster, links dieTüren zum Konferenzraum und zum Besucherzimmer. Sie fragt, welches Besucherzimmer. Ich sage, der Raum, in dem die Kinder ihre Eltern sehen durften, alle zwei Wochen, wenn es davor keine Probleme gegeben habe. Sie solle sich vorstellen, dass es noch ein Stück gerade weitergehe, direkt auf eine große, doppelflügelige Tür zu. Rechts neben der Tür hänge ein Schild. Heimleitung. Darunter der Name des Direktors. Schwarze Schrift auf weißem Grund, unter einer Glasplatte. Sie solle sich vorstellen, dass man zirka in Brusthöhe nach vorn greife und die Messingschnalle runterdrücke. Die Tür gehe zum Gang hin auf und habe innen eine Polsterung aus dunkelgrünem Kunstleder. Man mache noch zwei, drei Schritte. Jetzt stehe man im Büro.
»Wieso erzählst du mir das so komisch?«, fragt sie. Ich sage, weil sie wissen soll, wie es sich angefühlt hat, auf diesen Raum zuzugehen. »Was du gesagt hast, war ganz normal«, sagt sie, und ich sage, ja, das war ganz normal.
Der Boden im Büro sei aus dunkler Eiche gewesen, an manchen Stellen beinahe schwarz. Mitten im Raum sei eine Milchglaskugel von der Decke gehangen wie ein großer Mond. Aktenschränke an der Wand, ein ausladender Schreibtisch mit Filzauflage, ein paar Besuchersessel, drei Bilder: ein braunes Rennpferd, eine Bergwiese mit Kühen und einem Kind und eine Ansicht von Paris mit Notre-Dame und dem Eiffelturm. Der Schreibtisch sei vor einem halbrunden Erker mit drei Fenstern gestanden. Durch sie habe man einen schönen Blick auf den See gehabt. »Auf welchen See?«, fragt sie. Ich sage, auf unseren. Sie sagt, der Direktor habe einen schönen Blick gehabt, und ich sage, auch die Kinder, die sich vor seinen Schreibtisch hätten hinstellen müssen. Bei manchen Kindern sei das nur zweimal der Fall gewesen, bei ihrer Aufnahme ins Heim und bei der Entlassung, bei manchen immer wieder. Wieso, fragt sie. Weil es die Regeln so gewollt hätten, sage ich. Die Regeln mit der Decke und dem Einzug in Jerusalem, fragt sie. Genau diese Regeln, sage ich.
Zum Beispiel Ronnie, sage ich. Sie sagt: »Endlich einmal ein normaler Name.« Ich sage, Ronnie habe eigentlich Robert geheißen, aber Mannstein habe schon am zweiten Tag bestimmt: Bei uns heißt du Ronnie. In Wahrheit habe er gesagt: Bei uns heißt du Mörder-Ronnie. Es sei nämlich behauptet worden, Ronnies Vater habe jemanden ermordet. Ronnie selbst habe ständig herumerzählt: »Mein Vater ist ein Mörder. Mein Vater hat lebenslänglich bekommen.« Später habe es sich als falsch herausgestellt. Ronnies Vater habe in der Baufirma, in der er gearbeitet habe, Geld aus der Kassa genommen und sei wegen Diebstahls für drei Monate ins Gefängnis gegangen, nicht mehr und nicht weniger. Andererseits sei das egal gewesen, denn Mannstein hätte man sowieso nicht widersprochen. »Der Kommandant«, sagt sie, und ich sage, ja, der Erziehungsleiter, der Kommandant. Das mit Mörder-Ronnie habe von Anfang an nicht funktioniert, erzähle ich, die anderen Kinder hätten den Buben einfach Ronnie genannt. Welches Kind sage schon gerne »Mörder«.
Ronnie sei ab dem ersten Tag unter besonderer Beobachtung gestanden, wegen der Geschichten rund um seinen Vater und weil er bereits bei seiner Aufnahme versucht habe wegzulaufen. »Wie Otto«, sagt sie. Ich sage, nein, nicht wie Otto, es sei bei dem einen Mal geblieben. Ronnie sei kein Wegläufer gewesen, sondern ein stiller Kämpfer. Stiller Kämpfer, das klinge total blöd, sagt sie. Ich sage, das sei vielleicht auch blöd, ein stiller Kämpfer vertraue auf die Kraft des wortlosen Widerstandes, auf den gesenkten Kopf, auf die hochgezogenen Schultern, auf die zusammengepressten Lippen. So sei Ronnie gewesen. Er habe keine großen Aktionen gesetzt, er habe nicht herumgebrüllt, er habe keine Fensterscheiben eingeworfen und er habe nicht Scheißheim auf die Fassade geschrieben. Er habe keine Raufereien angezettelt und nur zugeschlagen, wenn er selbst angegriffen worden sei. Das sei nämlich erlaubt gewesen. »Vielleicht hat er ins Bett gemacht«, sagt sie. Nein, auch das nicht, sage ich.
Ronnie sei ein Meister des Kleinkampfes gewesen. Er sei fünf Minuten zu spät zum Mittagessen gekommen. Er sei vom Tisch aufgestanden, bevor Mannstein das Kommando gegeben habe. Er sei außerhalb der Zweierreihe gegangen, wenn sie unterwegs in den Ort gewesen seien. Er habe im Schlafsaal Lasst die Räuber durchmarschieren gepfiffen, wenn eigentlich schon Nachtruhe sein hätte sollen, und beim Reinigen der Fugen zwischen den Badezimmerfliesen habe er einzelne Fliesen ausgelassen oder den Stiel der Zahnbürste abgebrochen. Wenn er beim Fußballspielen allein vor dem Tor gestanden sei, habe er danebengeschossen, und beim Sportfest vor Schulschluss habe er im Hundertmeterlauf ein paar Meter vor der Ziellinie abgebremst und sei stehen geblieben.
»Das ist dumm«, sagt sie, »wenn man gewinnen kann, ist Abbremsen dumm.« Die Erzieher hätten das auch gefunden, erzähle ich, und sie hätten gefunden, diese Art von Dummheit könne man mit pädagogischen Mitteln ganz einfach beseitigen. »Was sind pädagogische Mittel?«, fragt sie. »Das, wovon ich dir schon erzählt habe. Die Decke …« »Ich will das nicht hören!«, ruft sie und hält sich die Ohren zu. Ich warte eine Weile. Als sie die Hände wieder runternimmt, sage ich: »Den Herzschlag haben wir noch nicht gehabt.« Sie schaut erstaunt. »Der Herzschlag ist etwas, woran man sterben kann«, sagt sie.
»Nicht dieser Herzschlag.«
Angeblich sei der Schlag mit der flachen Hand gegen die Brust, möglichst kurz und möglichst stark, Mannsteins Erfindung gewesen. Er habe den Kindern augenblicklich den Atem genommen, und manche seien umgefallen. »Ronnie auch?«, fragt sie. Ich sage, nein, beim Herzschlag sei Ronnie nie umgefallen, sondern bei etwas anderem. »Bei der Wiederverwertung?«, fragt sie, und ich sage, nein, beim Siegelring.
Sie ist plötzlich blass und sagt nichts.
Die Sache hänge mit dem Brief zusammen. Ronnie sei zwölf gewesen und etwas mehr als zwei Jahre im Heim, als er ihn geschrieben habe, erzähle ich. Der Brief habe begonnen mit »Sehr verehrte Frau Fürsorgerin, das ist kein Heim für ein schönes Leben«. Ronnie habe ihn selbst auf die Post getragen und nicht wie üblich in den Briefkasten in der Eingangshalle geworfen. Daher sei der Brief auch angekommen.
Eine Woche später sei Ronnie mitten am Vormittag von Jimi aus der Schulklasse geholt worden. »Wir gehen zum Direktor«, habe Jimi gesagt, der Brief ans Jugendamt sei keine gute Idee gewesen. Dann habe er gegrinst und gesagt: »Jetzt kriegst du den Siegelring, du wirst ihn überleben.«
Ronnie sei im Büro des Direktors gestanden, direkt unter der weißen Milchglaskugel. Sie wisse nicht, woran er gedacht habe, an seinen Vater, der ein kleiner Dieb war, an seine Geschwister, von denen er ganz wenig wusste, vielleicht auch ans Toreschießen oder an den Hundertmeterlauf.
Der Direktor habe nur mittellaut gesprochen, wie immer, wenn er wütend gewesen sei, und dabei die Worte benutzt, die er bei solchen Gelegenheiten immer wieder benutzte: undankbar, hinterlistig, egoistisch, Mangel an Vertrauen, Psychopathie, schiefe Bahn. Schließlich habe er gesagt, Ronnie solle den Kopf vorbeugen, obwohl Ronnie schon die ganze Zeit mit gesenktem Kopf dagestanden war. Er habe den rechten Hemdsärmel aufgekrempelt, die Hand mit dem Ring geöffnet und wieder zur Faust geballt, ausgeholt und in einem weiten Bogen von oben nach unten zugeschlagen. Ronnie sei noch eine Weile bewegungslos dagestanden. Erst als in einem dicken dunklen Schwall das Blut zwischen den Haaren hervorgequollen sei, sei er umgefallen.
Tränen stehen in ihren Augen. Zugleich wirkt sie zornig. »Weißt du überhaupt, dass man Scheißheim nicht sagt?!«, fragt sie. Ja, sage ich, das weiß ich. »Und glaubst du, ich weiß nicht, warum du mir das erzählst?«, fragt sie. »Doch. Ich glaube, das weißt du«, sage ich, »ich glaube auch, dass du davor schon gewusst hast, was der Siegelring ist.« Ja, sagt sie, das habe sie gewusst. Sie kenne den Siegelring auch in echt, schon von klein auf.