Juni 1985, Sylt

Robert Königs Tochter hatte schon bald nach dem Tod ihres Mannes ihren Mädchennamen wieder angenommen. Sie war ja nur ganz kurz die Frau von Arne Augustin gewesen. Bereits ein paar Wochen nach der standesamtlichen Heirat war Lindas Mann bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen, noch vor der kirchlichen Trauung, vor dem großen Hochzeitsfest. Ihr Brautkleid hatte sie, als sie aus der Wohnung über dem Café König Augustin ausgezogen war, in einen Secondhandshop gebracht. Unbenutztes Brautkleid zu verkaufen! Für eine junge Frau, die wenig Geld hatte, ein echtes Schnäppchen!

Linda hatte auch nicht lange gewartet, bis sie zu ihrem Liebhaber gezogen war, nicht lange genug, wie ihr Vater fand. Bei diesem Tempo konnte den Leuten ja der Verdacht kommen, dass Lindas Beziehung zu dem Maler schon länger bestanden hatte! Robert König hatten sich die Nackenhaare aufgestellt, wenn er sich das vorstellte. Und als ihm klar wurde, dass die Leute, wenn sie diesen Verdacht hegten, genau richtiglagen, war er wochenlang täglich zum Friedhof gegangen, um seinen verstorbenen Freund Knut Augustin zu bitten, es Linda nachzusehen, dass sie seinen Sohn schon vor der Ehe betrogen hatte. Das Einzige, was es Robert König leichter machte, war, dass er wusste, wie gering Knuts moralische Ansprüche waren, wenn es um eine Liebe ging, die eigentlich nicht sein durfte.

Robert hatte Linda gebeten, mit ihm einen Spaziergang am Meer zu machen. Er wollte ungestört sein, wollte in aller Ruhe mit ihr reden. Es wurde Zeit. Robert ging nun auf die achtzig zu, und Linda war Mitte vierzig, also alt genug, um endlich Verantwortung zu übernehmen. Dass sie noch einmal heiraten würde, darauf hoffte Robert nicht mehr. Und einen Maler als Schwiegersohn wollte er sowieso nicht. Robert war Geschäftsmann durch und durch, er brauchte einen Schwiegersohn, der nicht nur seine Tochter liebte, sondern auch seine Cafés, in Hamburg und Bremen und das König Augustin in Westerland, bei dem er Teilhaber war. Einen wie Arne Augustin, den Sohn seines besten Freundes. In den vielen Jahren, die nach dessen Tod vergangen waren, hatte Robert König vergessen, wie unglücklich Arne auf Sylt gewesen war und wie ungern er sich ums König Augustin gekümmert hatte.

Robert stand an der Wasserkante unterhalb des Strandübergangs Brandenburger Platz und hielt nach Linda Ausschau. Als sie auf der Kurpromenade erschien, ging ein Lächeln über sein Gesicht, ohne dass er es merkte. Seine wunderschöne Tochter! Wie er es geschafft hatte, ein derart bezauberndes Wesen in die Welt zu setzen, war ihm nach wie vor schleierhaft. Er war doch der kleine unscheinbare Mann, der am liebsten in uralten Anzügen herumlief und von niemandem einen zweiten Blick erhielt, erst recht nicht von Frauen. Lindas Mutter war zwar bildhübsch gewesen, jedoch auf ganz andere Weise als Linda. Zart und zerbrechlich, während Linda unverwüstlich schien. Sibylle war sanft und aufopfernd gewesen, während die Tochter egoistisch und immer auf ihr Wohl bedacht war. Da machte Robert sich nichts vor. Wenn er sein Kind auch von ganzem Herzen liebte, Lindas negative Charaktereigenschaften übersah er trotzdem nicht. Und schon oft hatte er gedacht, dass Linda vor allem deshalb psychisch so zäh und ausdauernd war, weil sie Trauer und Verlust nicht nah an sich heranließ. Aus Arnes Tod hatte sie sehr schnell einen Neuanfang gemacht, als wäre ihr geholfen worden, einen Fehler auszumerzen. Und als Knut Augustin starb, den Linda sehr geliebt hatte, war sie doch vor allem froh gewesen, dass sich ein Nachfolger für die Geschäfte fand, der dafür sorgte, dass alles so weiterging wie bisher. Knut Augustins unehelicher Sohn Olaf Rensing!

Linda hatte ihren Vater nun entdeckt und stieg die hölzerne Treppe von der Kurpromenade herab. An ihrem Fuß blieb sie stehen und machte ein ärgerliches Gesicht. Sie schien die Strecke, die sie überwinden musste, kritisch zu betrachten. Robert konnte die Gedanken seiner Tochter förmlich sehen: Trockener tiefer Sand, und das bei ihren hochhackigen Sandaletten! Sie rief etwas, das wie eine Aufforderung klang, aber Robert verstand sie nicht und gab sich auch keine Mühe, sie zu verstehen. Vermutlich wollte sie, dass er zu ihr kam und sie sich einen anderen Ort für ein Gespräch suchten, zum Beispiel das Miramar . Aber Robert wandte sich ab, machte ein paar Schritte, schaute auf seine Füße und riskierte keinen Blickkontakt mit seiner Tochter mehr.

Erst als sie ihn fast erreicht hatte, sah er auf. Er lächelte. »Linda, mein Schatz! Lass uns ein paar Schritte gehen.«

Sie wurden von ein paar Strandwanderern neugierig betrachtet, der kleine alte Mann in dem unkleidsamen Cordanzug und die auffallend schöne Frau, die ihn ein gutes Stück überragte. Sie trug einen kunterbunten Rock, dazu ein sehr offenherziges T-Shirt und war mit unzähligen Ketten behängt, die bei jeder ihrer Bewegungen klirrten. Früher war Linda König eine elegante Erscheinung gewesen. Als Lebensgefährtin eines Kunstmalers hatte sie ihren Stil allerdings geändert. Sie legte nun Wert darauf, unkonventionell und andersartig zu erscheinen und der Welt zu zeigen, dass sie nicht bereit war, sich irgendwelchen Normen zu beugen. Wie ein Hippie, der nicht mitbekommen hatte, dass die Flower-Power-Zeit vorbei war.

»Was gibt’s denn so Wichtiges?« Linda hielt nicht viel von körperlicher Bewegung, nach einem Strandspaziergang musste sie sich stundenlang ausruhen und redete sogar von Sport, wenn sie länger als eine Stunde zu Fuß unterwegs gewesen war. Gleichzeitig stöhnte sie über die Anzeichen des Alters, über schlaffe Muskeln, hängende Brüste, einen vorgewölbten Bauch und Rückenschmerzen, ließ sich aber nicht sagen, dass sich vieles durch Sport korrigieren ließ. Als ihr Liebhaber Christian Reineit ihr einmal vorgehalten hatte, dass seine alte Mutter jünger und beweglicher sei als Linda, hatte Robert seine Tochter mehrere Tage bei sich beherbergen müssen, weil sie sich weigerte, zu einem Grobian wie Chris zurückzukehren. Aber ihr Vater hatte das Zusammenleben nicht lange ausgehalten. Nachdem er mehrere Abende bei Brit und Olaf verbracht hatte, weil er Lindas Gezeter nicht mehr ertragen konnte, und schließlich schon zum Frühstücken ins König Augustin gegangen war, um aus dem Haus zu sein, wenn Linda aufwachte, war er zu Chris Reineit gegangen, um von Mann zu Mann mit ihm zu sprechen. Er sei schon lange genug mit seiner Tochter zusammen und müsse sich nun entscheiden, ob er sich von ihr trennen oder die Versöhnung wolle.

Chris Reineit hatte ihm erklärt, dass er Linda zwar liebe, aber sich nicht von ihr tyrannisieren lassen wolle. Eine Antwort, die Robert König imponiert hatte. Vielleicht hätte er selbst auch schon vor Jahren diesen Vorsatz fassen sollen. Dann aber hatte der Maler Mitleid mit dem leidgeprüften Vater bekommen und versprochen, sich bei Linda zu melden. Allerdings war er nicht bereit, sich bei ihr zu entschuldigen. Sollte sie darauf bestehen, müsse er, der Vater, leider noch eine Weile mit seiner Tochter das Badezimmer teilen, vielleicht sogar für den Rest seines Lebens. Aber Roberts Sorgen hatten sich als unnötig erwiesen. Linda war glücklich, als Chris Reineit bei ihr erschien, war ihm um den Hals gefallen und hatte so getan, als habe er sich entschuldigt, damit sie ihm großmütig verzeihen konnte. Und Chris hatte sie ebenso glücklich angelächelt und das Spiel mitgespielt. Lindas Koffer war schnell gepackt, und Robert hatte vom Fenster aus zugesehen, wie die beiden in Christians Auto stiegen und davonbrausten. In diesem Augenblick hatte er beschlossen, nicht wieder in seine Hamburger Wohnung zu ziehen, sondern auf Sylt zu bleiben. In Hamburg wäre er allein, hier auf Sylt hatte er nicht nur Brit und Olaf, sondern es gab auch einen Mann, der seine Tochter liebte und ihrem Vater vielleicht eine Stütze sein konnte, wenn er sie brauchte.

Robert zog nun seine Schuhe aus und ging in der auslaufenden Brandung neben Linda her, ließ das Wasser eiskalt über seine Füße schwappen, während Linda bei jeder Annäherung einer Welle mit einem kleinen Kreischen zur Seite sprang.

»Kind, ich werde langsam alt«, begann Robert.

»Du doch nicht!« Eine solche Antwort hatte er erwartet. Linda sah Schwierigkeiten auf sich zukommen und versuchte, sie von sich fernzuhalten.

Aber Robert winkte nur ungeduldig ab. Diesmal wollte er seine Sorgen nicht bagatellisieren lassen. »Ich will mich aus dem Geschäft zurückziehen. Die Wohnung in Hamburg werde ich vermieten und hier auf Sylt bleiben. Aber ich brauche natürlich jemanden, der sich um die beiden Cafés in Hamburg und Bremen kümmert …«

Linda unterbrach ihn. »Ich etwa?«

»Du bist mein einziges Kind. Meine Nachfolgerin.«

»Nein, Papa! Das ist nichts für mich, das weißt du doch.«

Robert hatte es sich gedacht. »Dann mache ich dir folgenden Vorschlag: Wir fragen Olaf, ob er bereit ist, an deine Stelle zu treten. Ich überschreibe ihm die Cafés und auch meinen Anteil am König Augustin , sowohl am Café als auch am Hotel. Und er wird dir eine Rente dafür zahlen, mit der du gut über die Runden kommst.«

»Prima!«, gab Linda ohne großes Interesse zurück. »Olaf ist ja ein Arbeitstier, der macht das bestimmt gern.«

Das glaubte Robert König auch. »Aber überleg dir erst, ob du wirklich alles aus der Hand geben willst. Es gehört dir dann nichts mehr. Die Cafés in Hamburg und Bremen nicht und auch nicht mehr die Hälfte des König Augustin in Westerland.«

Linda blieb gleichgültig. »Ich will das alles nicht. Nur so viel Geld, dass ich gut leben kann.« Vorsichtshalber fügte sie an: »Sehr gut.«

»Alles wäre leichter, wenn Arne nach seinem Vater gestorben wäre.« Bitter fügte Robert an: »Wie es eigentlich sein sollte. Es ist nicht richtig, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben.«

»Das ist manchmal nicht zu ändern«, gab Linda zurück. »Arne ist tot, mausetot, ob uns das gefällt oder nicht.«

»Wäre Knut vor ihm gestorben, hätte Arne alles geerbt, und du wärst als seine Ehefrau natürlich wiederum seine Erbin gewesen. Dann würde dir heute alles gehören, was Knut jemals besessen hat. Der uneheliche Sohn hätte nichts bekommen. Vermutlich hätte Olaf heute keine Ahnung, dass er der Sohn von Knut Augustin ist, wenn Arne am Leben geblieben wäre.«

Darauf antwortete Linda nicht. Das brauchte sie auch nicht, Robert wusste ja, dass sie seine Gedanken kannte. Sie wusste, wie sehr er Olaf Rensing schätzte, wenn er es auch nach wie vor bedauerte, dass sein Schwiegersohn Arne nicht der Nachfolger seines besten Freundes geworden war. Aber Olaf war ein würdiger Nachfolger für seinen Vater. Arne hatte nie so viel Mumm wie Olaf besessen und nie so viel Freude an der Arbeit gehabt. Das war Linda genauso klar wie Robert selbst.

»Die Wohnung in Wenningstedt habe ich mittlerweile gekauft«, sagte Robert.

»Tatsächlich?« Linda war überrascht. »Davon habe ich nichts mitbekommen.«

Natürlich nicht, dachte Robert, sie hört mir ja nie zu. »Die wirst du natürlich erben, wenn ich mal …« Er sprach nicht gern über seinen eigenen Tod. »Und wenn du dich von deinem … diesem Maler trennen solltest, wirst du wenigstens immer ein Dach über dem Kopf haben.«

»Sehr beruhigend.« Linda kicherte, als könnten solche Aussagen nur ein Scherz sein. Sie hatte immer aus dem Vollen geschöpft, von der Hand in den Mund gelebt und sich nie Gedanken darüber gemacht, wie das Geld, das sie ausgab, ins Haus kam. »Ich will ein schönes Leben haben, Papa, und nicht so viel arbeiten wie du und Onkel Knut. Das ist nichts für mich.«

»Die Immobilienpreise auf Sylt steigen, die Wohnung ist in ein paar Jahren vielleicht das Doppelte wert.« Robert blieb stehen, betrachtete sein Töchterchen und seufzte dann. »Na schön. Ich werde mit Olaf reden.«

»Und die Rente, die er mir zahlen muss? Wie hoch wird die sein?«

»Wir müssen mit ihm verhandeln«, antwortete Robert ausweichend.

»Okay.« Linda machte auf dem Absatz kehrt, das Gespräch war für sie damit beendet.