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„Ist der Platz hier noch frei?“

Hawke schaute von seinem Handy auf und begegnete dem fragenden Blick einer Blondine, die ihn mit unverhohlenem Interesse musterte. In der Hotelbar war es mit Ausnahme von ihm und dem Barkeeper hinter dem Tresen menschenleer und so gut wie jeder andere Platz war verfügbar, aber die Blondine in dem winzigen Kleid wollte sich zu ihm an den kleinen Tisch setzen, der mit lediglich zwei Sesseln bestückt war.

Er wusste, was hier los war.

Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht wie ein Groupie aussah, legte sie es darauf an, sich einen Footballspieler zu angeln. Hawke kannte diese Masche, schließlich war er nicht zum ersten Mal auf einem Auswärtsspiel und übernachtete in einem Hotel, in dem Frauen herumhingen, weil sie hofften, hier einen Footballspieler kennenzulernen. Manche wollten lediglich einmal in den Genuss kommen, einen Sportler zu ficken, und manche verfolgten das Ziel, sich einen schwerreichen Spieler zu angeln und ausgesorgt zu haben. Ein früherer Teamkollege von ihm war so dumm gewesen, ein Groupie mit auf sein Zimmer zu nehmen, und hätte fast mit ihr geschlafen, wenn er sie nicht dabei erwischt hätte, wie sie das Kondom durchlöcherte, bevor es ans Eingemachte ging.

Bei dem Gedanken an durchlöcherte Kondome konnte es einem Mann eiskalt den Rücken runterlaufen.

Hawke hatte nicht die Absicht, heute irgendjemanden mit auf sein Zimmer zu nehmen. Morgen stand ein wichtiges Spiel an, für das er sich in den letzten Tagen den Arsch aufgerissen hatte. Er hatte wie ein Besessener trainiert und sogar ein paar Extraeinheiten angesetzt, um das Zuspiel auf die Runningbacks zu verbessern. Nach dem heutigen Teamessen war er direkt in seinem Zimmer verschwunden, um ausreichend Schlaf für morgen zu bekommen, jedoch hatte das Geräusch der ratternden Klimaanlage ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Also war er nach unten gefahren, hatte an der Rezeption erfahren, dass das Hotel ausgebucht war und er kein anderes Zimmer bekommen konnte, und hatte sich anschließend in die Bar verzogen, wo er so lange abhängen wollte, bis er müde genug war, um trotz der lauten Lüftung schlafen zu können.

Ihm stand nicht der Sinn nach Gesellschaft – jedenfalls nicht nach der Art von Gesellschaft, die der Blondine ganz offensichtlich vorschwebte. Wenn er raten müsste, würde er davon ausgehen, dass sie in ihrer winzigen Handtasche neben ihrem Handy ein Kondom, einen Lippenstift und einen frischen Slip für den nächsten Morgen aufbewahrte.

Normalerweise hätte Hawke sie weggeschickt, aber weil er den fatalen Fehler begangen hatte, gerade eine Prognose für das morgige Spiel gelesen zu haben, in dem er ziemlich schlecht weggekommen war, nahm er die Ablenkung an, die die Blondine ihm bot. Natürlich würde er nichts mit ihr anfangen – Groupies mied er schon seit Jahren –, aber ein kleiner harmloser Flirt würde ihn aufmuntern und vielleicht vergessen lassen, dass er schon wieder als alternder Quarterback bezeichnet worden war.

Er schob das Handy in seine Jeanstasche und zwinkerte ihr zu. „Bis gerade eben war er es noch. Wollen Sie sich nicht setzen?“

Ihre rot geschminkten Lippen verzogen sich zu einem einladenden Lächeln, während sie sich auf den Sessel sinken lassen wollte. „Ich dachte, Sie fragen nie.“

„Was möchten Sie trinken?“

„Sie möchte nichts trinken und du hast für heute auch genug.“ Plötzlich stand Izzie wie der Racheengel höchstpersönlich neben dem Tisch und sah auch ein bisschen so aus, denn sie trug ein ausgeblichenes Sweatshirt mit passenden Jogginghosen, hatte ihr rotes Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden und schaute sie durch eine dunkle Hornbrille unheilverkündend an.

Das Groupie zuckte zusammen und starrte Izzie mit purem Entsetzen im Blick an.

Beinahe hätte Hawke gelacht, denn es war nicht schwer zu erraten, was die Blondine dachte. Anscheinend hielt sie Izzie für seine Frau oder seine Freundin, die gerade zur Schreckschraube mutierte, weil sie ihren Mann dabei erwischt hatte, wie er mit einer anderen anbandeln wollte. Vielleicht waren ihr solche Szenen nicht einmal fremd.

Aus Izzies Ohren würde im nächsten Moment Dampf aufsteigen – so viel war sicher.

Hawke blieb nichts anderes übrig, als die Situation zu entschärfen.

„Mit uns wird es heute leider nichts, Schätzchen“, erklärte er daher träge und zwinkerte der Blondine zu. Natürlich hatte er keineswegs die Absicht gehabt, mit ihr etwas anzufangen, aber das musste Izzie ja nicht wissen.

Sobald das Groupie das Weite gesucht hatte, verschränkte Izzie die Arme vor der Brust und baute sich vor ihm auf. Hawke musste schon wieder zu ihr aufsehen, aber dieses Mal machte es ihm nicht einmal etwas aus. Ganz im Gegenteil, denn irgendwie fand er es amüsant, sie derart aufgebracht wegen einer anderen Frau zu sehen. Ihr Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet, ihre grauen Augen funkelten ihn an und ihr Kinn mit der winzigen Kerbe in der Mitte bebte vor Empörung.

„Hast du mal auf die Uhr gesehen?“

„Dir auch einen schönen Abend, Izzie“, erwiderte er gelassen und streckte die Beine von sich – jedenfalls so weit das ging, schließlich stand sie direkt vor ihm und wich keinen Zentimeter zurück. „Willst du etwas trinken?“

„Was?!“ Sie sah ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost.

Er seufzte schwermütig und zuckte mit den Schultern. „Du hast die einzige Person vertrieben, die heute Abend etwas mit mir getrunken hätte. Da wäre es nur fair, wenn du dich zu mir setzt und etwas trinkst, oder?“

„Bist du betrunken, Hawke?“

„Nicht einmal ansatzweise.“ Weil sie nicht antwortete und ihn weiterhin stumm ansah, hakte er freundlich nach: „Kann ich etwas für dich tun?“

„Du kannst endlich ins Bett gehen!“

Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe, während er gespielt verstört erwiderte: „Hältst du das für eine gute Idee? Ich meine, natürlich stehe ich dir gern zu Diensten, falls du darauf bestehst, aber wenn ich mich recht erinnere, warst du damals diejenige, die geschworen hat, nie wieder mit mir ins Bett zu gehen.“

Sofern es möglich war, wurde sie noch röter und noch wütender. „Das meine ich nicht, und das weißt du genau!“

„Und was meinst du dann?“, entgegnete er träge und sichtlich erheitert über den Verlauf ihres Gesprächs.

„Der Zapfenstreich war vor einer halben Stunde“, fauchte sie ihn an. „Du solltest längst in deinem Zimmer sein, anstatt in der Hotelbar zu sitzen, zu trinken und Groupies aufzureißen, die fast deine Töchter sein könnten!“

Er fand ihre Empörung so amüsant, dass er sich nicht einmal an der Anspielung auf sein Alter störte.

„Der Zapfenstreich ist etwas für die Rookies, aber nicht für alte Hasen wie mich. Findest du nicht auch?“

„Ich finde, dass du deinen Arsch schnellstmöglich in dein Zimmer bewegen solltest, bevor ich dir eine saftige Geldstrafe aufbrumme. Morgen steht ein wichtiges Spiel an, das wir nicht riskieren dürfen, weil du nicht ausgeschlafen bist, verdammt noch mal.“

Während sie ihn anbrüllte, verdrehte er unbeeindruckt die Augen, ergriff sein Glas und nahm einen großen Schluck, bevor er dem Barkeeper zurief: „Noch einen, bitte.“

„Nein, er hat genug“, grätschte sie dazwischen und rief dem Barkeeper über die Schulter hinweg zu: „Schreiben Sie die Rechnung auf sein Zimmer und bringen Sie ihm bloß keinen weiteren Drink.“

„Himmel, Izzie. Bleib ruhig“, riet Hawke ihr.

Sie antwortete nicht sofort, sondern riss ihm das beinahe leere Glas aus der Hand. „Du stehst morgen auf dem Feld und kippst dir heute Drinks hinter die Binde?“ Kopfschüttelnd führte sie sich das Glas an den Mund und murmelte: „Du bist ein verdammter Idiot und …“

Zwischen Belustigung und Schadenfreude hin- und hergerissen beobachtete Hawke, wie sie verwirrt an seinem Glas roch, einen Schluck nahm, die Stirn runzelte und ihn dann ungläubig ansah. „Eistee? Das ist Eistee?“

„Zuckerfreier Eistee“, präzisierte er und wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen. „Als Sportler muss ich schließlich darauf achten, was ich konsumiere.“

Izzie ließ das Glas sinken. „Du trinkst Eistee aus einem Whisky-Glas?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn ich schon in Askese leben muss, will ich wenigstens das Gefühl haben, einen draufzumachen.“

Schnaubend verdrehte nun sie die Augen und trank den Rest seines Eistees aus.

Fasziniert verfolgte Hawke, wie sich ihr schlanker Hals streckte, als sie das Glas an den Mund ansetzte, und wie sie anschließend mit der Zunge einen Tropfen Eistee von ihrer vollen Unterlippe leckte.

Er schluckte schwer und fragte sich, warum er Izzie, die eine Hornbrille, einen zerzausten Pferdeschwanz sowie unförmige Klamotten trug, so viel heißer fand als die aufgedonnerte Blondine in dem winzigen Kleid.

„Seit wann trägst du eine Brille?“, wollte er von ihr in dem Bemühen wissen, sich davon abzulenken, sie anzustarren und dabei schmutzige Fantasien zu haben.

„Seit ich bis spät in die Nacht am Computer sitzen muss und mir die Augen wehtun.“ Sie stellte das Glas zurück auf den Tisch und sah ihn auffordernd an. „Ich begleite dich nach oben zu deinem Zimmer.“

„Aha.“

„Ja, der Zapfenstreich gilt auch für dich“, beschied sie fest.

Seufzend erhob er sich und erwiderte milde: „Du weißt nicht, was du verpasst, schließlich war ich gerade in großzügiger Laune und hätte dir einen Eistee spendiert.“

„Danke für das Angebot“, konterte Izzie trocken und deutete auf die Hotellobby. „Nach dir.“

„Ich glaube, dass der blonde Groupie mehr von dir als einen Eistee erwartet hätte“, erklärte sie ganz plötzlich, als sie durch die Lobby in Richtung der Aufzüge schlenderten. Wenn Hawke nicht alles täuschte, hatte ihre Stimme, die im Normalfall leicht rauchig klang, einen ätzenden Tonfall angenommen.

„Ich weiß genau, was sie erwartet hatte, aber entgegen deiner Annahme hätte sie das nicht von mir bekommen.“ Hawke drückte auf den Knopf nach oben und schob seine Hände in die Jeanstaschen. Er war stolz darauf, wie gefasst und ruhig er klang. Und er hoffte, dass Izzie nicht auf die Idee kam, das Thema weiterzuverfolgen.

Leider tat sie es dennoch.

„Wieso? War sie nicht dein Typ?“ Izzie räusperte sich und heuchelte mit gespielt verwirrter Stimme vor: „Dumme Frage – sie war leicht bekleidet und willig. Also genau dein Typ, nicht wahr?“

Er atmete tief durch und betrat den Aufzug, nachdem sich dessen Türen geöffnet hatten. Izzie folgte ihm und drückte auf den Knopf für die zehnte Etage. Er war in der elften untergebracht. Also drückte er den entsprechenden Knopf und entgegnete freundlich: „Kann es sein, dass du eifersüchtig bist und deshalb über die Blondine redest, obwohl sie mir völlig egal ist?“

„Eifersüchtig?“ Izzie spie das Wort förmlich hervor. Sie wandte sich ihm zu und stemmte die Hände in die Hüften, während sie das Kinn hob und die Nase rümpfte. Ihre Brüste bebten, als sie ihn anfuhr: „Wieso sollte ich eifersüchtig sein? Mir ist es völlig egal, was du mit wem treibst, solange es dich nicht davon abhält, morgen eine gute Leistung zu bringen!“

Hawke schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln. „Aber sicher. Rede dir das ruhig ein, Izzie. Ich habe doch Augen im Kopf.“ Noch immer wusste er, wie er sie provozieren musste. Und sein leises Lachen provozierte sie ziemlich gut, denn sie schnappte nach Luft und öffnete den Mund, um ihn höchstwahrscheinlich runterzuputzen.

Dazu kam es jedoch nicht, weil Hawke es nicht mehr aushielt und sie an sich zog, um sie zu küssen. Das war vermutlich die dümmste Idee, die er momentan haben konnte, und ganz sicher würde er es später bereuen, aber jetzt gerade wollte er nicht mit ihr streiten, sondern wissen, ob sie noch immer so schmeckte wie früher.

Er begrub ihren Mund unter seinem, glitt mit seinen Lippen über ihre und kostete den großzügigen Schwung ihrer Unterlippe aus. Seine Hände umfassten ihre Taille durch den warmen Stoff ihres Sweatshirts und zogen sie näher an seinen Körper. Sie roch so gut und schmeckte noch besser, als Hawke kosend über ihre Unterlippe leckte und seine Zunge in ihren Mund hineinschlüpfen ließ. Sie war warm, nass und umwerfend, als sie mit einem halb erstickten Stöhnen auf seinen Kuss reagierte.

Damit hatte er nicht gerechnet.

Er hatte nicht einmal geahnt, dass sie den Kuss erwidern könnte, in seinen Mund stöhnte und sich an ihn schmiegte, während ihre Hände über seine Brust glitten. Aber das tat sie. Sie küsste ihn ebenso leidenschaftlich und tief wie er sie und hinterließ mit ihren Händen einen elektrisch aufgeladenen Schauer auf seinem Oberkörper.

Hawke musste an sich halten, damit er nicht völlig den Kopf verlor, weil übermächtige Lust über ihn hinwegrollte und sich in seinem ganzen Körper ausbreitete. Izzies Duft, ihr Geschmack und das Gefühl ihrer Hände auf seinem Körper nahmen ihn völlig gefangen und schafften es, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er brach in Schweiß aus und stöhnte ebenfalls auf, weil er mehr wollte.

Er wollte sie unter sich, über sich. Wollte ihren nackten Körper an seinem spüren. Wollte den kleinen Leberfleck über ihrem rechten Mundwinkel küssen und dann mit seinem Mund über ihren Hals abwärts gleiten, bis er ihre Brüste erreicht hätte.

Er wollte …

„Nein.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass sie ihm den Mund entzogen und ihre Hände gegen seine Brust gestemmt hatte, um ihn auf Abstand zu halten.

Schwer atmend starrte er Izzie ins Gesicht, deren Wangen gerötet waren, während ihre grauen Augen ganz dunkel geworden waren. Er kannte diesen Ausdruck in ihren Augen. Es war Lust, die ihren Blick verschleierte.

Sie blinzelte und atmete nicht weniger schnell als er. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, und an ihrem Hals konnte er sehen, dass sie schwer schluckte.

Hawkes Finger zuckten in dem Bedürfnis, sie einfach zu packen, fest an sich zu ziehen und wieder nah an seinem Körper zu spüren.

„Nein“, wiederholte Izzie mit zittriger und heiserer Stimme. Sie schluckte ein weiteres Mal und trat einen wackeligen Schritt zurück. Auch Hawke fühlte sich mit einem Mal ziemlich wackelig auf den Beinen. „Das ist keine gute Idee. Es … es ist sogar eine ziemlich schlechte Idee“, stieß sie hervor und schüttelte ablehnend den Kopf.

Ja, sie hatte recht.

Die Idee war schlecht.

Warum fühlte es sich dann nur so gut an, sie zu küssen?

„Wir vergessen einfach, dass das hier passiert ist. Okay?“

Hawke konnte nicht antworten. Er konnte sie lediglich anstarren und sich dabei fragen, was hier gerade geschah. Zum Glück rettete sie der laute Ping, als der Aufzug zum Stehen kam und in der zehnten Etage hielt. Die Türen öffneten sich.

Izzie atmete tief ein und straffte die Schultern. „Wir sehen uns morgen beim Spiel.“

Danach verschwand sie und ließ ihn völlig verwirrt zurück.

Gestern hatte er sie geküsst und heute ignorierte er sie gänzlich.

Isabelle stand am Spielfeldrand, beobachtete das Geschehen vor sich genau und versuchte, nicht länger an den gestrigen Kuss zu denken, sondern sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Es war nämlich das letzte Viertel, die Zeit spielte gegen sie und momentan waren die Eagles im Ballbesitz. Beide Teams waren fast punktgleich, und die letzten Spielzüge würden spielentscheidend sein. Wenn die Titans jetzt nicht den Kopf verloren, würden sie das Spiel gewinnen.

Deshalb durfte auch Isabelle nicht den Kopf verlieren, weil sie sich gestern von ihrem Ex-Mann hatte küssen lassen, der sich jetzt gerade nur wenige Meter von ihr entfernt befand und auf einem Tablet die Aufnahmen der letzten Spielzüge analysierte, während Graham Carter neben ihm stand und ihm irgendetwas sagte, dem Hawke beipflichtete, weil er nickte.

Er hatte die Stirn gerunzelt und war absolut konzentriert, was Isabelle daran erkennen konnte, dass er die Unterlippe nach vorn geschoben und die Augen zusammengekniffen hatte. Außerdem zuckte es in seiner linken Wange, während er auf das Tablet starrte und mit dem Finger über das Display fuhr. Sein Gesicht war von der Anstrengung der harten Spielzüge gerötet und schweißnass. Seine verschwitzten Haare, die sich normalerweise leicht wellten, lagen platt gedrückt an seinem Kopf. Und sein Trikot sowie die weiße Footballhose waren mittlerweile total verdreckt, weil er mehrmals zu Boden gegangen war.

Bis jetzt war es ein hartes und langes Spiel gewesen. Ihm musste jeder Knochen im Leib wehtun, wenn sie an das Tackling im dritten Viertel dachte, bei dem sie für ein paar Sekunden die Luft angehalten hatte. Dass er sich danach wieder aufgerappelt und weitergespielt hatte, sprach für ihn.

Hawke machte jedoch nicht den Eindruck, erschöpft zu sein, sondern war völlig auf das Spiel fokussiert und sichtlich entschlossen, heute zu gewinnen.

„Wir müssen in Ballbesitz kommen.“ John, der die letzten Minuten an der Seitenlinie auf und ab getigert war und ständig in Richtung Spielfeld gebrüllt hatte, blieb neben ihr stehen und deutete auf die Angriffslinie. „Goldberg wird versuchen, ein Turnover zu erzwingen. Nehmen wir an, dass er es schafft. Dann wären wir in Ballbesitz und hätten noch Zeit für einen Spielzug. Was würdest du vorschlagen?“

Isabelle verdrängte jeden Gedanken an Hawke und starrte an die Anzeigentafel. „Beim jetzigen Punktstand würde ich auf Sicherheit spielen. Ein Field Goal bringt uns drei Punkte. Damit würden wir gewinnen. Es wäre knapp, aber wir würden gewinnen. Falls Philadelphia jetzt noch punktet, müssen wir auf volles Risiko gehen und einen Touchdown versuchen. Blue Twenty Eight .“

„Gut.“ John schlug ihr gedankenverloren auf den Rücken und schien vergessen zu haben, dass sie kein zweihundertvierzig Pfund schwerer Strong Saftey war, sondern gerade einmal die Hälfte davon wog. „So machen wir es. Gib der Offense Bescheid.“

Sie schwankte und nickte ihm zu, weil ihr die Luft in den Lungen fehlte, um zu antworten. Während sie das Spielfeld im Blick behielt, auf dem sich die Eagles für ihren nächsten Spielzug bereit machten und die Defense der Titans Aufstellung nahm, arbeitete sich Isabelle zu Hawke vor, der sich gerade Wasser in den Mund spritzte und ebenfalls ganz genau verfolgte, was auf dem Spielfeld passierte.

Isabelle blieb neben ihm stehen und wandte sich ihm schräg zu. „Bei diesem Punktestand reicht uns ein Field Goal für den Sieg. Mit drei Punkten können wir gewinnen. Wir spielen nur auf Risiko, wenn Philadelphia punkten sollte.“

„Noch sind wir nicht im Ballbesitz“, erinnerte er sie, ohne seinen Blick vom Spielfeld zu nehmen. „Unsere Offense wäre jetzt am Ball, wenn der Schiri die Augen aufgemacht und gesehen hätte, dass Sanchez in O’Neills Facemask gegriffen hat!“

„Vergiss es“, forderte sie ihn auf, obwohl sie sich vermutlich am meisten aufgeregt hatte, als O’Neill aufgrund der regelwidrigen Behinderung zu Boden gegangen war und den Ball verloren hatte. „Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Wir müssen ein Spiel gewinnen.“

„Ein Spiel gewinnt man durch einen Touchdown.“

„Nein, man gewinnt es, indem man mehr Punkte als das andere Team hat“, hielt sie ihm entgegen und straffte die Schultern. „Wir spielen auf Sicherheit, falls der Punktestand so bleibt.“

Und das tat er tatsächlich, denn ein Blitz wie aus dem Lehrbuch sicherte ihnen den Ball, während die Eagles nur zuschauen konnten, wie die Defense der Titans sie überrollte.

„Ein Field Goal“, erinnerte Izzie Hawke, als sich dieser den Helm aufsetzte, um aufs Spielfeld zu laufen. „Mit drei Punkten Führung gewinnen wir.“

„Ein Spiel durch ein Field Goal zu gewinnen ist beschissen“, brummte er angewidert und starrte sie aus seinen grünen Augen herausfordernd an. „Carter müsste nur ein paar Yards bis in die Endzone laufen.“

„Ja, und deshalb wird Philadelphia alles in der Defense aufbieten, was sie haben.“

„Ich wiederhole: Ein Sieg durch ein Field Goal ist keine Art zu gewinnen.“

Isabelle verstand, dass ein Field Goal nicht glamourös oder so atemberaubend wie ein Touchdown in letzter Sekunde war, aber es bedeutete den Sieg über das heutige Spiel. „Scheiß drauf“, fuhr sie ihn deshalb an und versetzte seiner Schulter einen Schlag. „Du hast schon oft genug mit einem Field Goal gewonnen, also tust du das jetzt auch, verstanden?“

An seiner sturen Miene erkannte sie sofort, was er dachte. Kategorisch schüttelte sie den Kopf, also fuhr sie im strengsten Tonfall fort: „Wenn du einen Pass auf Carter versuchen solltest, könnte das eine Interception verursachen und die Eagles könnten punkten. Mit einem Field Goal läuft die Zeit lang genug runter, damit Philadelphia keine Chance hat, noch zu punkten. Deshalb wird es ein Field Goal. Tu endlich das, was ich sage, Hawke!“

Er verschloss den Kinnriemen, grinste sie träge an und lief aufs Feld.

Natürlich hörte der Mistkerl nicht auf sie und ignorierte ihre Order.

Sein Pass auf Carter war großartig, das musste sogar Isabelle zugeben, obwohl sie ihn gleichzeitig gerne umgebracht hätte. Der Ball landete genau in den Händen des Wide Receivers, doch leider hatte der Schiri heute tatsächlich Tomaten auf den Augen, weil er schon wieder nicht sah, wie ein gegnerischer Linebacker Carter in die Facemask griff und ihn so zu Fall brachte.

Philadelphia schnappte sich den Ball und punktete.

Und die Titans verloren.

Schon wieder.

„Coach Brennan, wieso haben wir alle den Eindruck, dass in der Mannschaft zurzeit nichts glatt läuft? Dies ist die zweite Niederlage infolge.“

So hatte sich Isabelle ihre erste offizielle Pressekonferenz in der NFL nach einem Spiel nicht vorgestellt. Zusammen mit John, mit dem Generalmanager Mitch Cahill, mit Graham Carter und mit Hawke, der direkt neben ihr saß, hatte sie sich der versammelten Pressemeute gestellt, die ganz offensichtlich heute Blut sehen wollte. Sie saßen auf einem Podium und wurden nun bereits seit Minuten gegrillt, weil sie gegen die Eagles verloren hatten.

Isabelle wusste, dass dies zum Geschäft gehörte, und sie war auch während ihrer Zeit als Footballcoach am College bei Pressekonferenzen gegrillt worden, wenn ihr Team verloren hatte oder sie in die Kritik wegen ihrer Entscheidungen geraten war. Dennoch wäre sie lieber als siegreicher stellvertretender Head Coach bei ihrer ersten Pressekonferenz aufgetaucht, anstatt einer Horde Männer gegenüberzusitzen, deren Mienen zwischen Ärger, Resignation und Schadenfreude schwankten, während es in Isabelles Magen ungut rumorte, weil sie das Spiel verloren hatten. Sie fühlte sich in die Defensive gedrängt.

„Lassen wir die Kirche mal im Dorf, Carpenter“, wehrte sich John ziemlich direkt. „Das heute war ein knappes Spiel, das ebenso gut zu unseren Gunsten hätte ausfallen können. Die Fehlentscheidungen des Schiedsrichters erwähne ich in diesem Zusammenhang nicht, um zu entschuldigen, dass wir verloren haben. Ja, wir haben verloren – zum zweiten Mal. Das ist scheiße, aber nicht das Ende der Welt. Unser Team steigert sich in seinen Leistungen von Tag zu Tag. Und angesichts der Tatsache, dass wir einige einschneidende personelle Veränderungen hatten, bin ich zufrieden mit dem, was ich sehe.“

„Ist das Ihr Ernst?“, wollte ein Journalist mit schlechtem Haarschnitt und einem noch schlechteren Anzug ungläubig wissen. „Sie haben die ersten zwei Spiele verloren, obwohl es die Titans in den letzten Jahren immer wieder in die Play-offs geschafft haben!“

„Ich wusste gar nicht, dass man automatisch aus den Play-offs ausscheidet, wenn man die ersten zwei Spiele verloren hat“, entgegnete John schneidend. „Wir haben gerade September. Die Play-offs starten im Januar. Könnten uns endlich ernst zu nehmende Fragen gestellt werden? Mit solchen Fragen verschwenden Sie nur unsere Zeit.“

Isabelle behielt eine nichtssagende Miene bei, obwohl sie von Johns undiplomatischen Antworten überrascht war. Bei ihm lagen die Nerven wohl auch ein bisschen blank, was vermutlich weniger mit dem heutigen Spiel, sondern mit Baby Theo zu tun hatte, der in der Nacht Fieber bekommen hatte. John hatte den ganzen Tag über immer wieder mit seiner Frau telefoniert, um sich nach dem Zustand des Kleinen zu erkundigen, dem es anscheinend wieder besser ging. Dass John nach wie vor besorgt war, war jedoch völlig verständlich. Sicherlich wäre er jetzt lieber bei seiner Familie, als in einer anderen Stadt dämliche Pressefragen zu beantworten.

Ein älterer Journalist, der seine Notizen noch völlig altmodisch in ein kleines Heftchen schrieb, während seine Kollegen allesamt ein Smartphone benutzten, wollte wissen: „Liegen die schlechten Leistungen des Teams vielleicht an einem Autoritätsproblem?“ Er schaute in Isabelles Richtung. „Es ist deutlich, dass es Coach Moore an Durchsetzungskraft fehlt. Ansonsten hätte sich der Quarterback nicht öffentlich gegen sie ausgesprochen, oder etwa nicht?“

Ihr Magen sackte nach unten und zog sich schmerzhaft zusammen. Natürlich hatte Isabelle damit gerechnet, dass Hawkes Kommentar erwähnt werden würde, aber sie war nicht von einer so direkten und geradezu feindseligen Art und Weise ausgegangen.

„Die Frage würde ich gern beantworten, wenn es allen recht ist“, erklärte Mitch Cahill und beugte sich zu seinem Mikrofon nach vorn. „Es gibt weder ein Autoritätsproblem noch mangelt es Coach Moore an Durchsetzungskraft. Wir haben intern geklärt, wie es zu dieser Fehlinterpretation eines Kommentars kam, den Hawke auf die Frage eines Ihrer Kollegen von sich gegeben hat. Mehr steckt nicht dahinter.“

„Und das sollen wir wirklich glauben? Hawke, wollen Sie, dass Coach Moore die Umkleide putzt, anstatt das Team zu coachen?“

Hawke neben ihr schnaubte lauthals. „Natürlich nicht. Das ist kompletter Unsinn.“

„Und warum haben Sie es dann gesagt?“

Er stöhnte angewidert. „Ich habe lediglich auf das Herumgeblödel einiger Ihrer Kollegen geantwortet und einen flapsigen Kommentar von mir gegeben, der nicht ernst gemeint war. Und der wurde auch noch falsch wiedergegeben.“

„Coach Moore, hat sich Reynolds für seinen Kommentar bei Ihnen entschuldigt?“

Er hatte sie gestern geküsst und deshalb die halbe Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen, aber das zählte vermutlich nicht als Entschuldigung. „Machen Sie nicht mehr daraus, als es ist“, entgegnete sie ruhig und gefasst. „Dieser Satz sollte lediglich für Schlagzeilen sorgen, hat jedoch nichts mit der Realität zu tun. Die Spieler wissen, dass ich nicht ihre dreckigen Socken wegräume, sondern sie coache. Damit kommen wir alle klar.“

Ha!

„Da wir schon von Durchsetzungskraft sprechen: Beim heutigen Spiel hatte man den Eindruck, dass der Quarterback Ihre Anweisung beim letzten Spielzug missachtet hat, Coach Moore. Auf jeden Fall sind Sie nach der Interception ziemlich wütend geworden und haben am Spielfeldrand getobt. Richtete sich Ihre Wut gegen Hawke Reynolds?“

Wenn sie die Wahrheit gesagt hätte, wäre sie diejenige gewesen, die für Schlagzeilen gesorgt hätte, deshalb wiegelte sie ab, indem sie antwortete: „Ich war wütend und habe getobt, weil unser Wide Receiver regelwidrig zu Boden gerissen wurde und der Schiedsrichter dies nicht einmal zur Kenntnis genommen hat. Interpretieren Sie nicht zu viel in meinen Wutanfall hinein.“ Sie lächelte den dunkelhaarigen Journalisten mit dem schrecklichen Schnäuzer an. „Warten Sie erst einmal ab, wie wütend ich werden kann, wenn jemand behauptet, dass ich nicht einparken könnte.“

Ein paar der Journalisten lachten leise auf. Ein paar andere starrten sie weiterhin abwägend an.

„Aus gut unterrichteten Quellen habe ich erfahren, dass es zu Unstimmigkeiten zwischen Ihnen beiden gekommen ist. Stimmt es, dass Sie sich weigern, einen weiblichen Coach zu akzeptieren, Hawke?“

Isabelle warf ihm einen neugierigen Seitenblick zu und bemerkte, dass er nicht nur gerade geduscht haben musste, sondern auch frisch rasiert war. Das weiße langärmelige Shirt, das er trug und bis zu seinen Ellenbogen hochgeschoben hatte, verströmte den Geruch nach frischer Wäsche und war eine Wohltat nach der kurzen Stippvisite in der Umkleidekabine, in der es nach Schweiß, dreckigen Socken und Demütigung gestunken hatte.

„Nein, das stimmt nicht. An Ihrer Stelle würde ich die gut unterrichtete Quelle feuern und mein Geld zurückverlangen, Bob.“

„Also haben Sie kein Problem damit, Befehle von einer Frau anzunehmen?“

Ein eindeutiges schmutziges Lächeln zog sich über sein Gesicht. „Sie können ein paar Damen fragen, die Ihnen alle bestätigen können, dass ich nichts dagegen habe, Befehle von einer Frau anzunehmen.“

Wieso wunderte sich Isabelle nicht über Hawkes Erwiderung? Sie war schließlich absolut typisch für ihn.

Während die übrigen Teilnehmer auf dem Podium die Augen verdrehten oder sich räusperten, lachten die Journalisten – jedenfalls alle bis auf einen.

Isabelle beobachtete, wie er ein betont freundliches Lächeln aufsetzte, die Hand hob und wissen wollte: „Das heißt, dass Sie nichts dagegen haben, ausgerechnet von Ihrer Ex-Frau Befehle anzunehmen, Hawke? Meine Quelle hat mir nämlich verraten, dass Sie und Isabelle Moore vor vierzehn Jahren für kurze Zeit verheiratet waren. Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich falschliegen sollte.“