Juni 1985, Sylt

Hans-Josef Keller stand am Fenster seines Büros und starrte hinaus. Noch immer! Bewegungslos! Dabei war Kari längst vorbeigelaufen und nebenan im Café König Augustin verschwunden. Schon gestern und vorgestern hatte er gewartet. Es musste ihr doch etwas an ihm liegen! Hätte sie ihn sonst eingeladen, sie zu der Party bei Mike Heiser zu begleiten?

»Komm einfach mit, wenn du Lust hast«, hatte Kari gesagt, als sie sich vor gut einer Woche zufällig vor dem Hotel begegnet waren. »Mike freut sich, wenn man Gäste mitbringt.« Sie hatte ihn grinsend gemustert. »Heißt du wirklich Hans-Josef?«

»Die meisten nennen mich Hajo.«

»Das gefällt mir schon besser.« Sie schenkte ihm einen neckischen Blick. »Also ist es abgemacht?«

»Aber ich kann doch nicht … einfach so …«

»Mike liebt ausgefallene Gäste.«

Ausgefallen hatte sie ihn genannt! Er? Hajo hatte sich gefragt, ob das ein Kompliment sein sollte oder ob sie sich über ihn lustig machte. Er verbot sich aber, darüber nachzudenken oder gar nachzufragen. Seit er Kari gesehen hatte, seit er mit ihr gesprochen und sie lachen gehört hatte, träumte er von ihr. Und gelegentlich hatte er daran gedacht, sie einzuladen, ins Kino, zum Essen oder zum Tanztee ins Miramar . Aber er hatte sich nie getraut. Sie war die Tochter seines Chefs. Und überdies hatte er gelernt, dass ein Schwarzer aufgrund seiner Hautfarbe leicht eine Abfuhr riskierte. Er war Olaf Rensing dankbar gewesen, dass er ihm diese Chance, als Geschäftsführer seines Hotels zu arbeiten, gegeben hatte, nachdem er sich an unzähligen Orten beworben hatte und abgelehnt worden war, weil ein Hotelmanager mit dunkler Haut nicht akzeptiert wurde. Olaf Rensing war der Erste gewesen, der ihn zum Vorstellungsgespräch eingeladen hatte, also schien er tolerant zu sein und keine Vorurteile zu haben. Aber ob er auch noch so tolerant und vorurteilsfrei war, wenn es um seine Tochter ging? Hajo wollte nichts riskieren und seine Stelle unter gar keinen Umständen aufs Spiel setzen.

Abgesehen davon hatte er das Gefühl, dass er der schönen Kari wohl nicht das Wasser reichen konnte. Mit seiner großen, sehr schlanken Statur wirkte er fast hager, sein Gesicht war schmal und seine Stirn hoch. Die dichten, krausen Haare trug er sehr kurz. Er wusste, dass seine dunklen Augen freundlich blickten, er beim Lächeln ein makelloses Gebiss zeigte und seine Bewegungen auffallend geschmeidig waren. Wenn er in einem seiner perfekt sitzenden dunklen Anzüge durch die Lobby ging, folgte ihm so mancher Blick. Doch ob das genügte, um Kari zu beeindrucken?

Er hatte Zweifel gehabt, ob es wirklich so einfach war, bei Mike Heiser als uneingeladener Gast aufzutauchen, aber tatsächlich war es kein Problem gewesen. Er war von Mike Heiser mit offenen Armen empfangen worden. »Ein Freund von Kari? Herzlich willkommen!«

Als er an Karis Seite eintrat, hatte er den Arm um sie gelegt, und sie hatte ihn nicht abgeschüttelt. Bei dem Anblick, der sich dann bot, hatte er die Luft angehalten und erst mal schlucken müssen. Dieser Luxus! Mike Heisers Haus am Rande von Kampen wirkte, wenn man es von der Straße aus betrachtete, relativ bescheiden. Sobald man mit dem Wagen in den Weg einbog, der zum Haus führte, veränderte sich jedoch der Blick und damit auch der Eindruck. Aber bis zu diesem Punkt kamen nur wenige. Direkt hinter der Einbiegung standen Sicherheitsleute, die niemanden durchließen, der keine Besuchserlaubnis hatte. Mike Heiser war mehrmals von Neugierigen, von liebestollen Frauen und Presseleuten belästigt worden und wollte nun sichergehen, dass niemand zu ihm vordrang, den er nicht darum gebeten hatte.

Es war schon dunkel gewesen, als Kari und Hajo ankamen. Der Eingang der Villa war hell erleuchtet, davor standen zwei Pagen, die die Gäste ins Haus führten und ihnen die Mäntel abnahmen. Die Eingangshalle war beeindruckend. Über einen hellen Marmorboden gingen die Gäste in den Wohnraum, der einige Stufen tiefer lag. Die Seite zum Meer war komplett verglast und bot einen einzigartigen Ausblick auf die Dünen, über den Strand bis zum Wasser. Mike Heiser war es zwar nicht gelungen, aus dem Strand vor seinem Grundstück einen Privatstrand zu machen, so was sahen die Inselstatuten nicht vor, aber seine Security-Leute sorgten rund um die Uhr dafür, dass niemand ausgerechnet dort baden und sich sonnen wollte, wo der berühmte Stardesigner Wert darauf legte, allein und unerkannt zu bleiben.

Die Einrichtung der Villa war schlicht, aber edel. Helle Teppiche auf beigen Fliesen, weiße Sofas, ein weißer Flügel, farbige Akzente gab es gar nicht. Sogar die Gäste, die schon anwesend waren, als Hajo und Kari eintrafen, trugen keine bunte Kleidung. Zufall? Oder wussten diejenigen, die eingeladen waren, dass Mike Heiser, zumindest zurzeit, ausschließlich Ton-sur-Ton -Kleidung auf den Markt brachte? Hajo war froh, dass er sich für eine beige Hose und ein weißes Hemd entschieden hatte und somit nicht weiter auffiel. Er hatte kürzlich in einer Zeitschrift gelesen, dass Mikes aktuelle Mode nicht besonders erfolgreich war. Der Zeitgeist verlangte nach Farbe, bunte Stulpen waren zurzeit modern, neongelbe Stirnbänder, Chucks in Knallrot, Basecaps in allen Farben. Womöglich hatte Mike Heiser diesen Farben ein wenig zu früh den Kampf angesagt, die Zeit schien noch nicht reif zu sein für Ton-in-Ton. Auch Kari, die Hajo schon oft in knallroten Leggings mit gelben und blauen Stulpen gesehen hatte, trug an diesem Abend einen hellen Hosenanzug, dazu ein weißes T-Shirt und weiße Ballerinas.

»Von mir entworfen«, verkündete Mike Heiser stolz und sah sich um, als wollte er feststellen, ob auch andere Damen seine Mode trugen. Selbstverständlich war das der Fall. Vermutlich gingen alle, die bei Mike Heiser eingeladen waren, zuerst in Kampen shoppen, wo in allen teuren Geschäften Mike-Heiser-Modelle angeboten wurden.

Dass Kari eine Reisetasche bei sich hatte, versetzte Hajo in Erstaunen. »Willst du übernachten?«

Sie hatte mit den Schultern gezuckt. »Mal sehen. Mikes Partys gehen oft über mehrere Tage. Ich will auf alles vorbereitet sein. Und wenn es hier gemütlich wird, ist mein Hosenanzug weiß Gott nicht mehr das richtige Kleidungsstück.«

Was Kari unter Gemütlichkeit verstand, begriff Hajo erst später. Als die Lagerfeuer brannten, als Getränke und Snacks zum Strand gebracht worden waren, als die ersten Kleidungsstücke fielen und ein Mann vergessen hatte, dass er einen Anzug trug, als er spontan beschloss, im Meer zu baden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hajo auch bemerkt, dass die Zigaretten, die kreisten, in Wirklichkeit Joints waren. Er lehnte jedes Mal ab, noch nie hatte er Drogen genommen und wollte es auch an diesem Tag nicht tun. Aber er beobachtete, dass Kari immer wieder einen tiefen Zug inhalierte. Augenscheinlich war sie daran gewöhnt. Hajo hätte sie am liebsten davon abgehalten, aber das ging natürlich nicht. Dieses Recht konnte er sich nicht herausnehmen.

Sie kümmerte sich kaum um ihn, schien ihn sogar vergessen zu haben. Hajo bekam mehr und mehr den Eindruck, dass es Zufall gewesen war, von ihr eingeladen worden zu sein. Er war ihr gerade über den Weg gelaufen, und Kari hatte, spontan, wie sie war, die Idee gehabt, ihn mitzunehmen. Es hätte auch jeder andere gewesen sein können. Ein ernüchternder Gedanke.

Als es kalt wurde, blieben nur noch wenige am Strand, die meisten gingen zurück zum Haus. Auch Kari. Hajo beobachtete sie genau, als die Half Brothers auftauchten, diese fünf Schwarzen mit der blonden Frau. Kari schien tatsächlich keine Vorurteile zu haben, es kam Hajo so vor, als übten die Männer große Anziehungskraft auf sie aus. Auch die meisten anderen Gäste scharten sich um die fünf – freundlich, offen, entgegenkommend, wie sie auch ihn, Hajo Keller, freundlich, offen und entgegenkommend begrüßt hatten. Wie es sein würde, wenn er ihnen später, auf der Kurpromenade von Westerland, begegnete, blieb dahingestellt. Und wie man die fünf schwarzen Männer später behandeln würde, wenn ihre Karriere mal zu Ende ging, war ebenfalls eine Frage, die Hajo sich gar nicht beantworten wollte. Bei Kari jedoch war er sich sicher, dass die Hautfarbe für sie keine Rolle spielte. Offenbar hatte ihr Vater durch sein gutes Vorbild dafür gesorgt, dass seine Tochter so tolerant war wie er selbst. Hajo würde nie vergessen, wie prompt seine Bewerbung beantwortet worden war, während er bisher stets lange hatte warten müssen, ehe er eine Absage erhielt – oder überhaupt keine Antwort bekam, nachdem ein potenzieller Arbeitgeber einen Blick auf sein Foto geworfen hatte.

Als eine Frau sich auszog und in Unterwäsche auf einem der Tische tanzte, war Hajo schockiert. Und als er feststellte, dass sich ein Paar in eine Zimmerecke zurückzog und dort alle Anwesenden vergaß, kam er aus dem Staunen nicht heraus. Aus der Party wurde mehr und mehr ein Zusammentreffen von Menschen, die für eine Nacht aus ihrer Haut herauswollten, die einmal anders sein, einmal alles vergessen wollten, die als Mitglieder der Schickeria gekommen waren und nun zeigen wollten, wie unabhängig sie von der Schickeria waren. So kam es Hajo jedenfalls vor.

Gegen drei Uhr nachts wollte er nur noch nach Hause. Um sieben würde er bereits wieder aufstehen müssen, scheinbar war er der Einzige, der am nächsten Tag einer Arbeit nachgehen musste. Außerdem schien er der Einzige zu sein, der nüchtern war und sich nicht in den Drogenrausch hatte ziehen lassen. Er war mit einem Mal ein Außenstehender und sogar ein Außenseiter geworden, als klar wurde, dass er nicht mitmachen wollte. Niemand beachtete ihn mehr, wenn er umherging und sich die Einrichtung des Hauses ansah, niemand wollte mit ihm an der Bar über den Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke in Ost-Berlin diskutieren, wenn er nicht bereit war, sich auf verrückte Argumente einzulassen, die nur vernebelten Hirnen entsprungen sein konnten. »Fünfundzwanzig Westagenten gegen vier Ostagenten!« Es gab einige, denen ein umgekehrtes Verhältnis lieber gewesen wäre.

Auch die Frauen hatten das Interesse an Hajo schnell verloren, als er nicht bereit war, sich knutschend in eine Ecke zu verdrücken oder sich gar in einen Nebenraum ziehen zu lassen, wo schon ein anderes Paar zur Sache ging. Sex quasi in der Öffentlichkeit! Hajo Keller war bestürzt und schockiert.

Die Party lief aus dem Ruder, und das war augenscheinlich so gewollt und geschah wohl jedes Mal so. Hajo fühlte sich immer unwohler und machte sich auf die Suche nach Kari. Er wollte sie bitten, mit ihm heimzufahren. Er fand sie am Pool im Souterrain des Hauses, zusammen mit mehreren jungen Frauen und einigen Männern, die Spaß daran hatten, sich gegenseitig ins Wasser zu schubsen. Einige waren nackt, Kari trug zu Hajos Erleichterung einen knappen gelben Bikini. Warum er erleichtert war? Er musste über diese Frage erst nachdenken und sich zu einer Antwort zwingen, ehe ihm klar wurde, dass er Kari für sich haben wollte. Der Gedanke an ihre Nacktheit erregte ihn zwar, aber die Vorstellung, dass er sie mit anderen hätte teilen müssen, deprimierte ihn. Dies war der Augenblick gewesen, in dem er sich eingestand, dass er Kari nicht nur anregend und attraktiv fand, nicht nur hübsch und intelligent, dass er nicht nur in sie verknallt war, sondern … ja, dass er sie liebte.

Hajo Keller seufzte in der Erinnerung, trat vom Fenster zurück und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er hatte keine Hoffnung mehr, dass sie zu ihm ins Hotel kommen würde, um ihm zu erklären, warum sie ihn allein hatte zurückfahren lassen und wo sie die letzten Nächte verbracht hatte. Ob sich etwas geändert hatte zwischen ihnen. Ob sie auch etwas empfand für ihn oder ob Kari auch diesen Abend mit ihm, die eine Stunde mit ihm allein, auf die leichte Schulter nahm, wie sie das ganze Leben nicht ernst zu nehmen schien.