Juni 1985, Sylt

Mike Heiser stand auf der Terrasse seines Hauses und blickte aufs Meer, das an diesem Morgen so aussah, als stammte es aus Picassos blauer Periode. Weit hinten wie ein Blau kurz vor Mitternacht, davor mit grünem Einfluss und im Auslaufen so hell wie Eiswasser. Es würde ein sonniger Tag werden. Noch war der Himmel verhangen, die Wolkendecke grau, aber sie würde bald aufreißen, das war schon zu sehen und zu spüren. Die Sonne blinzelte bereits durch den Wolkenvorhang, streichelte mit spitzen, kurzen Strahlen, als wollte sie noch nichts von kugelrunder Wärme wissen. Mike zog den Pullover über den Kopf, den er sich, als er auf die Terrasse trat, über die Schultern gelegt hatte. Es würde noch ein, zwei Stunden dauern, bis sich die kalte, klare Luft erwärmte. Er warf den Kopf zurück und strich sich mit der Rechten übers Haar, blond und leicht gewellt, vom besten Haarkünstler der Insel in Form gebracht. Manchmal ließ er sogar einen Friseur aus Hamburg kommen, den angeblich besten Europas, der dann ein paar Tage im Gästetrakt von Mikes Haus Urlaub machen durfte. Aber Mike Heiser gab sich Mühe, seinem Äußeren nicht zu viel Aufmerksamkeit zu widmen, er wollte nicht unmännlich erscheinen. So was passierte schnell. Zwar ließ man einem Mann, der mit Mode sein Geld verdiente, einiges durchgehen, aber er wollte nicht, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde und die Leute sich vielsagende Blicke zuwarfen. Das war schlecht fürs Geschäft und die eigene Persönlichkeit.

Er hörte, dass die Terrassentür aufgeschoben wurde und dann Julians leichte Schritte. Mike lächelte, schloss die Augen und legte den Kopf zurück. Er wusste, dass Julian ihn gleich von hinten umarmen würde und er seinen Kopf an dessen Brust legen konnte. Beide liebten es, den Tag so zu beginnen, mit einem Moment auf der Terrasse, schweigend, mit dem Blick aufs Meer.

Nach einer Weile löste sich Julian von Mike und trat an seine Seite. Er war ein großer, kräftiger Mann, zu dem der Hüftschwung nicht passte, mit dem er sich bewegte. Mike hatte oft versucht, ihn zum kräftigen Ausschreiten, zum breitbeinigen Gehen, zu maskulinen Bewegungen zu bringen. Er hatte Angst, dass Julian Haarbeck seine Homosexualität auf den ersten Blick anzusehen war, dass er bestätigte, was viele dachten: Männer, die sich mit Mode beschäftigen, sind schwul. Mike selbst brauchte das Interesse der Frauen, für die er Mode machte. Seine Bewunderinnen waren ihm wichtig, so lästig sie ihm andererseits auch oft waren. Aber sie bewiesen, dass er ein Mann war, so wie ein Mann in diesen Zeiten zu sein hatte. Er legte Wert darauf, seine Position mitten in der Gesellschaft zu behaupten, nicht am Rande, dort, wo Homosexuelle nach wie vor landeten.

Missbilligend betrachtete er Julians gezupfte Augenbrauen und seine getuschten Wimpern, verkniff sich aber eine Bemerkung. »Sind die Putzfrauen mit der Arbeit fertig?«

Julian nickte. »Das war wieder eine tolle Party. Dass die Half Brothers glaubten, sie wären zu einem Hauskonzert gebeten worden – zum Totlachen!« Wie er die erste Silbe betonte! Julian begriff einfach nicht, dass ihn solche Nuancen schon verrieten, da machte es kaum noch einen Unterschied, dass er auf die wegwerfende Handbewegung nah am Körper verzichtete, die in der Gesellschaft zum Symbol des stereotypen Schwulen geworden war. »Hoffentlich schicken sie keine Rechnung.«

»Und wenn, dann bezahlst du sie.«

»Okay.« Ein winziges Lächeln lag auf Julians Gesicht, während seine Blicke über die Dünen, den Strand, den Ufersaum wanderten, als suchte er etwas. Aber Mike kannte den Grund für Julians Staunen, das ihn Morgen für Morgen erneut überkam: Er war glücklich, hier leben zu dürfen. Mike war immer wieder gerührt, wenn er das bemerkte.

»Der Schneider wird morgen Vormittag kommen«, sagte Julian. »Gegen elf.«

»Versuch, den Termin auf den Nachmittag zu verlegen. Ich werde morgen nach dem Frühstücken zu Karis Eltern fahren.«

Julian schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen. »Ihr wollt das also wirklich durchziehen?«

»Kari hat es mir angeboten.«

»Erstaunlich.«

»Wir sind befreundet.«

»Trotzdem.«

Mike runzelte die Stirn. »Ich bin das Getuschel leid. Danach wird Schluss sein mit den hässlichen Mutmaßungen.«

»Es geht also um die Fernsehshow«, stellte Julian fest.

»Ja, natürlich … das auch.« Mike Heiser, der immer gern behauptete, Berühmtheit und Publicity seien ihm nicht so wichtig, er wolle nur mit Stoffen und Schnittmustern arbeiten, dann sei er glücklich … dieser Mike Heiser fand nun das Angebot, das ihm die ARD gemacht hatte, so attraktiv, dass er nicht widerstehen konnte. Die Sendung sollte eine Art Modenschau werden, aber die Zuschauer vor den Bildschirmen würden mit dabei sein dürfen, wenn Mike die erste Idee für ein Kleidungsstück hatte, wenn er sich Gedanken über den Stoff machte, wenn er zum Einkaufen fuhr, um das richtige Material zu finden, wenn er selber nähte, an wunderschönen Mannequins seine Modelle ausprobierte. Für eine solche Sendung ist kein anderer besser als der berühmteste Mode-Designer Deutschlands: Mike Heiser. Allerdings … die Gerüchte, die sich um ihn rankten, gefielen dem Sender nicht.

Der Programmchef hatte es ihm klipp und klar gesagt: »Bei uns wird kein 175er beschäftigt, wir würden uns ja strafbar machen.«

»Dieser Idiot«, murmelte Julian. »Strafbar sind nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter achtzehn Jahren.«

»Darauf kommt es nicht an«, gab Mike zurück. »Die ARD weiß, dass der größte Teil seiner Zuschauer keine Homos auf dem Bildschirm sehen will. Das ist nun mal so. Und diejenigen, die mit ihren Gebühren dafür sorgen, dass die Sender ihre Programme produzieren können, haben das Sagen. Über die kann man sich nicht einfach hinwegsetzen. Ich verstehe das sogar.«

Julian Haarbeck seufzte tief auf. »Und deswegen …«

Mike ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Ja, deswegen! Ich bin sehr dankbar, dass sie mir dieses Angebot gemacht hat.«

»So wichtig ist dir diese Fernsehshow?«

Mike wollte nicht gern bejahen, aber er nickte dann doch. »Das ist eine Riesenchance. Alle Mike-Heiser-Modelle können wir in Zukunft glatt fünfzig Prozent teurer verkaufen.«

Mike löste sich von Julian, machte einen Schritt vor, bis zum Rand der Terrasse und schirmte die Augen mit der Hand ab, während er aufs Meer sah, als suchte er ein Schiff am Horizont, das ihm Seide aus China bringen würde. »Kari besteht darauf, dass alles formvollendet vonstattengeht. Ihre Eltern dürfen den wahren Grund nicht kennen. Sie sind zwar ganz nett, sagt sie, aber schreckliche Spießer.«

»Dann wird Kari bald hier einziehen?«

»Ich glaube, das ist für sie der Hauptgrund, mir diesen Gefallen zu tun. Sie will von zu Hause weg. Dort ist ständig die Rede davon, dass sie das Café weiterführen soll oder die Stiftung auf dem Festland oder die Hotels … Das ist nichts für Kari.«

»Sie wird dann auf deine Kosten leben.«

»Natürlich. Das ist ja ganz normal.«

Julian sah nicht so aus, als gefiele ihm dieser Gedanke. »Was ist mit dem Mann, der sie zur Party begleitet hat? Ist das ihr Freund?«

»Nein, nur irgendein Bekannter, ein belangloser Flirt.«

»Ich habe gesehen, dass sie mit ihm zusammen am Pool war. Und dann waren plötzlich beide verschwunden.«

Mike zuckte mit den Schultern. »Wir werden natürlich in aller Ausführlichkeit besprechen müssen, wie das in Zukunft aussehen wird.« Er drehte sich um und ging ins Haus zurück. »Vielleicht müssen wir sogar einen Vertrag abschließen. Ich könnte mal mit dem Anwalt darüber reden.«