„Wir müssen ehrlich zu uns sein. Gestern hatten wir keine Antwort auf die Spielzüge des anderen Teams parat und haben deshalb verloren. Wir haben nicht verloren, weil wir schlechter sind oder weil die anderen uns überlegen wären. Nein!“ John Brennan schüttelte den Kopf und runzelte finster die Stirn. „Ich kenne kein verdammtes Team, das so viel Potenzial besitzt wie dieses. Die Wahrheit lautet, dass wir nicht in der Lage waren, dieses Potenzial abzurufen. Wir haben verloren, weil wir uns auf diesem Potenzial zu lange ausgeruht haben. Aber damit ist jetzt Schluss. Wir alle müssen daran arbeiten, wieder an die Spitze zu kommen – dorthin, wo die Titans hingehören.“ Er richtete seinen Blick auf die Spieler, die sich im Besprechungssaal versammelt hatten, um das gestrige Spiel aufzuarbeiten. „Das schaffen wir nur als Team und nur dann, wenn sich jeder den Arsch aufreißt, um alles zu geben. Wir haben das erste Spiel der Saison verloren. Das allein ist eine herbe Enttäuschung. Noch viel schlimmer ist, dass wir in unserem eigenen Haus verloren haben und dass wir vorgeführt wurden. Das will ich nicht noch einmal erleben, verstanden?“
Hawke nickte stumm – genau wie seine Mitspieler, die mit versteinerten Mienen auf ihren Plätzen saßen und dem Coach zuhörten.
„Ab morgen haken wir das gestrige Spiel ab. Es ist vorbei. Ändern können wir es nicht mehr, aber wir können ändern, wie wir das kommende Spiel angehen. Daran arbeiten wir ab sofort und werden die Fehler, die uns gestern passiert sind, aufarbeiten und besprechen, damit es bei dieser Niederlage bleibt. Nur durch das Erkennen unserer Schwächen und unserer Fehler werden wir stärker.“
Zustimmend murmelten die meisten Spieler etwas vor sich hin, während John Brennan fortfuhr: „Coach Moore wird ab hier übernehmen.“
Hawke lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rutschte automatisch tiefer, als Izzie das Podium betrat und dabei diesen entschlossenen Gang an den Tag legte, der nichts Gutes verhieß. Sie mochte dank des mädchenhaften Pferdeschwanzes und des ungeschminkten, bildschönen Gesichts wie eine harmlose Frau wirken, die durch eine Verwechslung hier gelandet war, aber Hawke wusste anhand ihrer Miene und ihrer entschiedenen Schritte, dass Ärger ins Haus stand.
„Coach Brennan hat alles gesagt, was gesagt werden musste. Jetzt machen wir uns daran, die Fehler auszumerzen, die uns gestern passiert sind“, erklärte sie ungewöhnlich streng. „Licht aus. Die Aufnahme eins, bitte.“
Das Licht im Raum wurde gedimmt, während am Ende des Podiums eine Großleinwand hinuntergelassen wurde, auf der nur wenige Sekunden später einer der gestrigen Spielzüge gezeigt wurde.
Sie begann bei der Defense, kaute Szene für Szene durch, bei denen die Titans ein miserables Spiel abgeliefert und Fehler begangen hatten, war hartnäckig und verlangte von den betreffenden Spielern alternative Lösungen, mit denen die Spielsituationen anders ausgegangen wären.
Die Jungs kamen ins Schwitzen, mussten Rede und Antwort stehen und wurden von Izzie nicht geschont, die heute keine Gnade kannte.
Um ehrlich zu sein, hatte Hawke schon andere Coaches gehabt, die in den Nachbesprechungen gestandene Footballspieler zum Heulen gebracht hatten. Gegen jenes Gebrüll waren Izzies hartnäckige Fragen, die keine Ausflüchte zuließen, leicht zu ertragen. Dennoch war sie autoritärer, als er es ihr zugetraut hatte. Und er merkte, dass seine Mitspieler bei Izzies scharfer Kritik zusammenzuckten und kleinlaut wurden.
Dass sie ihn nicht schonen würde, ahnte er, als sie begann, Spielzüge der Offense zu zeigen.
Entweder hatte Hawke gestern durchweg beschissen gespielt oder aber sie hatte mit purer Absicht Szenen herausgesucht, in denen er ein armseliges Bild abgab.
Zuerst wurden die Sacks des gegnerischen Linebackers durchgesprochen, bei denen er immer wieder den Ball verloren hatte. Sich selbst dabei zu beobachten, wie er quasi hinterrücks überfallen wurde und ihm der Ball abhandenkam, war für sein Ego nur schwer zu ertragen. Dass Izzie ihn vor dem Spiel vor jenem Linebacker hatte warnen wollen, machte die Situation nicht besser.
Auch die unvollständigen Pässe auf die Wide Receiver kratzten an seiner Ehre.
Izzie bat um die nächste Aufnahme, die daraufhin abgespielt wurde und ihn im dritten Viertel zeigte, wie er einen miserablen Pass auf Blake O’Neill warf. Sein Nacken brannte, als der gegnerische Tackle mit Leichtigkeit den Ball abfing.
Räuspernd erklärte Izzie: „Hier sehen wir gleich zwei Probleme des gestrigen Spiels. Unsere schwache Verteidigung und keine genauen Passspielzüge. Die gegnerische Defense konnte durchbrechen und unseren Quarterback bedrängen, der den Ball zuerst auf den äußeren Wide Receiver passen wollte, sich dann aber für einen kurzen Pass auf O’Neill entschied. Der Pass selbst war zu schwach, zu langsam und zu tief. Ergebnis war eine Interception durch den gegnerischen Tackle, der daraufhin einen Touchdown machte.“ Ihre Stimme klang geradezu emotionslos, als sie aufsah und ihn fixierte.
Eigentlich hätte Hawke in ihrem Blick Schadenfreude erwartet, aber sie wirkte absolut neutral, als sie von ihm wissen wollte: „Stone stand völlig frei. Warum also der kurze Pass auf O’Neill inmitten des Gedränges?“
Die Wahrheit war, dass er nervös geworden war, weil er zuvor so oft gesackt worden war. Kein Quarterback gab jedoch zu, die Nerven verloren zu haben. Das wäre reiner Selbstmord gewesen. Deshalb zuckte er mit den Schultern und erwiderte leichthin: „Von meiner Position aus schien ein kurzer Pass auf O’Neill die bessere Alternative zu sein. Ein langer Pass hätte dem gegnerischen Cornerback eventuell die Möglichkeit gegeben, den …“
„Ein langer Pass hätte uns eventuell einen Touchdown eingebracht“, unterbrach sie ihn mit fester Stimme. „Wenn man beide Varianten gegeneinander abwägt, wäre der lange Pass die sichere und somit bessere Alternative gewesen.“
Er presste die Lippen fest aufeinander und ballte die Hände zu Fäusten, bevor er entgegnete: „In einem Spiel gibt es nicht immer genug Zeit, um zwei Spielzüge gegeneinander abzuwägen. Man muss blitzschnelle Entscheidungen treffen, die manchmal nicht die richtigen sind.“
Izzie wich nicht zurück, sondern fixierte ihn mit einem Blick, den er als provozierend empfand. „Und deshalb ist es verdammt wichtig, im Training alles zu geben und nicht auf Sparflamme zu gehen. Wie sollen wir ansonsten blitzschnelle Entscheidungen und Spielzüge trainieren?“
Ganz offensichtlich erwartete sie keine Antwort, sondern ließ die nächste Szene über den Bildschirm laufen, um einen Fumble zu erörtern, den Ian Carlisle zu verantworten hatte. Hawke hatte sie anscheinend vom Haken gelassen, weil kein einziger seiner Spielzüge, die ihm missglückt waren, an die Reihe kam.
„Für heute wäre das alles“, entließ sie wenig später das Team.
Sie alle mussten sich nach dieser Besprechung fühlen, als wären sie durch den Fleischwolf gedreht worden. Jedenfalls ging es ihm so.
„Draußen werden euch die Infos fürs nächste Spiel ausgehändigt. Es geht nach Philadelphia, also solltet ihr die Vorbereitungen besonders ernst nehmen.“ Izzie räusperte sich. „Reynolds, könnte ich dich kurz allein sprechen?“
Während seine Teamkollegen nach und nach den Besprechungsraum verließen und ihm mitleidige Blicke schenkten, blieb er sitzen, wo er war, und verschränkte die Arme vor der Brust.
Izzie kramte in ihren Papieren herum und wartete, bis der letzte Spieler den Raum verlassen hatte, bevor sie ein Blatt Papier hervorzog, das Podium verließ und sich vor ihm aufbaute. Demonstrativ hielt sie ihm diesen Zettel entgegen.
Hawke musste den Kopf in den Nacken legen, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Dabei ließ er seinen Blick über ihre Kleidung wandern, die heute aus engen schwarzen Jeans, einem weißen Top und einem Jeanshemd bestand, dessen Ärmel sie bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte. In dieser Aufmachung sah sie niedlich und verflucht jung aus. Dass der Ausschnitt ihres Tops in dieser Position fast auf einer Höhe mit seinem Gesicht war, hätte ihm gefallen, wenn die Situation eine andere gewesen wäre – und wenn sie ihn nicht derart finster angestarrt hätte.
„Was ist das?“, wollte er wissen, ohne einen Blick auf das Papier zu werfen.
Ihre Wangen röteten sich aufgebracht, als sie das Blatt herrisch zurückzog und zitierte: „Quarterback Hawke Reynolds scheint wenig begeistert von der stellvertretenden Cheftrainerin Isabelle Moore zu sein, da er nach der gestrigen Niederlage vor einigen Pressevertretern verkündete, dass sie lieber die Umkleide putzen solle, anstatt das Team zu coachen. “ Sie sah von dem Papier auf und wirkte, als würde sie ihn am liebsten in der Luft zerreißen.
Er blieb völlig ruhig und gelassen und entgegnete leichthin: „Das habe ich nicht gesagt.“
„Nein?!“
„Nein.“ Hawke lächelte schwach und legte den Kopf schief. „Mein Kommentar lautete anders und wurde anscheinend aus dem Kontext gerissen.“
„Wie lautete denn bitte dein Kommentar?“, fauchte sie ihn an.
Jetzt hätte er ihr natürlich erklären können, dass er lediglich auf die dämlichen Kommentare der Journalisten geantwortet hatte und dass nicht er damit begonnen hatte, über Menstruationsbeschwerden und Tamponspender zu schwadronieren. Aber das tat er nicht. Stattdessen erwiderte er schlicht: „Dass ich kein Problem mit dir habe, solange du deine PMS nicht am Team auslässt. In diesem Zusammenhang erwähnte ich wohl auch, dass du in diesem Zustand meinetwegen die Umkleide putzen kannst, wenn du willst.“
Ihre grauen Augen weiteten sich vor Unglauben und Wut.
Dummerweise machte gerade diese Reaktion ihn ein bisschen geil, denn den besten Sex seines Lebens hatte er in jener Nacht gehabt, als Izzie und er nach einem lautstarken Streit übereinander hergefallen waren, um unglaublichen Versöhnungssex zu haben. Und weil Izzie vor Wut bebte, schaukelten ihre Brüste direkt vor seinem Gesicht ein bisschen hin und her. Es kostete Hawke absolute Konzentration, ihr nicht in den Ausschnitt zu starren und sich stattdessen auf das Hier und Jetzt zu fokussieren. Gleichzeitig rumorte gute alte Lust in seinem Magen und ließ seine Kehle trocken werden.
Verdammt, er war ein sechsunddreißigjähriger Mann und sollte nicht beim Anblick seiner Ex-Frau scharf werden – vor allem dann nicht, wenn sie Gift und Galle spuckte.
Und das tat sie, indem sie ihn anfuhr: „Wie kommst du darauf, vor der Presse so einen sexistischen Scheiß von dir zu geben? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie beleidigend und rufschädigend dieser Kommentar mir gegenüber ist?!“
„Izzie, komm schon.“ Hawke lächelte schief und fuhr in einem versöhnlichen Tonfall fort: „Das war nur ein bisschen Herumgeblödel und nicht ernst gemeint. Die Journalisten haben mich abgefangen und ein paar dumme Sprüche gerissen. Darauf habe ich lediglich geantwortet, aber niemand nahm das Ganze ernst.“
Sie schnappte nach Luft und wedelte mit dem Zeitungsausschnitt vor seinem Gesicht herum. „Findest du? Mit solchen Kommentaren befeuerst du die Ablehnung und Feindseligkeit mancher Fans mir gegenüber. Wenn sie lesen, dass der Quarterback meines eigenen Teams findet, ich solle lieber die Umkleide putzen, anstatt ihn zu coachen, sehen sie sich in ihrer Meinung doch nur bestärkt!“
Hawke schnitt eine Grimasse. „Das Käseblatt, mit dem du die ganze Zeit vor meinem Gesicht herumwedelst, nimmt niemand ernst. Dort könnte genauso gut stehen, dass Elvis gestern auf dem Planeten Melmac ein Konzert gegeben und anschließend eine Katze gegessen hat.“
Izzie ignorierte seinen Versuch, die Situation mit einem Scherz zu entschärfen, und blaffte ihn an: „Ich hätte nie geglaubt, dass du so tief sinken würdest, Hawke. Du hast etwas dagegen, dass ich hier bin und bei den Titans als Coach arbeite? Nun, dumm gelaufen. Akzeptiere das endlich und benimm dich wie ein Profi, aber lass deine Wut darüber nicht an mir aus, indem du gegenüber der Presse frauenfeindliche Kommentare fallen lässt, die nur Öl ins Feuer gießen!“
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Als der arrogante Quarterback, der ein paar Szenen zuvor den Nerd der Abschlussklasse ins Klo getaucht und eine der Cheerleader begrapscht hatte, von einem Speer aufgespießt wurde und erbärmlich zu schreien begann, während sein Blut an die Wände spritzte, prostete Isabelle ihm von ihrem Bett aus zu, nahm einen Schluck Bier und schnappte sich das nächste Stück Pizza. Dieses verdrückte sie genüsslich, während der verrückte Axtmörder sich den nächsten Footballspieler vornahm und ihm eine Hand abhackte. Als die abgetrennte Hand auf den blutigen Boden der Mannschaftsdusche fiel und dort zuckend liegen blieb, während ihr Besitzer vor Schmerzen schreiend an die Wand genagelt wurde, wurde das vernarbte Gesicht des Mörders gezeigt. Es war der Busfahrer, der das arrogante Footballteam den ganzen Film hindurch durch die Gegend gefahren war. Er lächelte zufrieden und lachte sogar angesichts der Schmerzensschreie des verletzten Footballspielers, der nur noch eine Hand besaß.
Isabelle konnte den Axtmörder verstehen.
Nach einem Tag wie heute musste auch sie das Bedürfnis niederkämpfen, mit einer Axt auf einige ihrer Spieler loszugehen. Ganz besonders den Gewaltexzess gegen den arroganten Quarterback konnte sie nachempfinden. Gerade heute hatte auch sie den Drang, Hawke einen Kopf kürzer zu machen oder an eine Wand zu nageln. Natürlich hätte sie ihm nie eine Hand abgehackt, weil er schließlich noch für sie spielen und Punkte erzielen sollte, aber sie hätte nichts dagegen, ihn ein bisschen leiden zu lassen.
In einem ihrer Lieblingsfilme quälte der Gewalttäter seine Opfer mit Elektroschocks. So etwas könnte sie sich auch gut bei Hawke vorstellen. Im Grunde würde sie am liebsten die meisten ihrer Footballspieler mit Sensoren ausstatten, die den Idioten einen elektrischen Schlag verpassten, wann immer sie durch Isabelle hindurchsahen, sie nicht ernst zu nehmen schienen oder ihre Befehle sichtlich ungern ausführten. Wäre es nicht schön, eine Fernbedienung mit sich zu führen und jedes Mal auf einen Knopf zu drücken, wenn irgendein Mann in der Umgebung etwas Dummes tat oder sagte, um ihm einen nicht tödlichen, elektrischen Schlag zu verpassen?
Die Stromanbieter würden Milliardengewinne machen!
Und Isabelle hätte horrende Stromkosten zu bezahlen – jedenfalls hätte sie allein am heutigen Tag so oft den Knopf gedrückt, dass sie vermutlich im Armenhaus gelandet wäre.
Wie konnte dieser Armleuchter vor der Presse über ihre PMS reden?
Wie konnte er diesen sexistischen Unsinn von sich geben, während die Journalisten doch nur darauf gierten, irgendeinen Kommentar von ihm zu hören, den sie ausschlachten konnten?
Hawke war lange genug dabei, um zu wissen, wie das Spiel mit der Presse lief. Er hätte erahnen müssen, welche Wellen ein solcher Kommentar, auch wenn er unbedacht gefallen war, auslösen könnte.
Isabelle war verdammt wütend auf ihn.
Und sie war verletzt, dass er auf diese Weise über sie gesprochen hatte.
Dabei hätte sie nicht gedacht, dass Hawke überhaupt in der Lage wäre, sie noch mehr zu verletzen, als er es bereits getan hatte. Aber das würde der Trottel nicht verstehen, denn er hatte auch früher nie verstanden, was sie empfunden hatte und weshalb sie wütend oder verletzt gewesen war. Er hatte nicht einmal versucht, es zu verstehen.
Sie warf den Pizzarand zurück in den Karton, griff nach ihrem Handy und lehnte sich gegen das riesige Kopfteil ihres gemütlichen Hotelbettes. Währenddessen verwandelte der Axtmörder die Umkleide des Highschoolfootballteams in ein schieres Blutbad. Isabelle fragte sich, wer dort wohl putzen würde, und schaute nach ihren E-Mails. Normalerweise schafften es blutige Horrorfilme immer, sie nach einem anstrengenden Tag runterkommen zu lassen und abzulenken. Heute war das nicht der Fall.
Ihr Postfach quoll fast über vor Anfragen diverser Pressevertreter, die nach einem Kommentar auf Hawkes Zitat fragten. Isabelle löschte die Mails unbesehen, schließlich sollte sich darum die Presseabteilung kümmern.
Die anderen Mails waren erfreulicher.
Eine alte Schulfreundin hatte ihr wie jedes Jahr eine obligatorische Mail geschickt, die voller Fotos ihrer Kinder und ihres Mannes war, um Isabelle auf den neuesten Stand zu bringen und sie daran zu erinnern, sie zu besuchen, falls es sie nach Montana verschlug. Dann gab es da noch die Nachricht ihrer Schwester, in der sie ihr die Pläne für ein Gartenhäuschen schickte, das sie in ihrem Garten bauen lassen wollte, und in der Isabelle ein kleines Video ihrer Nichte fand, die im Garten auf einer Decke erste Krabbelversuche machte. Außerdem hatte sich einer ihrer früheren Assistenztrainer gemeldet, um ihren Rat bezüglich einer neuen Arbeitsstelle einzuholen, während er von ihr wissen wollte, wie es bei den Titans lief und ob es stimmte, dass sie und Hawke Reynolds aneinandergeraten waren. Offenbar war das angebliche Käseblatt, das niemand ernst nahm, so bekannt, dass man es sogar in Missouri las.
Und dann war da noch die Mail ihrer Großmutter, die ihr irgendeinen Kettenbrief weitergeleitet hatte, in dem vermutlich ein Virus versteckt war.
Seufzend löschte sie die Mail und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, denn ihre Großmutter hatte sich anfangs wahnsinnig gegen den Computer gewehrt, den Nicky und sie ihr geschenkt hatten. Mittlerweile verbrachte sie jedoch viel Zeit im Internet und schickte ihnen täglich irgendwelche Mails, mit denen weder Isabelle noch ihre Schwester etwas anfangen konnten.
Sie schaltete den Ton des Horrorfilms aus und wählte die Nummer ihrer Großmutter, während sie ihre Knöchel übereinander kreuzte.
„Hi, Nana, ich bin es“, begrüßte sie ihre Großmutter, sobald diese den Hörer abgenommen hatte. „Störe ich dich?“
„Natürlich störst du nicht, mein Schatz. Es ist so schön, von dir zu hören. Wie geht es dir?“
„Ganz gut. Ich liege gerade im Bademantel in meinem riesigen Hotelbett, esse Pizza und schaue einen Film“, vertraute sie ihr fröhlich an. „Und du?“
Das Seufzen ihrer Großmutter war laut und deutlich zu hören. „Du schaust dir einen Film an? Schon wieder einen dieser grauenvollen Horrorfilme, für die du dich so sehr begeistern kannst?“
„Du kennst mich einfach zu gut“, gluckste Isabelle fröhlich. „Er würde dir gefallen.“
„Sicherlich nicht. Mir gefallen nur Filme, in denen keine abgetrennten Gliedmaßen und verstümmelten Leichen vorkommen. Ich mag Filme mit Paul Newman oder Marlon Brando.“
„Marlon Brando? Darf ich dich an den Film Der Pate erinnern, Nana? Der war total blutig. Sogar ein abgetrennter Pferdekopf kommt darin vor.“
„Papperlapapp! Der Film ist historisch, und abgetrennte Pferdeköpfe waren damals ganz normal.“
„Aber sicher.“ Isabelle kicherte fröhlich. „Komischerweise habe ich im Geschichtsunterricht niemals davon gehört, dass in den Vierzigerjahren abgetrennte Pferdeköpfe ganz normal waren.“
„Vermutlich hast du im Geschichtsunterricht nicht besonders gut aufgepasst, weil du immer nur Football im Kopf hattest“, erwiderte ihre Grandma listig und mit einem unterdrückten Lachen in der Stimme. „Ganz wie dein Großvater.“
Isabelle lächelte weich – wie immer, wenn sie an ihren Großvater dachte. „Da hast du wahrscheinlich recht.“
„Euch beide bekam man nicht vom Fernseher weg, wenn irgendein Spiel lief, und sobald ihr angefangen hattet, miteinander über Football zu reden, hätte ein Tornado das Haus wegfegen können, und ihr hättet es nicht mitbekommen. Nicky und ich hatten unsere liebe Mühe, eure Aufmerksamkeit zu bekommen, weil ihr ständig die Köpfe zusammengesteckt habt, um über Football zu reden.“
Ihre Kehle wurde eng, denn die Gespräche mit ihrem Großvater vermisste sie schrecklich. Er war ihr bester Ratgeber gewesen, wenn es um ihren Job ging. Und auch mit allen anderen Dingen, die in ihrem Leben passierten, war sie zu ihm gegangen, um ihn um Rat zu fragen.
Die Erinnerung an ihre Eltern war mittlerweile ziemlich verblasst, weil beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als Isabelle gerade zehn Jahre alt gewesen war. Sie erinnerte sich daran, von ihrer Mom zu Bett gebracht worden zu sein und dabei immer einen Kuss bekommen zu haben, und sie erinnerte sich an die Schaukel in ihrem Garten, auf der sie von ihrem Dad angeschubst worden war, während er gelacht hatte, weil sie so viel Spaß hatte. Natürlich vermisste Isabelle auch ihre Eltern, aber sie kannte sie beide nicht wirklich. Dafür war sie zu jung gewesen, als sie gestorben waren. Sie vermisste es, Eltern zu haben und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut zu haben – eine Beziehung, die sich von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter entwickelt hatte.
Eine solche Beziehung hatte sie zu ihrem Großvater gehabt. Er war nicht nur ihr Grandpa gewesen, sondern auch ihr Mentor. Dass sie ihn jetzt nicht mehr um Rat fragen konnte und dass sie nie mehr mit ihm über Football sprechen würde, schmerzte sie sehr.
Es fiel ihr nach wie vor schwer, zu akzeptieren, dass er nicht mehr da war.
Auch ihre Grandma musste ähnliche Gedanken hegen, weil sie wehmütig ins Telefon flüsterte: „Dein Großvater war am glücklichsten, wenn ihr beide eure Gespräche geführt habt. Er war so stolz, dass du in seine Fußstapfen getreten bist, Liebling. Das weiß ich genau.“
Mit einem Kloß in der Kehle erwiderte sie: „Danke, Nana.“
„Wenn er noch hier wäre, würde er pausenlos damit angeben, dass seine Enkelin in der NFL arbeitet. Mir würden vermutlich schon die Ohren bluten.“
Heiser lachte sie auf, denn die Vermutung ihrer Großmutter war gar nicht so abwegig. Ihr Grandpa hatte sein Herz nun einmal auf der Zunge getragen.
„Außerdem würde er zu jedem Spiel kommen, um dich zu unterstützen.“
Isabelle lächelte, denn ihr Großvater war bis ans andere Ende des Landes geflogen, um auf der Tribüne des Colleges zu sitzen, bei dem Isabelle ihren ersten Job ergattert hatte. Das war anschließend eine Art Tradition geworden.
„Wieso kommst du nicht nach New York, Nana, um dir ein Spiel anzusehen? Das würde mich sehr freuen.“
„Du weißt doch, dass ich von Football nichts verstehe, Schatz. Wenn ich dich besuchen komme, musst du mir New York zeigen und dir mit mir ein Stück am Broadway ansehen. Das würde Spaß machen.“
Lieber würde Isabelle stundenlang bei Minusgraden an der Seitenlinie stehen und frieren, anstatt sich am Broadway ein Theaterstück anzusehen.
Natürlich sagte sie das ihrer Großmutter nicht.
Diese wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern wollte neugierig von ihr wissen: „Kommen wir zur entscheidenden Frage: Hast du in New York schon einen netten Mann kennengelernt?“
Wieso Isabelle automatisch an Hawke dachte, wusste sie nicht.
Sie wusste nur, dass sie vermeiden wollte, ihrer Großmutter zu erzählen, dass Hawke für die Titans spielte, denn verquererweise hatte Nana immer eine Schwäche für ihn gehabt. Vielleicht würde sie auf dumme Gedanken kommen und Isabelle dazu ermutigen wollen, wieder mit ihrem Ex-Mann anzubandeln.
Als ob Isabelle jemals wieder auf Hawke Reynolds hereinfallen würde!
Bisher hatte Nana keine Ahnung, dass sie und Hawke für den gleichen Verein arbeiteten. Obwohl ihre Großmutter jahrzehntelang die Frau eines Footballcoachs gewesen war, hatte sie sich nie sonderlich für die NFL interessiert. Deshalb wusste sie auch nicht, dass Hawke für das Team spielte, das Isabelle coachte. Um endlosen Diskussionen aus dem Weg zu gehen, sollte es dabei bleiben. Ihre Großmutter war damals die einzige Person gewesen, die die Scheidung bedauert hatte. Ihr Großvater war stattdessen sichtlich erleichtert gewesen und hatte ihr geholfen, die ganze Angelegenheit so schnell und effektiv wie möglich unter den Teppich zu kehren. Außerdem hatte er es unterlassen, ihr unter die Nase zu reiben, dass er ihr von Anfang an davon abgeraten hatte, sich auf Hawke einzulassen. Für Isabelles geschundenes Herz und ihr angeknackstes Ego war das eine richtige Wohltat gewesen, immerhin hatte sie sich selbst die größten Vorwürfe gemacht.
„Ich arbeite den ganzen Tag und wohne in einem Hotel, Nana. Ich habe gar nicht die Zeit, einen Mann kennenzulernen“, konterte sie leichthin und hielt es für an der Zeit, ihre Großmutter von diesem Thema abzulenken, indem sie nachhakte: „Erzähl mir doch lieber von dem Buchclub, den Nicky erwähnt hat. Liest du wirklich schmutzige Bücher über potente Piraten und schwermütige Adelige?“
Damit war ihr die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter sicher, die verstörenderweise begann, ihr von ihrem aktuellen Buch zu berichten, das von einem englischen Herzog und seinem Kammermädchen handelte.