Sie geht die Sache im Geist noch einmal durch. Sie wird aus dem Zug steigen und vom Hauptbahnhof in Richtung Salzach gehen. Sie wird den Fluss auf dem Fußgängersteg überqueren, auf der anderen Seite kurz in Richtung Müllner Pfarrkirche hochsteigen und in einer schmalen Gasse das gedrungene Haus betreten, das der Gesellschaft gehört. Im Konferenzraum im ersten Stock werden schon alle auf sie warten: der Geschäftsführer, die Pädagogische Leiterin, der Wirtschaftsprüfer und Konrad Seihs, der Vorsitzende des Aufsichtsrates. Die niedrige Wölbung der Decke und der weiße Rokokostuck werden sie nervös machen, aber das wird nach ein paar Minuten wieder vorbei sein.
Es wird ablaufen wie jedes Jahr. Sie wird mit dem konzeptuellen Teil beginnen, über den Auftrag sprechen, den die Einrichtung hat, über den Alltag von Jugendlichen, über Bildungsabbrecher, über die Schwierigkeit, in einen Job einzusteigen, und über Arbeitslosenzahlen. Dann wird sie öffentlich verfügbare Daten zitieren, aus dem Drogenbericht, aus der Kriminalstatistik und aus den Publikationen der Asylkoordination. Sie wird die soziologischen Spezifika der Region um Furth darstellen, die verfügbaren Schulen, die Struktur der Wirtschaft, die Rolle des Fremdenverkehrs und die Erfordernisse aus der Errichtung des Quartiers für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Konrad Seihs wird an dieser Stelle nicken und sich Notizen machen. Sie wird über ihre Kernklientel sprechen und über jene Jugendliche, die nur ab und zu ins Come In kommen. Sie wird die Begriffe Frequent User und Hard to Reach verwenden und exemplarisch die Geschichte von Lisbeth skizzieren, das hat sie sich vorgenommen. En passant wird sie die Grundprinzipien der Prävention erklären und trotzdem so tun, als könne man davon ausgehen, dass sie allen Anwesenden geläufig seien. Zusammenfassend wird sie sagen, dass für ein so heterogenes Soziotop wie Furth am See das Come In unverzichtbar sei. Konrad Seihs wird in diesem Moment zum Stift greifen, sich beiläufig den Begriff Soziotop notieren, und sie wird wissen, dass die Sache gut läuft.
Am Schluss wird sie sich in Richtung Wirtschaftsprüfer wenden und die wesentlichen Dinge aus der Bilanz referieren, Personalaufwand, Verbrauchsgüter, Fortbildungs- und Supervisionskosten. Sie wird darauf hinweisen, dass man einen Zugriff auf die ohnehin bescheidenen Rücklagen, der ursprünglich auf Grund der Budgetkürzungen notwendig erschienen sei, durch einen radikalen Investitionsverzicht vermieden habe, etwas, das die Einrichtung allerdings kein zweites Mal verkraften werde.
Sie ordnet ihre Unterlagen zu einem Stapel und versucht sich vorzustellen, wie die Reaktionen auf die Investitionswünsche für das nächste Jahr sein könnten. Ein Kochfeld, eine neue Couch, ein Kleinbus für Ausflugsfahrten. Es wird schwierig werden.
Ihr Handy plingt in dem Augenblick, in dem sie beginnt, über mögliche Sponsoren nachzudenken. Sie weiß, wie viel ein Kleinbus kostet, und sie weiß um den Marketingwert von Jugendlichen, die ihre primäre Aufgabe darin sehen, die üblichen Regeln des Zusammenlebens in Frage zu stellen. Sie schaut aufs Display. WhatsApp. Iorgos.
jede menge polizei sondereinheit sicherheitsdienst melde dich bitte
Nicht jetzt, denkt sie, bitte nicht jetzt.
Iorgos atmet rasch, das kann sie hören. »Sie sind einfach reingekommen«, sagt er, »sie haben etwas von einem brennenden Auto und von einem Attentat gesagt. Ich glaube, sie suchen Malik. Du solltest kommen.« Sie sagt, sie habe in drei Stunden Budgetgespräch in Salzburg, er wisse, was das bedeute. Iorgos schweigt eine Weile, dann sagt er: »Du musst dich entscheiden.«
Sie legt auf und schaut durchs Fenster auf die Straße. Eine Gartenmauer, ein Stück Lattenzaun, ein kugelig geschnittener Wacholderstrauch. Sie denkt an ihre Felsplatte am See, an den Flugsand in der Mitte und an das Gefühl, wenn sich ihre Zehen um die Kante krallen. Schließlich denkt sie an jenen Moment, in dem sie eintaucht, an das unwillkürliche Schließen der Augen und an den perfekten Spiegel, den die Wasseroberfläche bildet, wenn man von unten auf sie schaut. Warum tue ich mir das an?, denkt sie, Polizei, Attentate, Budgetgespräche? Dann fällt ihr das brennende Auto ein, das Konrad Seihs gehört hat, und sie stellt sich vor, wie Seihs in Salzburg ihr gegenübersitzt, wichtige Fragen stellt und sich Notizen macht, während hier die Polizei das Jugendzentrum auseinandernimmt. Er hat das arrangiert, denkt sie, ich weiß, ich bin jetzt stockparanoid, aber ich lass mir nicht ausreden, dass er das arrangiert hat.
Sie greift zum Telefon. Sie wisse, das sei extrem ungünstig, aber das Budgetgespräch müsse verschoben werden. Das Come In sei voller Polizisten. Es gehe um ein Attentat. Als sie Attentat sagt, kommt sie sich blöd vor.
Sie tritt in die Pedale, was das Zeug hält. Promenade, Severinbrücke, Seestraße. Das Blaulicht ist von weitem zu sehen. Ein Streifenwagen, mehrere Zivilfahrzeuge. Sie reduziert das Tempo. Sich außer Atem in eine Situation maximaler Aufladung zu begeben ist schlecht, denkt sie. Sie fährt ums Haus und stellt das Rad im Hinterhof ab. Ich will das nicht, denkt sie, ich will solche Situationen nicht.
Als sie um die Ecke biegt, sieht sie, dass vor der Eingangstür ein Mann in schwarzer Uniform steht. Sie spürt etwas in ihrer Mitte aufglühen. Der Mann ist vielleicht vierzig, hat eine Glatze und einen Rumpf wie ein Fass. »Was machen Sie hier?«, fragt sie. »Wer fragt das?«, fragt er zurück. »Die Chefin«, sagt sie, »lassen Sie mich in meinen Betrieb!« Der Mann tritt zur Seite. »Waren Sie eigentlich früher einmal Tankwart?«, fragt sie ihn, bevor sie die Tür öffnet. Er schaut verwirrt.
»Nein, warum?«
»Hätte sein können.«
Sie scannt den Raum. Zwei Uniformierte, eine davon Petra Lindström, die sie aus dem Schwimmbad und vom Schifahren kennt, der andere Lipp, von dem sie den Vornamen nicht weiß, der sie einmal wegen Fahrens auf dem Gehsteig abgemahnt hat. Drei unbekannte Männer in Zivil, zwei A18-Typen, Iorgos. Warum ist er allein? Bauer steht als Zweiter auf dem Dienstplan. Auf der Couch Fritz The Cat, der Dicke und Magdalena. In einem der Fauteuils Lisbeth, im anderen ein drahtiger, dunkelhaariger Mann mit Brille. Der Mann erhebt sich und stellt sich als Einsatzleiter vor, Leutnant Körber, SEA. Er möchte erklären, aber sie winkt ab — Sondereinheit Ausreise, sie wisse. Es gehe um den Brandanschlag auf das Auto des Landesrats Seihs, sagt der Mann — in Zusammenschau mit der Beschädigung der Fassade in der Auenbruckerallee eine ziemlich beunruhigende Angelegenheit —, und um das Attentat auf einen der Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes Aktion 18 zu Fronleichnam. Er hat wenigstens Manieren, denkt sie, und er nennt es tatsächlich ein Attentat. Sie sieht den großen, schwarz gekleideten Mann vor sich, der versucht, mit seinen Armen die Menge zu teilen, im Hintergrund den Altar mit dem Letzten Abendmahl. Sie sieht den roten Punkt an der Schläfe des Mannes aufleuchten, und sie sieht, wie er langsam, fast nachdenklich, nach vorn kippt. »Das Attentat. Ich weiß, ich war dabei«, sagt sie. Der Leutnant schaut erstaunt. »Wollen Sie auch etwas gestehen?«, fragt er. Jetzt ist sie es, die erstaunt schaut. Wenn es reiche, dabei gewesen zu sein, um etwas gestehen zu müssen, werde das eher unübersichtlich werden, sagt sie. Ihrem Eindruck nach habe sich die halbe Stadt bei der Prozession befunden. Der Mann winkt ab und zeigt auf die Jugendlichen. Das auch habe sich auf die jungen Damen und Herren bezogen. Nachdem ihnen der Umstand klargemacht worden sei, dass es sowohl im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Brandbeschleunigers als auch mit dem Kauf einer mechanischen Schusswaffe Zeugenaussagen gebe, die auf jemanden hindeuteten, der in der Burg wohne und Kontakt zum Come In pflege, hätten sie sich erst beratschlagt und dann dazu entschlossen, ein umfassendes Geständnis abzulegen. So hätten sie es selbst genannt: ein umfassendes Geständnis, und sie hätten gesagt, es sei ja egal, irgendwann kämen die Dinge sowieso ans Licht. Sie starrt den Dicken an und tippt sich an die Stirn. »Geständnis? Was wollt ihr gestehen? Habt ihr einen Totalknall?!«, ruft sie. Was heiße außerdem beratschlagt? Mit wem? Untereinander — die vier, die bekanntermaßen immer alles im Griff hätten? »Sie haben jemanden angerufen«, sagt der Leutnant, wen, hätten sie nicht gesagt. Im Übrigen ersuche er sie, ab jetzt keinen Einfluss mehr auf die Befragung zu nehmen. Sie hat Schleier vor den Augen und ein flaues Gefühl im Magen. Petra Lindström schiebt ihr einen Stuhl hin. »Da, du bist ganz grün im Gesicht«, sagt sie. Sie setzt sich. »Hat jemand die Eltern verständigt?«, fragt sie. Lindström schüttelt den Kopf. Lisbeth hebt abwehrend die Hände. »Das wollen wir nicht«, sagt sie. Da alle mündig seien, habe man das zu akzeptieren, sagt der Leutnant. Er gibt dem Kollegen, der das Aufnahmegerät bedient, ein Zeichen. »Wo waren wir vorhin?«, fragt er den Dicken.
»In der Burg«, sagt der Dicke.
Es sei immer gleich abgelaufen, erzählt er. Erstens Information, zweitens Recherche und Planung, drittens Durchführung. So habe es ihnen ihr Auftraggeber beigebracht. »Ausbildner«, sagt Fritz. »Ausbildner, Auftraggeber, egal, von mir aus beides«, sagt der Dicke. Als Erster sei jedenfalls Mannstein auf der Liste gestanden, der ehemalige Erziehungsleiter der Burg, ein sadistisches Arschloch. Wie Christoph Waltz einen Erziehungsleiter spielen würde, so sei er gewesen, habe ihr Auftraggeber gesagt. Mannstein habe allein gelebt, dadurch wäre die Sache ziemlich einfach gewesen. Türe auf, rein, Sack über den Kopf, und fertig. Leider sei nichts daraus geworden, sagt der Dicke — tot, ganz von allein, vor eineinhalb Monaten. Der logische Ersatzkandidat sei nachgerückt, der stellvertretende Erziehungsleiter, Gerhard Stifter, nicht annähernd das Kaliber von Mannstein. Gemein, hinterhältig, so sei Stifter gewesen, der Typ, der den Kindern die Ausgänge gestrichen und die Briefe der Eltern abgefangen habe. Dann habe er gesagt: »Siehst du, deine Mutter interessiert sich nicht für dich.« Die Anwesenheit von Stifters Ehefrau habe alles ein wenig komplizierter gemacht, aber sobald klar gewesen sei, dass der Mann sich jeden Abend im Obstgarten aufhalte und das praktisch immer allein, habe man das Ding unter Dach und Fach gehabt. Über den Zaun zu gelangen sei einfach gewesen, sogar er habe das geschafft. Stifter habe sich gewundert, als er sie gesehen habe, doch für irgendeine Reaktion sei keine Zeit mehr gewesen. Man habe drei Decken übereinandergelegt, er habe sein Körpergewicht eingesetzt, und schon habe man ihn auf dem Boden gehabt. Zwei Minuten die Decke, so sei die Vorgabe gewesen, sagt der Dicke. Man glaube nicht, wie lang zwei Minuten dauerten, wenn man nur hinhaue. »Ist er tot?«, habe Fritz gesagt, als sie nachher die Decken weggenommen hätten, doch dann habe man das Wimmern des Mannes gehört. Fritz sei dabei gewesen, Magdalena, er selbst und ein Helfer, dessen Namen er nicht nennen wolle, solange das mit ihm nicht abgesprochen sei. Sie habe nicht können, sagt Lisbeth, es habe ihr eh leidgetan, aber sie habe einen Einkaufstermin gehabt. Der Leutnant wendet sich an Lipp und Lindström. »Was macht der Staatsanwalt mit dieser Geschichte?« Sie fürchte, gar nichts, sagt Lindström. Obwohl seine Frau die Sache ganz anders beschreibe, bleibe Stifter dabei, dass er vom Apfelbaum gefallen sei.
Kapitel zwei, fährt der Dicke fort, die Sache mit der Klosterschwester. Sie habe ihn persönlich etwas mehr gefordert. Er selbst habe nämlich eine Klosterschwester als Kindergärtnerin gehabt, die auch sehr groß, aber extrem zugewandt und herzlich gewesen sei, sozusagen eine Gefühlstankstelle. Irgendwie sei sie ihm innerlich dauernd dazwischengekommen. »Du bist ein sentimentaler Trottel«, sagt Lisbeth. Klosterschwester ja oder nein — er solle sich eine Frau vor Augen führen, die Kinder erst bis zum Erbrechen zum Essen zwinge und hintennach dazu, ihr Erbrochenes aufzuessen. Er habe eh nicht gezögert, sagt der Dicke, sie dürfe sich nicht beschweren. Das mit dem Katzenfutter sei vielleicht ein wenig übertrieben gewesen.
Lisbeth schüttelt den Kopf. »Ein Kind muss Kotze essen — stell dir das vor«, sagt sie. Was sei dagegen Katzenfutter.
Iorgos ist blass geworden. »Hört auf damit!«, sagt er, »wovon redet ihr überhaupt?« Sie wisse, wovon, sagt Petra Lindström. Schwester Notburga, Pensionistenheim Waiern, ehemals Erzieherin im Schlösschen, dem Mädchenhaus der Burg. Was sie am meisten interessiere, sei, wie sie eigentlich ins Heim reingekommen seien. Magdalena grinst. Ganz einfach, der Personalchef des Hauses sei einer ihrer Kunden, sagt sie. Er habe einen Generalschlüssel. Der Leutnant zieht die Augenbrauen hoch »Ein Kunde?«, fragt er. Ein Bekannter, sagt Magdalena, er müsse sich verhört haben.
Sie hätten während des Abendessens über den Lieferantenhof das Haus betreten und hätten in Notburgas Apartment gewartet, relativ lang, denn die Damen hätten offenbar noch Karten gespielt. Als Notburga gekommen sei, habe der Dicke sie mit dem linken Arm von hinten umfasst, mit der rechten Hand habe er ihr den Kiefer aufgedrückt. Sie, Magdalena, habe ihr die Nase zugehalten, der Helfer habe die Beine blockiert, und Lisbeth habe ihr mit einem Löffel Katzenfutter in den Schlund geschoben, so lange, bis die Dose leer gewesen sei. »Mit Geflügel«, sagt Lisbeth. Den Rand des Löffels habe sie zu Hause angeschliffen, damit die Braut Christi ein wenig mehr davon spüre. Am Schluss habe sie sie dafür gelobt, dass sie so brav aufgegessen habe. Sie habe geröchelt und gehustet und gesagt, sie wolle an die frische Luft. Man habe sie in den Garten begleitet. Dort habe sie plötzlich die Augen verdreht und sich auf den Rasen gelegt. Der Helfer habe ihr noch den Puls gefühlt. Dann sei man gegangen. »Sie ist beinahe gestorben«, sagt Petra Lindström. Die Variante Sterben komme in ihrem Projekt nicht vor, erwidert der Dicke. Wahrscheinlich habe sie daher auch überlebt, sagt Lindström, aber dem Helfer sei das mit Sicherheit schon klar gewesen, als er ihr den Puls gefühlt habe. »Wer ist das eigentlich, euer Helfer?«, fragt sie. Der Dicke sagt, in manchen Serienkrimis habe man auch den Eindruck, das wiederholte Stellen derselben Frage bringe am Ende den Erfolg. Das werde in diesem Fall nicht funktionieren. Punkt.
Sie spürt, dass sie langsam wieder ins Lot kommt. Sie nimmt die präzise Aufgabenverteilung unter den SEA-Leuten wahr: Einer bedient das Aufnahmegerät, einer beobachtet die Umgebung, der Leutnant hat das Kommando. Sie spürt die Unsicherheit Petra Lindströms, Lipps Desinteresse und Iorgos’ nach wie vor deutlichen Wunsch, einfach davonzulaufen. Im Hintergrund des Raums stehen zwei schwarze Kameraden und langweilen sich, das spürt sie auch.
»Verhaften oder nicht?«, fragt der Leutnant. Lindström sagt, sie fürchte, das müsse, erstens, sie entscheiden, und zweitens beharre, ganz ähnlich wie dieser stellvertretende Erziehungsleiter, Schwester Notburga darauf, ohne Zutun anderer Leute in diesen misslichen Zustand geraten zu sein. Die Bedeutung des Katzenfutters müsse man forensisch näher untersuchen. Daraus erwachse jedenfalls kein Grund, gegenwärtig irgendjemanden in Gewahrsam zu nehmen.
Der Dicke schaut zum ersten Mal her zu ihr. Er wirkt erschöpft, zugleich fokussiert, wie jemand, der am Ende einer Aufgabe angelangt ist. Ich habe etwas übersehen, denkt sie, wahrscheinlich habe ich gar nichts gesehen.
Ein drittes Kapitel gebe es noch, sagt der Dicke. Es sei nicht sehr kompliziert und rasch erzählt. Jimi.
Jimi, der in Wahrheit Jakob Wenzel heiße, sei in der Burg so etwas wie der Kammerdiener des Direktors gewesen, das habe ihr Auftraggeber erzählt. Er habe ihn zu Terminen begleitet, er habe gewusst, wann er seinen Kaffee wolle und wann seinen Vermouth, er habe ihm Angenehmes organisiert und Unangenehmes vom Leib gehalten. Vor allem aber habe er die Kinder in sein Büro gebracht, zu Aufnahme- und Entlassungsgesprächen, zu Kopfnüssen und zum Siegelring. Vor dem Siegelring habe Jimi immer den gleichen Satz gesagt: »Jetzt kriegst du den Siegelring, du wirst ihn überleben.« Danach habe er den Kindern das Blut vom Kopf gewaschen. Am Abend habe er ihnen dann auf der Gitarre vorgespielt.
»Eine Kröte«, sagt Lisbeth, »eine echte Kröte.«
Die Cantinetta bekomme zirka alle zwei Monate eine Grappa-Lieferung. Das sei für Jimi, der nach seiner Pensionierung endgültig ein Schnaps-Alkoholiker geworden sei, ein wichtiger Termin. Grappa bei Antonio, bis zur Bewusstlosigkeit. Mehr an Recherche und Planung sei in diesem Fall nicht notwendig gewesen. Sie hätten vor dem Lokal auf Jimi gewartet, hätten ihn in die Mitte genommen und seien mit ihm auf einen Wiesenstreifen nahe der Ache gegangen. Er sei so betrunken gewesen, dass er links und rechts eine Stütze gebraucht habe. An dem vereinbarten Platz habe man ihm gesagt, er solle sich ins Gras knien und den Kopf senken. Dann sei der Auftraggeber selbst von der Straße her gekommen, habe sich vor ihn hingestellt und Jimis Satz gesagt: »Jetzt kriegst du den Siegelring, du wirst ihn überleben.« Er habe etwas über den Kopf gehoben, ein Messer oder einen kleinen Säbel, und es ihm mit Schwung über den Scheitel gezogen. Nach einigen Augenblicken sei Jimi umgefallen. Das sei alles gewesen.
Jetzt könne sie sich die Befragung Jimis ersparen, sagt Petra Lindström halblaut. Der Mann liege auf der Psychiatrie, vermutlich wegen seines Entzugssyndroms, und sie wisse genau, was er der Polizei über die Ursache seiner Verletzung sagen werde. »Ein spitzer Ast«, sagt sie, »genau auf der Höhe, wo du nicht hinschaust.« Oder eine senkrecht herabfallende Glasplatte, sagt Petra Lindström. Sie wendet sich an den Leutnant. »Die Ermittlungen laufen«, sagt sie, »vor allem in Bezug auf den nicht namhaft gemachten Haupttäter.«
Der Leutnant wendet sich an den Dicken. »Und weiter?«, fragt er. »Was weiter?«, fragt der Dicke retour. Der Brandanschlag, der Zwillenschuss, der dunkelhaarige junge Mann aus dem Flüchtlingsquartier, der offenbar sowohl im Farbengeschäft als auch in der Waffenhandlung gesehen worden sei. Was sei damit? Die bisher geschilderten Dinge seien bedauerlich, hätten aber mit der Gegenwart gar nichts zu tun. Einem Gebäude sei es egal, ob man in ihm getanzt oder Leuten auf den Kopf gehauen habe. »Mauern haben kein Gedächtnis«, sagt er. Der Dicke zuckt mit den Schultern. Er habe nur gesagt, was zu sagen gewesen sei.
Das mit dem Brandanschlag sei übrigens auch er gewesen. Er sei vom vorgezogenen Schulschlussfest an der Ache rasch nach Hause gelaufen, habe den Benzinkanister seines Vaters, der ein völliger Neurotiker sei und nichts so fürchte wie den leeren Tank, mitgenommen, über das Auto von Konrad Seihs geleert und ein Streichholz geworfen. »Flusch«, sagt der Dicke und macht eine Geste plötzlichen Aufflammens. Flusch ist ein nettes Wort, denkt sie.
Genauso das Fronleichnamsattentat, sagt der Dicke. Dafür gebe es jede Menge Zeugen. Er sei unter einem der Bäume gestanden, habe erst dem Evangelium gelauscht, das Joseph Bauer vorgelesen habe, dann habe er seine Steinschleuder gezückt und geschossen, ohne zu zielen. Der A18-Mensch habe einfach Pech gehabt.
Lisbeth schaut an die Decke. Fritz hat die Hände vors Gesicht geschlagen. Der Leutnant richtet den Oberkörper auf und beugt sich vor. Er bedeutet seinem Kollegen, er solle das Aufnahmegerät abschalten. »Wie heißen Sie noch einmal?«, fragt er. »Oswald«, sagt der Dicke, »manche sagen Ossi zu mir.« »Könnte es sein, Oswald, dass Sie uns die ganze Zeit verarschen?!«, fragt er. Das könne sein, sei aber nicht so, antwortet der Dicke. Der Leutnant springt auf. Dünn, blass und dunkelhaarig — ob das auf ihn zutreffe. Na eben. Sowohl der Verkäufer von Farben Bünker als auch der Besitzer des Waffengeschäftes Steiner hätten diese Beschreibung abgegeben. Auf der Fronleichnamsprozession sei aus Richtung der Bäume garantiert nicht geschossen worden, kein Mensch habe Derartiges berichtet, und bei dem Brandbeschleuniger, mit dem Konrad Seihs’ Wagen übergossen worden sei, habe es sich um Nitroverdünnung gehandelt, weit weg von Benzin. Der Dicke sitzt da, die Füße parallel, die Hände auf seine mächtigen Oberschenkel gelegt. Ob er etwas darauf sagen wolle, bellt ihn der Leutnant an. Der Dicke überlegt, dann hebt er den Kopf. »Alles hat mit allem zu tun«, sagt er. Der Leutnant schaut verblüfft. Schließlich sagt er: »Das ist banal«, und gibt den anderen das Zeichen zum Aufbruch. Hier gebe es heute nichts mehr zu holen.
Lisbeth steht auf, reckt beide Mittelfinger in die Höhe, äfft den Leutnant nach: »Das ist banahal, das ist banahal!«, und lässt sich wieder in ihren Fauteuil fallen. Von dort ruft sie: »Banal ist richtig!« Dann lacht sie laut.
Petra Lindström und Florian Lipp sind die Letzten. Lindström steht unschlüssig da, bevor sie geht. »Warum habt ihr das gemacht?«, fragt sie schließlich. »Was denn?«, fragt der Dicke. Mit der Verarsche könne jetzt Schluss sein, sagt Lindström, die anderen seien weg. »Gerechtigkeit?«, sagt der Dicke. Fritz rempelt ihn an. »Warum machen Leute, wie wir es sind, Sachen?«, fragt Magdalena. Lindström überlegt, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein!«, sagt sie.
»Doch.«
»Wie viel?«
Magdalena hebt eine Hand und spreizt die Finger.
»Jeder?«
»Jeder.«
Sie denkt daran, was Lisbeth vorhin gesagt hat: Banal ist richtig. Sie sieht sie nackt über die Schotterbank in die Ache laufen, und sie denkt, dass es manchmal genau diese ruppige Art von Zerbrechlichkeit braucht, um die Dinge klar zu sehen.
Fritz The Cat lacht. »Was ist?«, fragt der Dicke. »Weißt du, was das Beste war?«, sagt Fritz. »Das Beste war, als du vorhin gesagt hast, du bist von unserem Schulschlussfest rasch nach Hause gelaufen.« Er, gelaufen, und das auch noch rasch — das sei das Beste gewesen.