Sie hat erbrochen, ich rieche es. Sie sagt, es ist nur einmal passiert, und sie hat es auch gleich weggeputzt. Ronnies Geschichte hat ihr zugesetzt, obwohl ich wette, dass sie schon davor gewusst hat, was der Siegelring ist.
Sie mustert mich. »Du bist anders angezogen als sonst«, sagt sie. »Was ist es?«, frage ich. Sie sagt, sie glaube, es sei die Tasche. Meine Tasche sei sonst nicht so groß. »Ich gehe fort«, sage ich. Sie schaut mich lange an. »Tötest du mich jetzt?«, fragt sie. Ich sage: »Nein, ich werde dich nicht töten.« Sie sagt, sie glaube aber nicht, dass ich dieses Geld schon bekommen hätte, ich wisse, welches, sie habe schon wieder vergessen, wie es heiße. Sie habe recht, sage ich, Geld hätte ich noch keins bekommen. Tränen steigen ihr in die Augen. »Manchmal bekommt man kein Geld, und man ist trotzdem nicht unzufrieden«, sage ich. Sie sagt, Entführer töten ihre Opfer, wenn sie kein Geld bekommen, und ich sage, nicht alle. Sie solle jetzt so nett sein und mir ein einziges Mal das Gedicht aufsagen, ein einziges Mal komplett. In der Geschichte, aus der es stamme, spreche es ein kleines Kind, das wirklich getötet werde. Sie schaut erschrocken. »Ein Mädchen oder ein Bub?«, fragt sie. »Ein Mädchen«, sage ich. Sie schluckt. »Und wenn ich nur die bösen Zeilen sage?«, fragt sie. »Dann gilt das auch«, sage ich.
Sie schließt die Augen und spricht ganz rasch: »Meine Mutter, die Hur, die mich umgebracht hat. Mein Vater, der Schelm, der mich gessen hat.«
»Gut«, sage ich, »das gilt.« Sie fragt mich, wie ich wegfahren werde. Ich sage, mit dem Auto. Sie fragt mich: »Allein?«, und ich sage: »Nein, mit dem dünnen Mann. Gleich ist er da.« »Fährst du, oder fährt er?«, fragt sie. Ich sage, wir werden abgeholt. Sie fragt, von wem, und ich sage, von zwei Freunden.
Der letzte Raum, sage ich, der Pferdestall. Sie lacht und sagt: »Endlich was Schönes.« Ich sage: »Kommt drauf an.« Sie fragt mich, ob die Kinder geritten seien, und ich sage, nein, nur ausnahmsweise. Geritten seien gewisse Erzieher, Mannstein zum Beispiel, und der Direktor. »Der Kommandant und der Direktor«, sagt sie.
Der Pferdestall sei ein Gebäude am Rand des Geländes gewesen, erzähle ich, nicht sehr groß, niedrig, ein flaches Satteldach, mit sechs Stellplätzen. Pferde habe es meistens nur drei bis vier gegeben, meistens Haflinger, ab und zu ein Fohlen. An dem einen Ende des Stalls seien zwei kleinere Räume gelegen, etwas erhöht der Futterboden, daneben die Gerätekammer. Im Futterboden hätten sich Heu und Hafer befunden, in der Gerätekammer ein Holzgestell für Zaumzeug und Sättel, außerdem ein großes Doppelbett, das der Stallmeister regelmäßig frisch bezogen habe. »Wer ist der Stallmeister?«, fragt sie. Ich sage, der Stallmeister sei ein finsterer Mann gewesen, der kaum etwas gesprochen und nach Pferdemist gerochen habe. Er habe die Kinder fürs Doppelbett abgeholt, sage ich, manchmal Buben, manchmal Mädchen. Sie fragt, was die Buben und Mädchen im Doppelbett getan hätten, und ich erkläre es ihr. Sie fragt, wer das Geld bekommen habe, das die Männer bezahlt hätten. Ich sage, der Stallmeister, der Kommandant und der Direktor. Sie fragt, ob es viel war, und ich sage, ja, alles in allem war es viel. Sie fragt, was die Kinder gemacht hätten, denen so etwas passiert sei. Ich sage: »Lotta zum Beispiel«, und sie fragt: »Wer ist Lotta?« »Dafür brauchen wir jemanden«, sage ich, »warte ein bisschen.«
Max steht am oberen Ende der Treppe und raucht. »Komm mit«, sage ich. »Mir geht es hier gut«, sagt er. Ich sage, ich will, dass er hört, was ich erzähle. Er sagt, er kenne die Geschichte ziemlich auswendig. Ich sage: »Tu es für mich.«
»Du weißt, wer das ist«, sage ich, als ich mit Max zurückkomme. Ja, der dünne Mann, sagt sie, sie habe ihn sich gemerkt.
Lotta sei mit zehn ins Heim gekommen, sage ich. Lottas Mutter sei eine Prostituierte gewesen. Ob sie wisse, was eine Prostituierte sei. Natürlich wisse sie das, sagt sie, eine Frau, die Sex mit vielen Männern habe. Genau deswegen sei Lotta von der Mutter weg und ins Heim gekommen, sage ich. Hier sei es ihr einige Zeit relativ gut gegangen. Mit zwölf habe sie dann der Stallmeister entdeckt und ab dann regelmäßig abgeholt. »Fürs Doppelbett«, sagt sie, und ich sage, ja, fürs Doppelbett. Ein Hurenkind habe ein angeborenes Talent für solche Dinge, habe er gesagt. »Hurenkind ist ein böses Wort«, sagt sie. Mit fünfzehn sei sie dann schwanger geworden. »Wieso?«, fragt sie. Ich sage, einfach so, aus dem Doppelbett. Eine der Klosterschwestern habe sich um die Schwangerschaft gekümmert, Notburga, Dietlinde oder Bernadette. Als die Geburt näher gerückt sei, habe die Klosterschwester ein Körbchen aus Peddigrohr gebracht, eins, in das man sonst Brot oder Obst gegeben habe. »Da tun wir dein Kind rein«, habe sie gesagt, »und dann schauen wir, dass es gute Eltern bekommt.« So sei es dann auch geschehen. Sie schaut mich zweifelnd an. »Was hat Lotta gemacht?«, fragt sie. »Sie hat geweint«, sage ich.
»Woher weißt du das?«
»Weil ich dabei war.«
»Und das Körbchen?«, fragt sie. Das Körbchen sei mitsamt dem Kind weggebracht worden. Von der Klosterschwester.
»Und dann war es weg?«, fragt sie. »Ja, dann war es weg«, sage ich.
»Ganz?«
»Ganz.«
»Wie hat es geheißen?«, fragt sie. »Max«, sage ich, »es war ein Bub.« Sie fragt, wie er ausgesehen habe. Ich sage, ich wisse es nicht mehr, ich hätte ihn nur ganz kurz gesehen. »Und Lotta?«, fragt sie. Ich schaue zu Max. Lotta sei zwei Jahre später aus dem Heim entlassen worden, sagt er. Danach habe man nichts mehr von ihr gehört. »Woher weißt du das?«, fragt sie. Keine Ahnung, sagt er, manche Dinge wisse man einfach.
Ihr zu sagen, was aus dem Hurenkind geworden sei, habe er nicht für notwendig gehalten, sagt Max draußen vor der Tür. Ich auch nicht, sage ich.
Dann sagt er: »Ich glaube, sie ist ein gutes Mädchen.«