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Jedes Mal, wenn er Izzie über den Weg lief, zog sich sein Inneres schmerzhaft zusammen, ein Kloß bildete sich in seiner Kehle, der ihn nur mühsam atmen ließ, und von seinem Herzen schien ein weiteres Stück abzubrechen.

Weil es unvermeidbar war, dass sie einander über den Weg liefen, war dieser Zustand permanent.

Heute war er ihr nicht nur beim Training begegnet, sondern auch in der Cafeteria, im Aufzug und bei einer Besprechung der Offense. Und jedes Mal hatte es sich angefühlt, als bohrte sich ein glühendes Eisen durch seine Brust.

Als wäre das nicht schlimm genug, betrachtete sie ihn mit einem so verlorenen und erschütterten Blick, wenn sie glaubte, dass er es nicht bemerkte, dass Hawke Gewissensbisse empfand. Dabei hatte er nichts falsch gemacht! Er hatte lediglich die einzig richtigen Konsequenzen gezogen.

Ja, er war derjenige gewesen, der Schluss gemacht hatte. Aber sie war diejenige gewesen, die den Auslöser dafür geliefert hatte. Izzie hatte nicht die gleichen Gefühle für ihn, wie er sie ihr entgegenbrachte. Sie wollte ihn nicht an ihrer Seite haben – das hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben. Jetzt verstand er auch, weshalb sie so sehr darauf gepocht hatte, ihre Beziehung geheim zu halten, und weshalb sie stets darauf erpicht gewesen war, dass niemand sie beide zusammen sah. Er bezweifelte mittlerweile, dass es nur etwas damit zu tun gehabt hatte, sich nicht der Presse auszuliefern und sich von der Saison ablenken zu lassen. Er war Profifootballspieler und so ehrgeizig in allem, was seinen Job betraf wie niemand sonst, aber selbst ihm wäre es egal gewesen, wenn die Zeitungen über Izzie und ihn berichtet hätten.

Nein, Izzie hatte dieser Beziehung schlicht und ergreifend nicht die Bedeutung zugemessen, wie er es getan hatte. Sie war ihr nicht so wichtig gewesen wie ihr Job – er war ihr nicht so wichtig gewesen wie ihr Job.

Hawke hatte einsehen müssen, dass Izzie ihn von sich gestoßen hatte, als es hart auf hart gekommen war. Sie hatte ihn zurückgewiesen und von sich geschoben, wie sie es schon einmal gemacht hatte. Damals hatte sie ihn einfach aus ihrem Leben gestrichen und ohne ihn weitergemacht, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, die Probleme, die sie gehabt hatten, aus der Welt zu schaffen. Beim ersten Anzeichen eines Problems hatte sie ihn stehen lassen. Sie war gegangen und hatte ihn zurückgelassen, als wäre er niemand Wichtiges.

Sie hatte ihn verlassen – so wie es alle Menschen um ihn herum getan hatten, seit er ein Kind gewesen war. Seine Mom, sein Dad, seine zahlreichen Verwandten und Izzie, die ihm gleich zweimal deutlich gemacht hatte, dass sie ihn nicht an seiner Seite haben wollte – sie alle hatten ihn verlassen.

In seinen Augen hatte Izzie damit nur eines bewiesen: Für sie gehörte er nicht zur Familie, denn sie würde niemanden aus ihrer Familie von sich stoßen und aus ihrem Leben streichen.

Hawke hatte nach den letzten Monaten geglaubt, dass sie ihn nicht nur auf die gleiche Art liebte wie er sie, sondern dass er endlich zu einer Familie gehörte.

Dass dies ein Trugschluss gewesen war, war für Hawke nur schwer zu ertragen.

Nachdem sie ihn vor vierzehn Jahren verlassen und sich von ihm hatte scheiden lassen, hatte Hawke entschieden, dass er Single bleiben wollte. Die Erfahrung, die er mit seinen Verwandten und mit Izzie gemacht hatte, hatten ihn so enttäuscht und verletzt, dass er geglaubt hatte, eine Familie wäre den Schmerz, den Aufwand und die Enttäuschung nicht wert. Und doch hatte er sich immer ein Zuhause gewünscht, von dem er wusste, dass er dorthin gehörte und dass er dort immer willkommen war.

Dummerweise hatte er in den letzten Monaten angefangen zu glauben, dass Izzie für ihn dieses Zuhause sein könnte.

„Hast du heute noch etwas vor? Ein paar der Jungs und ich wollen uns zum Pokern treffen. Eddie hat zu Hause sturmfrei, weil seine Frau und seine Tochter für ein paar Tage die Familie besuchen. Sagen wir um sieben Uhr bei ihm?“ Graham öffnete seinen Spind, der genau neben Hawkes lag, und grinste ihn an. „Vielleicht gewinne ich die hundert Mäuse zurück, die du mir beim letzten Mal aus der Tasche gezogen hast. Anscheinend hast du dir ein paar Tricks von Coach Moore abgeschaut, denn so gut hast du noch nie zuvor geblufft.“

Hawke schlüpfte in seinen Pullover und schüttelte anschließend den Kopf. „Vielleicht nächstes Mal. Ich habe schon etwas vor“, log er, denn ihm stand nicht der Sinn danach, den Abend mit seinen Teamkollegen zu verbringen, gute Laune vorzutäuschen und den neuesten Geschichten aus ihren Ehen zu lauschen. Das hätte ihn nur noch mehr deprimiert.

„Hast du ein Date?“, fragte Graham ihn leichthin und zog sich sein Trainingstrikot über den Kopf.

Falls man einen einsamen Abend auf der Couch mit Netflix ein Date nennen konnte, dann hatte er definitiv eins. „Nicht wirklich“, erwiderte er mit einem Brummen, hob seine Tasche aus dem Spind und stopfte seinen restlichen Kram hinein, bevor er diesen schloss.

„Ich nehme dich beim Wort, was die nächste Pokerrunde betrifft.“ Graham kratzte sich an seiner nackten Brust. „Die hundert Mäuse hole ich mir zurück.“

Hawke lächelte schwach. „Du kannst es ja versuchen.“ Grüßend hob er die Hand, schulterte die Tasche und verließ die Umkleide. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause, um seine Wunden zu lecken. Der lange Tag im Verein und die ständigen Begegnungen mit Izzie hatten ihm ziemlich zugesetzt.

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als er um eine Ecke bog und dabei in jemanden hineinlief, der einen halben Kopf kleiner war, dessen dunkelrotes Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden war und der einen winzigen Leberfleck über dem rechten Mundwinkel besaß, den Hawke am liebsten geküsst hätte.

Izzie stieß einen erschrockenen Laut aus, als sie gegen seine Brust prallte. Ganz automatisch umfasste Hawke ihre Oberarme mit seinen Händen, damit sie nicht hinfiel.

Für einen kurzen Moment erlaubte er sich, sie eng an seine Brust gedrückt zu fühlen, ihren Geruch in sich aufzunehmen und sie zu halten. In seinem Magen kribbelte es und sein Herz begann zu rasen. Gleichzeitig machte sich eine eigenartige Trostlosigkeit in ihm breit.

Anscheinend hatte sie bemerkt, dass er es war, in den sie hineingerannt war, weil sie ihm einen vorsichtigen Blick aus ihren grauen Augen schenkte, der ebenso trostlos war, wie Hawke sich fühlte.

Langsam ließ er sie los und machte einen Schritt zurück.

Er konnte sehen, dass sie schluckte. „Hawke.“ Sie atmete tief ein und bat ihn heiser: „Können wir bitte reden? Das alles tut mir leid, und ich möchte nicht …“ Sie verstummte prompt, als sich hinter ihm eine Tür quietschend öffnete und gleich darauf das polternde Gelächter von Blake O’Neill zu hören war, der sich offenbar mit jemandem unterhielt. Verzweifelt sah sie Hawke an.

Er schüttelte knapp den Kopf. „Mach’s gut, Izzie.“ Dann ließ er sie stehen und verschwand aus dem Vereinsgebäude.

Auf dem Rückweg nach Hause fragte er sich, was sie zu ihm gesagt hätte, wenn sie nicht unterbrochen worden wären. Aber dann sagte er sich, dass Taten mehr zählten als schnöde Worte. Dass Izzie augenblicklich verstummt war, als sie nicht mehr allein in diesem Flur gewesen waren, zählte mehr als alle Beteuerungen, die sie von sich hätte geben können.

Hawke grübelte darüber noch nach, als er wieder zu Hause war, seine Wäsche sortierte, die Post durchging und anschließend die Schublade öffnete, in der Izzie ein paar Schokokekse deponiert hatte, um etwas Süßes im Haus zu haben, wenn sie bei ihm war. Bislang hatte er die Existenz der zuckerhaltigen Kalorienbomben ignoriert und war standhaft geblieben.

Aber jetzt war er so deprimiert und frustriert, dass er seine Disziplin vergaß, die Packung öffnete und sich einen ganzen Keks auf einmal in den Mund schob. Sobald er diesen gegessen hatte, aß er den nächsten und dann noch einen. Und mit jedem Keks fühlte er sich beschissener als zuvor – nicht, weil er an die Kalorien oder seinen Ernährungsplan dachte. Die waren ihm scheißegal.

Mit der restlichen Packung schlich er ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch, bevor er nach der Fernbedienung seiner TV-Anlage griff, obwohl er gar keine Lust hatte, irgendetwas anzusehen. Es war nur so verflucht still in seiner Wohnung, dass er kurz vorm Durchdrehen war.

Sobald er seinen Account geöffnet hatte und den Suchverlauf der letzten Wochen angezeigt bekam, hatte er unversehens einen Kloß im Hals, denn ein Horrorfilm nach dem nächsten wurde ihm vorgeschlagen. Ein Film war blutiger als der andere.

Das Kettensägenmassaker vom Lakeshore Drive

Die Menschenfresser schlagen zurück

Willkommen im Haus der Zerfleischten

Der Schlächter des Grauens

Izzie hätte ihre helle Freude an der Auswahl gehabt, dachte er wehmütig und klickte auf die Sparte mit den Komödien. Er brauchte unbedingt etwas zum Lachen.

Als sein Telefon klingelte, fuhr er auf und verspürte einen Funken Hoffnung, dass es Izzie war, die ihn anrief, um ihm zu sagen, dass es ihr leidtat und dass sie mit ihm zusammen sein wollte.

Jedoch war es nicht Izzie.

Es war sein Vater.

Hawke drückte seinen Anruf weg, weil ihn sein alter Herr vermutlich nur wieder nach Geld fragen würde. Darauf konnte er verzichten. Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich zu wünschen, dass sein Vater ihn nicht wegen der Kohle anrief, sondern um Teil seines Lebens zu sein. Er war ihm mittlerweile egal.

Stattdessen wünschte sich Hawke, dass jemand anderes sich darum bemühte, Teil seines Lebens zu sein. Er wünschte es sich sogar verzweifelt.

„Du musst es abhaken, Isabelle. Wenn du das nicht endlich tust, dann kannst du auch nicht nach vorn blicken und weitermachen.“

Isabelle starrte John an, der sie gerade aus ihren Gedanken gerissen hatte. Woher wusste er, dass sie über Hawke nachgedacht hatte? Und warum …

„Die Niederlage war nicht deine Schuld. Du hast als Coach einen fantastischen Job und alles richtig gemacht. Deshalb hast du auch keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen. Vergiss die dämlichen Kommentare auf der Pressekonferenz. Diese Typen haben selbst nie die Verantwortung für ein NFL-Team gehabt und wissen gar nicht, wovon sie sprechen.“ Aufmunternd zwinkerte er ihr zu. „Meistens sind sie nur bei den Spielen dabei, um sich mit kostenlosen Shrimps vollzustopfen. Auf deren Meinung darfst du nichts geben. Deine Entscheidung, im dritten Viertel aufs kurze Zuspiel zu setzen und die gegnerische Defense durch zone blitzes unter Druck zu setzen, war goldrichtig. Eddie Goldbergs Touchdown wird heute noch in jeder Sendung gezeigt, so spektakulär war er.“

Mit einem schwachen Lächeln erwiderte sie Johns Euphorie und lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Sie hatte verrückterweise gedacht, er würde über Hawke sprechen – nicht über das Spiel. Das verlorene Spiel vom letzten Wochenende hatte sie bereits vergessen und verschwendete keine Sekunde mehr daran. Stattdessen dachte sie permanent über Hawke nach.

Ja, ihre Arbeitsmoral ließ zu wünschen übrig, schließlich konzentrierte sie sich mehr auf ihr Privatleben als auf ihren Job, aber sie konnte nichts dafür. Ihr Streit, der darin gegipfelt war, dass er mit ihr Schluss gemacht hatte, beherrschte ihre Gedanken. Den ganzen Tag über und sogar nachts ließ sie den Streit Revue passieren und fragte sich, wie es so weit hatte kommen können. Sie wusste nur, dass er völlig ausgeflippt war und sich über ihre Wünsche hinweggesetzt hatte, als er auf dieser Pressekonferenz durchgedreht war. Und anschließend hatte er nicht einmal richtig zugehört, als sie ihm zu erklären versucht hatte, warum es so wichtig war, dass sie in der NFL Erfolg hatte. Hawke hatte sich darauf versteift, dass sie bedroht wurde, und hatte sich zu ihrem Beschützer aufgeschwungen, obwohl sie niemanden brauchte, der sich vor sie stellte und beschützte.

Und bevor Isabelle gewusst hatte, was überhaupt los war, hatte er ihre Beziehung beendet.

„Erde an Isabelle.“ John lachte leise auf und erschien in ihrem Blickfeld, weil er den Kopf gesenkt hatte, während er auf ihrer Schreibtischkante hockte. „Bist du noch da?“

Sie blinzelte erschrocken. „Ja … Entschuldige. Ich … ich habe gerade nachgedacht.“

„Das sehe ich.“ Er seufzte und schenkte ihr einen verständnisvollen Blick. „Hör zu – bei meiner ersten Niederlage als Head Coach war ich auch am Boden zerstört. Es ist ein Scheißgefühl, aber das vergeht. Immer wieder wird es Spiele geben, die man verliert, aber das gehört dazu. Je mehr Zeit man darauf verschwendet, über Fehler oder Versäumnisse nachzudenken, die in der Vergangenheit passiert sind, desto weniger Zeit hat man, um sich auf die Zukunft vorzubereiten. Hake das Spiel ab und lass uns darüber nachdenken, wie wir das nächste Spiel gewinnen, okay?“

„Okay.“ Sie stieß den Atem aus und zwang sich dazu, nicht länger über Hawke nachzudenken. „Das klingt nach einem guten Plan.“

„Auf jeden Fall. Ich habe mit den Trainern der Defense bereits überlegt, wie wir Toms Ausfall kompensieren können.“ Er fuhr sich durchs Haar und seufzte. „Das wird eine große Aufgabe werden.“

„Das denke ich auch.“ Isabelle verzog den Mund und bedachte ihn eingehend. „Bevor wir über den Job sprechen, würde ich lieber mehr über Theo erfahren. Bisher weiß ich nur, dass die OP gut verlaufen ist. Ist mit ihm alles in Ordnung?“

John als vierfacher Vater, der sogar bereits Großvater war, wirkte erleichtert, als er nickte. „Ja, der Kleine hat alles gut überstanden. Er durfte gestern sogar schon wieder nach Hause und hält uns alle auf Trab. Die Ärzte sind sehr zufrieden und meinen, dass er bald damit beginnen kann, für die Auswahlmannschaft am College zu trainieren.“ Er grinste, auch wenn dieses Grinsen nicht darüber hinwegtäuschte, wie groß seine Besorgnis gewesen sein musste, als sein Sohn am Herzen operiert worden war.

Isabelle wusste zwar, dass es eine relativ kleine, nicht invasive Operation durch einen Katheter gewesen war, aber sie wollte sich dennoch nicht vorstellen, was John und Hanna durchgemacht hatten. Theo war schließlich ein Baby und hatte in seinem jungen Alter schon viel zu viel Zeit in einem Krankenhaus verbringen müssen.

John seufzte auf. „Mir würde es schon reichen, wenn er irgendwann zusammen mit seinen Geschwistern auf der Tribüne sitzt und zusieht, wie die Titans gewinnen. Er muss nicht in meine Fußstapfen treten und Footballspieler werden. Die Hauptsache ist, dass er das macht, was er liebt.“

„Wer weiß.“ Sie lächelte ihm verständnisvoll zu. „Vielleicht liebt er ja das Gleiche wie du und wird eines Tages Quarterback bei den Titans. Dann kannst du auf der Tribüne sitzen, ein Jersey mit seiner Nummer tragen und ihm zuschauen. Bei meinem Grandpa und mir war das auch so. Als Teenager habe ich mir immer die Spiele angeschaut, die er gecoacht hat, und als ich als Coach gearbeitet habe, ist er zu meinen Spielen gekommen, um mir zuzuschauen. Das war fast so etwas wie eine Tradition.“

„Eine schöne Tradition“, sinnierte John. „Das würde mir gefallen.“

Einen kurzen Moment erinnerte sich Isabelle an Hawkes Worte, als er ihr erzählt hatte, dass er den dritten Superbowl gewinnen wollte, um ihrem Großvater zu beweisen, dass er gut genug war. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in ihr aus, wenn sie überlegte, dass Hawke nach so vielen Jahren, die seit der Scheidung vergangen waren, noch immer an diesem Schwur festhielt und ihrem Großvater etwas beweisen wollte, obwohl dieser bereits tot war. Sie fragte sich, weshalb dieses Bedürfnis, es ausgerechnet ihrem Großvater zu zeigen, ihn all die Jahre hindurch begleitet hatte. Sie waren immerhin geschieden gewesen und hatten am Leben des anderen nicht mehr teilgenommen.

Isabelle hatte zwar von Anfang an gewusst, dass das Verhältnis zwischen Hawke und ihrem Großvater angespannt gewesen war, aber ihr wäre nicht in den Sinn gekommen, dass es solche Ausmaße angenommen hatte.

Dass Hawke nach Virginia gekommen war, um mit ihr zu reden, nachdem sie ihn verlassen hatte, und dass er dort mit ihrem Großvater aneinandergeraten war, hatte sie nicht gewusst. Ihr Großvater hatte ihr nichts davon erzählt, und Isabelle gefiel es nicht, dass er es ihr verschwiegen hatte. Es wäre ihre Entscheidung gewesen, ob sie mit Hawke hätte reden wollen oder nicht. Vielleicht hätten Hawke und sie sich zusammengerauft und ihre Differenzen aus der Welt schaffen können. Sie wusste es nicht.

Damals war sie tief verletzt und rasend vor Wut zugleich gewesen.

Es war nicht richtig gewesen, dass ihr Großvater über ihren Kopf hinweg etwas entschieden hatte, was vermutlich ihre Zukunft beeinflusst hatte. Wenn er heute noch leben würde, hätte sie ihm genau das vorgeworfen und einen riesigen Streit ausgelöst, denn bei aller Unterstützung und seinem progressiven Blick auf ihren Job war ihr Großvater ein konservativer und zeitweise altmodischer Mann gewesen. Seiner Meinung nach war es die Aufgabe des Mannes, für seine Frau und seine Töchter oder Enkeltöchter zu sorgen – dies schloss ein, dass er an wichtigen Entscheidungen beteiligt sein wollte und ihr sowie Nicky gerne Ratschläge erteilt hatte. Weil ihre Schwester und sie meistens sowieso Entscheidungen getroffen hatten, zu denen er ihnen geraten hätte, hatte es kaum Konfliktpotenzial gegeben. Er war davon ausgegangen, dass sie beide seinen Rat angenommen hatten, und Nicky und sie hatten ihn in dem Glauben gelassen, dass sie sich seinetwegen entschlossen hatten, etwas zu tun, was er befürwortete.

Als sie Hawke geheiratet hatte, hatte sie ihn nicht um Rat gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt.

Gerade was diese so wichtige Lebensentscheidung betraf, hatte sie ihn außen vor gelassen und ihn weder eingeweiht noch an dieser Entscheidung teilhaben lassen.

Wie es aussah, hatte er seine Verärgerung und Enttäuschung darüber an Hawke ausgelassen, gegen den er von Anfang an eine Abneigung verspürt hatte.

Isabelle hatte damals zwar geahnt, dass ihr Großvater Hawke nicht leiden konnte, weil er ihm gegenüber ziemlich ruppig gewesen war, aber sie hatte geglaubt, dass sich dies legen würde und dass es normal war, wenn ein Vater beziehungsweise Großvater mit der Partnerwahl der Tochter oder Enkelin nicht einverstanden war. Sie war so verliebt in Hawke gewesen, dass sie davon überzeugt gewesen war, dass die beiden sich irgendwann blendend verstehen würden.

Heute wusste sie, dass dies nicht der Fall gewesen war.

Sie grübelte noch darüber nach, während sie und John über das nächste Spiel sprachen und während sie kurz darauf an dem Trainingsplan der kommenden Tage feilte. Und sie grübelte weiterhin darüber nach, als sie Teddy MacLachlan-Palmer traf, deren ernste Miene ihr Anlass zur Sorge gab.

„Hast du eine Minute für mich, Isabelle?“ Sie bugsierte sie in ein freies Büro, in dem normalerweise jemand aus der Buchhaltung saß und arbeitete, momentan jedoch nicht am Platz war. „Ich hatte gerade ein Gespräch mit der Rechtsabteilung wegen dieser unsäglichen Kommentare und wegen der Drohungen gegen dich. Unsere Anwälte stehen in den Startlöchern, um dagegen vorzugehen. Mittlerweile konnten einige Urheber der Drohungen ermittelt werden. Das juristische Team schätzt die Chancen, diese Männer zu belangen, sehr hoch ein.“ Teddy sah sie ernst an. „Der Verein steht hinter dir und unterstützt dich in jeder Entscheidung, die du triffst. Du hast völlig freie Hand, wie du mit der Situation umgehen willst.“

Isabelle seufzte schwer und fuhr sich mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar. „Eigentlich würde ich die ganze Angelegenheit am liebsten vergessen und einfach nichts tun.“

Teddy nickte langsam. „Okay.“

Da ihre Chefin nicht in Freudensprünge ausbrach, sondern kaum merklich die Stirn runzelte, fragte Isabelle leichthin nach: „Darf ich fragen, wie der Wunsch des Vereins lautet? Sollen diejenigen, die mich im Netz beleidigt haben, an den Pranger gestellt werden?“

„Wir wollen niemanden an den Pranger stellen“, stellte Teddy klar und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich persönlich würde mir wünschen, dass wir ein Zeichen setzen, dass wir Sexismus und Gewalt nicht tolerieren. Sport ist dazu da, Brücken zu bauen und aufeinander zuzugehen. Hass hat dort keinen Platz, und das müssen auch diejenigen lernen, die denken, dass nur sie ein Anrecht auf Football haben. In der letzten Saison haben ein paar homophobe Arschlöcher ein schwules Paar vor den Augen von Rob Savage zusammengeschlagen, weil die es gewagt hatten, sich mit ihm fotografieren zu lassen. Solche Gewalttaten haben in unserer Liga nichts zu suchen.“

Isabelle wand sich innerlich. „Das verstehe ich, aber ich bin in der Vergangenheit am besten damit gefahren, wenn ich Anfeindungen und Beleidigungen einfach ignoriert habe.“

Ihre Chefin sah sie eindringlich an. „Du weißt doch, wie es im Football läuft. Dort gewinnt der Stärkere. Deshalb glaube ich, dass diese Idioten, die dir drohen und dich beleidigen, nur dann in ihre Schranken gewiesen werden, wenn sie von jemandem bekämpft werden und verlieren.“ Seufzend verzog sie den Mund. „Vor allem die NFL gilt noch immer als exklusiver Herrenclub, in der Frauen vor allem schmückendes Beiwerk auf der Tribüne oder im Cheerleading-Kostüm sind. Ich hatte auch ständig mit Vorurteilen und Anfeindungen zu kämpfen, bis ich ernst genommen wurde. Aber das muss sich ändern – ob sich nun endlich unsere schwulen Spieler trauen, sich offiziell zu outen, oder ob Frauen Schlüsselpositionen in den jeweiligen Vereinen übernehmen. Die Moderne muss auch im Football ankommen. Ich wünsche mir für die Frauen, die nach uns kommen, nicht die gleichen Kämpfe und Schwierigkeiten, denen wir noch immer ausgesetzt sind. Unsere Töchter sollen es später besser haben als wir.“ Federleicht fuhr ihre Hand über den winzigen Babybauch, der sich unter ihrem Pullover abzeichnete. „Kleine Mädchen sollen dich ansehen und sich wünschen können, später auch ein weiblicher Head Coach zu werden, ohne dabei Angst haben zu müssen, dass irgendwelche Sexisten sie deswegen bedrohen. Das hier ist New York. Nicht Teheran.“

Isabelle stieß den Atem aus und kniff die Augenbrauen zusammen. „Das ist nicht fair, Teddy. Du manipulierst mich, wenn du von kleinen Mädchen sprichst.“

Ihre Chefin schenkte ihr ein winziges Lächeln. „Eine Frau muss tun, was eine Frau tun muss.“ Sie räusperte sich bedeutungsvoll. „Es ist zwar schön, wenn sich der eigene Mann dazu aufschwingt, die Ehre seiner Frau zu verteidigen, aber manche Dinge haben nur dann Bedeutung und Kraft, wenn man sich selbst dafür einsetzt.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, konterte Isabelle irritiert.

„Ich spreche von Hawke und davon, wie er dich auf der Pressekonferenz verteidigt hat“, erwiderte Teddy schlicht. „Mein eigener Mann ist meinetwegen auch diverse Male in aller Öffentlichkeit zum Berserker geworden, weil er glaubte, mich beschützen zu müssen. Dafür hatte ich immer Verständnis. Deshalb kann ich nachvollziehen, wie es Hawke ergangen sein muss. Dennoch ist eine Frau, die für sich selbst einsteht, viel kraftvoller und bedeutsamer, als wenn sie von einem Mann beschützt wird.“

Isabelle schluckte schwer und spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, während sie so leichthin wie möglich konterte: „Hier muss ein Missverständnis vorliegen. Hawke und ich … Er ist nicht mein Mann, und er hat nicht meine Partei ergriffen, weil er mich beschützen wollte. Die … die Situation hat sich schlichtweg so ergeben. Mehr steckt nicht dahinter.“

Der Blick, mit dem Teddy sie musterte, sagte Isabelle, dass ihre Chefin ihr kein Wort glaubte und sie längst durchschaut hatte. Sie räusperte sich und entgegnete trocken: „Wenn das deine offizielle Erklärung für sein Verhalten auf der Pressekonferenz ist, solltest du Hawke lieber vorschlagen, dass er nicht alle um sich herum ansieht, als würde er sie mit bloßen Händen umbringen, wenn sie es wagen, auch nur in deine Richtung zu atmen. Der Mann legt dir gegenüber einen solchen Beschützerinstinkt an den Tag, dass man kein besonders guter Journalist sein muss, um herauszufinden, dass ihr beide längst wieder ein Paar seid.“