Juni 1985, Sylt

Die See schäumte , die Brandung lief weit aus, ihre Zungen leckten über den Strand, manchmal bis zu den ersten Strandkörben, die weit an die Wasserkante gerückt worden waren. Kari zog ihre Schuhe aus, die feucht und sandverkrustet waren, machte ein paar Schritte in die Brandung hinein, zuckte dann aber vor dem kalten Wasser zurück und stolperte weiter. Schließlich blieb sie vor einem Strandkorb stehen, starrte eine Weile zum Horizont und ließ sich dann einfach hineinfallen. Es war früh, die Feriengäste saßen noch beim Frühstück, nur einige Strandwanderer schälten sich aus dem Dunst des Morgens. Sie war müde, mein Gott, war sie müde!

Sie schloss die Augen und versuchte, das Pochen in ihrem Kopf durch pure Willensanstrengung abzuschwächen. Aber natürlich gelang es ihr nicht. Der hämmernde Kopfschmerz schnitt rhythmisch in das Dumpfe, Unklare, Anteillose, das sie ausfüllte. Von Kopf bis Fuß. Auch hier am Strand wollte sich ihre Gefühlslage nicht klären. Sie hatte darauf gehofft, dass der Wind, die Kälte des Wassers, das Sprühen der Gischt ihr helfen würden, oder die Sonne, die langsam höher stieg und hinter den weißen Wolkenbergen gelegentlich zum Vorschein kam. Aber die Sonne war ebenso wenig in der Lage, etwas zu ändern oder zu verbessern wie das Meer.

Kari versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Gut, dass Mike heute früh aufgestanden war und sie an das erinnert hatte, was sie am Abend zuvor abgemacht hatten. Sie selbst hatte es längst vergessen. Verdammt, sie wusste nicht einmal mehr, wie lange sie nicht mehr zu Hause gewesen war. Zwei Tage? Oder drei? Wann war sie gegangen, und welcher Tag war heute? Sie durfte nicht mehr so viel konsumieren. Aber wenn Mike und Julian so großzügig die Drogen verteilten, war es schwer abzulehnen. Am Vorabend war sie etwas vorsichtiger gewesen. Vermutlich hatte das Gespräch mit Mike dafür gesorgt, dass sie nicht mit den anderen gekifft hatte. Sie war mit ihm zum Strand gegangen, und sie hatten lange geredet. An derselben Stelle, an der vor einigen Tagen die Party losgegangen war: am Strand, mit Lagerfeuer, Schampusflaschen in großen Eiskühlern, Gitarrenmusik und dann die Joints, die von Hand zu Hand gingen. Herrlich! Als sich die sechs Half Brothers dazu gesellt hatten, waren die Joints noch schneller gekreist. Ob die fünf kräftigen schwarzen Musiker wirklich Halbbrüder waren, wusste niemand. Ihre Sängerin, eine Weiße aus Hamburg, die als Einzige Deutsch sprach, beantwortete diese Frage nicht. Sie war auch nicht lange geblieben, hatte ein oder zwei Cocktails getrunken und war dann mit der Ermahnung an die fünf Halbbrüder, am nächsten Tag pünktlich zur Probe zu kommen, verschwunden. Sie traten fast jeden Abend irgendwo auf Sylt auf, spielten Jazz, Swing und am liebsten Bebop. Seit den Weltfestspielen des Jazz, die 1978 in Westerland ausgetragen worden waren, gehörte der Jazz auf die Insel. Sogar der damalige Bundespräsident Walter Scheel war zu Gast und bei den meisten Jazzkonzerten dabei gewesen.

Dass die Half Brothers keine schwarze Sängerin hatten, verwunderte manche, aber wer bei ihrem Gesang die Augen schloss, konnte sich durchaus einbilden, Ella Fitzgeralds Stimme zu hören. Sie waren jedenfalls sehr erfolgreich, traten fast immer vor ausverkauftem Haus auf. Wo Mike und Julian sie aufgetrieben hatten, war Kari ein Rätsel. Die beiden hassten Jazz und waren entsetzt gewesen, als sich herausstellte, dass die Half Brothers in einem Auto vorfuhren, indem sie Trompete, Kontrabass, Saxofon und Schlagzeug transportierten und leutselig fragten, ob ein Klavier im Haus sei. Sie hatten Mikes Einladung falsch verstanden. Nein, er wollte kein Hauskonzert, er wollte sie nur kennenlernen und bei der Strandparty als seine Gäste bewirten. Egal, welche Künstler auf Sylt gastierten, Mike schaffte es meistens, aus ihnen Freunde zu machen. An das Ende dieser ersten Partynacht konnte sich Kari nicht erinnern. Oder doch? Ja, eine Ahnung hatte sie, keine wirkliche Erinnerung, mehr ein Gefühl, das sich auf ihrer Haut festgesetzt hatte. Irgendwann waren sie ins Haus gegangen, es waren nur ein paar Schritte vom Strand zu Mikes Anwesen. Das große reetgedeckte Haus fügte sich hervorragend in die Dünenlandschaft ein. Bei Nacht war es so dunkel wie der Sand und der Strandhafer, die es umgaben, in der Dämmerung so grau wie der Himmel und im Sonnenlicht eine strahlend helle Villa, die trotz des behäbigen Reetdaches, des Friesenwalls und der dunklen Verklinkerung mit einer Ausstattung protzte, die nicht zu den Friesenhäusern passte, denen sie nachempfunden war. Als sie vor einigen Stunden alle zum Strand gegangen waren, hatte die Gartenbeleuchtung sie geführt, nun waren die Lampen erloschen, um niemanden darauf aufmerksam zu machen, dass am Strand gefeiert wurde. Auf dem Weg zur Villa hatte Kari die kleinen Feuer und Fackeln betrachtet, die in den Sand gesteckt worden waren und im Wind flackerten.

Kari presste die Augen zusammen und dachte nach, versuchte, die Bilder hervorzuholen, die sich noch immer unter dem Drogenrausch versteckten. Nein, Bilder brachte die Erinnerung nicht hervor, nur Gefühle. Kari spürte einen weichen Teppich unter ihrem Körper, die Hände eines Mannes, sein Flüstern an ihrem Ohr. Seinen guten Geruch, das dezente Herrenparfüm stieg ihr in die Nase – und dann fühlte sie seinen Körper über ihrem. Eine schöne Erinnerung, ein zärtlicher Mann. Aber an sein Gesicht konnte sie sich nicht erinnern. Himmel, sie durfte wirklich nicht mehr so viel kiffen. Diesmal musste auch LSD dabei gewesen sein. Vielleicht auch Pilze? Und hatte sie überhaupt daran gedacht, die Pille zu nehmen?

Sie öffnete die Augen, und es kam ihr so vor, als wäre das Meer ruhiger geworden, als liefen die Wellen nicht mehr so weit aus, als wäre aus der grauen Farbe des Wassers ein schönes Grün geworden. Sie hörte Kinderstimmen. War sie etwa eingeschlafen? Der Strand war nicht mehr leer, die ersten Familien erschienen, sie sah die Köpfe von zwei, drei Schwimmern, die zwischen den Wellen auf- und abtauchten.

»Das ist unser Strandkorb.«

Vor ihr erschien ein Mann von etwa vierzig Jahren, beladen mit Kinderspielzeug, Kühltasche und einer Luftmatratze. Hinter ihm standen seine Frau, an deren Schulter eine große Strandtasche baumelte, und zwei Kinder, jedes mit einer Sandschaufel in einer und einem Schwimmring in der anderen Hand.

»Das ist unser Strandkorb«, sagte nun auch die Frau.

Kari schwankte, als sie aufstand.

»Sind Sie etwa betrunken?«, fragte die Frau streng. »Haben Sie in unserem Strandkorb übernachtet?«

Kari antwortete nicht. Sollte diese blöde Kuh doch denken, was sie wollte! Als gehörten der Strandkorb und der Strand denen, die Kurtaxe bezahlten! Der Strand gehörte den Syltern, den Menschen, die hier geboren waren, die hier lebten! Sie ließ sich doch von solchen Leuten nicht ihren Strand, ihre Insel wegnehmen! »Leckt mich!«

Sie ging zur Kurpromenade hoch, ohne sich noch einmal umzudrehen. Es ging ihr jetzt besser. Wenn sie vor ein oder zwei Stunden noch gedacht hatte, dass nicht einmal der Blick aufs Meer ihr helfen konnte, so stellte sie jetzt fest, dass die Kopfschmerzen nur noch ein unangenehmes Vibrieren hinter der Stirn waren, dass sich ihre Gedanken klärten und ihre Empfindungen allmählich eindeutiger wurden. Der Filmriss war natürlich noch nicht gekittet, die Geschehnisse der letzten Stunden oder Tage verbargen sich nach wie vor hinter einem dichten Vorhang, der so schwer war, dass er sich nicht beiseiteschieben ließ. Doch das, was sie Mike am Vorabend versprochen hatte, war ihr jetzt wieder ganz klar.

»Das würdest du für mich tun?«, hatte er mit großen Augen gefragt.

»Natürlich. Wir sind doch Freunde.« Sie hatte geantwortet, als wäre es darum gegangen, ihm ein Kleidungsstück zu überlassen oder einen Füllfederhalter auszuleihen.

Ganz so leicht nahm sie ihr Versprechen jetzt nicht mehr, aber sie würde es nicht zurückziehen. Was war schon dabei? Und überhaupt … eine Hand wusch die andere. Die Entscheidung würde auch ihr Freiheiten ermöglichen. Mike war steinreich, einer der bekanntesten Modedesigner Deutschlands, wenn sie in sein Haus zog, würde es ihr gut gehen. Und sie wäre dann endlich den Ansprüchen ihrer Eltern davongelaufen, die sie täglich drängten, ihr Vorwürfe machten und immer wieder unter die Nase rieben, was sie von ihr erwarteten. Damit wäre dann Schluss. Kari würde nicht mehr auf sie angewiesen sein.

Sie stieg die Treppe von der Kurpromenade zum Miramar hoch. Der Portier, der neben dem Eingang stand, begrüßte sie freundlich. Kari Rensing war ja überall bekannt, ihre Eltern genossen einen untadeligen Ruf.

Der Portier wandte sich einem Gast zu, und Kari nutzte die Gelegenheit, sich in der Glasscheibe der Eingangstür zu spiegeln. Wie sah sie eigentlich aus? Hatte sie am Morgen geduscht, sich gekämmt und geschminkt? Sie hob den rechten Arm und steckte die Nase so unauffällig es ging in ihre Achsel. Sie roch gut, hatte also daran gedacht, ein Deo zu benutzen. Und dass sie geduscht hatte, fiel ihr jetzt auch wieder ein. Sie hatte auch ihre Haare gewaschen. Lockenwickler hatte sie nicht gefunden, aber immerhin einen Föhn. Damit hatte sie die Farrah-Fawcett-Frisur natürlich nicht hinbekommen, aber das Stirnband rettete ihr Styling. So sah sie aus wie eine blonde Nena, ohne die überdimensionalen Lockenwicklerlocken, dafür aber modern, als trüge sie eine Vokuhila-Frisur. Also trotzdem vorzeigbar. Besser, als sie sich fühlte. Ihre rote Lederhose saß perfekt, die knappe weiße Bluse mit dem winzigen Krägelchen gab ihr etwas Niedliches. Unten verrucht und oben unschuldig, sie mochte diese Kombination.

Und so ging es offenbar auch den beiden älteren Herren, die in dem Moment aus dem Miramar traten. Sie blieben stehen, als sie Kari sahen, als hofften sie, dass sie ihretwegen gekommen war. Kari schenkte ihnen ein Lächeln und ging weiter. Die Blicke in ihrem Rücken gaben ihr Kraft. Sie war jung, sie war hübsch und würde demnächst sogar nicht nur auf Sylt, sondern in ganz Deutschland bekannt sein. Anders, als ihre Eltern es sich wünschten, aber so, wie sie selbst sich die Zukunft vorstellte. Die beiden würden schon ihr Einverständnis geben, wenn auch zähneknirschend. Mike musste nur alles so machen, wie sie es ihm eingeschärft hatte …