Juni 1985, Hamburg

Das Carar in Hamburgs Innenstadt bot nicht viel Platz. Von einer belebten Straße trat man in einen düsteren, schmalen Raum, dessen linke Wand von der Theke eingenommen wurde. Wer sich davor auf einen Hocker setzte, durfte ihn nicht zu weit zurückschieben, sonst wären nachfolgende Gäste nicht in den hinteren Teil des Lokals gelangt. Das beherzigten nicht alle, sodass es im Eingangsbereich immer viel Gedränge gab und mancher meinte, das Carar sei bereits überfüllt und kein Platz mehr frei. Wer sich jedoch durchgedrängt hatte, durfte feststellen, dass sich der Raum später erweiterte, wenn die Theke zu Ende und der Zugang zur Küche passiert worden war. Dort gab es ein Dutzend kleiner runder Tische, oftmals zu klein, um vier Teller und vier Gläser unterzubringen, obwohl je vier Stühle an jedem Tisch standen. Trotz dieser Unzulänglichkeiten war das Carar sehr beliebt, vielleicht sogar gerade deswegen. Wo es schwierig war, einen Platz zu bekommen, wollte jeder einen haben. Dabei wussten die meisten nicht einmal von den hinteren Räumen, die geschlossenen Gesellschaften vorbehalten waren. Oder prominenten Zeitgenossen, die in Ruhe trinken und essen wollten, ohne beobachtet zu werden, ohne Autogrammwünsche zu erfüllen oder Fotografen von ihrem Tisch zu verscheuchen. Diese Räume hatten das Carar zu einem In-Treff gemacht. Wer schon mal in einem der Hinterzimmer gefeiert hatte, gehörte zur Prominenz und bezeichnete die Inhaber Florian Aldenhof und seinen Freund Carsten Tovar gern als gute Bekannte. Anfänglich hatten die beiden selbst an der Theke beziehungsweise in der Küche gestanden, aber sie konnten sich längst gutes Personal leisten und beschränkten sich nun darauf, mit den Gästen zu plaudern und dafür zu sorgen, dass sie alles hatten, was sie brauchten. Wenn Florian Aldenhof gefragt wurde, wie lange sie schon befreundet seien und wo sie sich kennengelernt hatten, dann war von über zwanzig Jahren die Rede und von Sylt, wo sie beide im Miramar gearbeitet hatten. Viele hielten sie für schwul, das wusste Florian genauso gut wie Carsten, weil sie gemeinsam in einer Wohnung über dem Lokal lebten, aber diejenigen irrten sich. Die Wohngemeinschaft hatte lediglich praktische Gründe. Sie wollten beide in der Nähe des Lokals wohnen und hatten noch keine zweite Bleibe gefunden, in die einer von ihnen hätte umziehen mögen.

In einem der drei Hinterzimmer feierte an diesem Tag ein Kommunalpolitiker seinen Geburtstag, eine von mehreren Geburtstagsfeiern. Die erste Feier hatte er mit seiner Familie begangen, eine weitere mit seinen Geschäftspartnern – und eine weitere mit Parteifreunden. Diese Party fand nun unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit statt. Der Politiker feierte mit seiner Geliebten, von der seine Familie nichts ahnte, und hatte gute alte Freunde eingeladen, die wiederum Damen mitgebracht hatten, von denen ihre Frauen nichts wussten. Im Carar war so etwa möglich. Der Politiker konnte sicher sein, dass die beiden Besitzer kein Sterbenswörtchen davon verlauten lassen würden. Sie sorgten auch dafür, dass das Geburtstagskind und seine Gäste ungesehen ins Hinterzimmer hinein- und wieder herauskamen. Die beiden anderen Gesellschaftszimmer waren an diesem Abend frei. In einem ließen sich die beiden Besitzer nieder und bestellten beim Koch ein leichtes Abendessen. Beide waren sie noch nicht dazu gekommen, etwas zu sich zu nehmen.

Carsten Tovar streckte sein linkes Bein von sich und rieb es.

Florian Aldenhof betrachtete ihn mitfühlend. »Schmerzen?«

Carsten zuckte mit den Schultern. »Das Übliche. Aber ich will mich nicht beklagen. Immerhin komme ich ohne Gehstock aus. Das schien direkt nach dem Schiffsunglück ausgeschlossen zu sein.«

Zusammen waren sie auf der Reise nach Amrum in Seenot geraten und hatten zu den wenigen gehört, die überlebten. Aber davon wusste niemand. Nur Carsten erklärte sein gelegentliches Humpeln damit, dass er vor etwa zwanzig Jahren nach dem Kentern eines Schiffs schwer verletzt an Land gespült worden war, Florian Aldenhof behauptete, wenn die Rede darauf kam, er wäre nicht dabei gewesen. Er war auch dagegen gewesen, dem Lokal den Namen Carar zu geben. Er fürchtete, das Schicksal herauszufordern, wenn zu den ersten drei Buchstaben von Tovars Vornamen die zwei hinzugefügt wurden, die verräterisch sein konnten. Aber Carsten hatte dieser Name gefallen, und so hatte Florian nachgegeben. Ein Fantasiename, das erklärte er allen, die nachfragten. Zufällig entsprachen die ersten drei Buchstaben denen seines Vornamens, die anderen beiden waren wegen des Wohlklangs angefügt worden. Florian erzählte häufig davon, dass sie sich während eines Urlaubs in Carrara entschlossen, für die Toilettenanlage ihres Restaurants Carrara-Marmor zu beziehen. So waren sie angeblich auf diesen Namen gekommen. Nicht besonders überzeugend, fand Florian Aldenhof. Aber zu seiner Überraschung zweifelte niemand an dieser seltsamen Geschichte.

Der Koch servierte einen Salat Niçoise und ließ sie schnell wieder allein. Während Carsten das Weißbrot auseinanderbrach, sagte er: »Du hättest die Einladung von Mike Heiser auch annehmen sollen. Die Half Brothers waren auch da. Die hörst du so gern.« Er nahm eine Gabel Salat, ehe er ergänzte: »Und sie – sie war auch da.«

»Brit?«

»Nein, Kari.«

Florian verging der Appetit, er schob seinen Teller zur Seite. »Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, einen Abend mit ihr zu verbringen.«

»Sie kennt dich nicht. Aber du weißt, wie sie aussieht. Du hättest ein Gespräch mit ihr beginnen können …«

»Und danach? Wie hätte ich damit fertigwerden sollen, dass ich weiß, wie sie redet, wie sie lacht, welche Meinungen sie vertritt, wie das Verhältnis zu ihren Eltern ist, vor allem zu ihrem Vater … Nein, Carsten. Besser nicht.«

»Aber du leidest darunter, dass du keinen Kontakt zu ihr haben kannst.«

»Wenn ich leide, dann habe ich es verdient. Kari Rensing kann nichts dafür, dass es so gekommen ist.«

»Du hast dir immer noch nicht verziehen, dass du weggelaufen bist?«

»Nicht nur einmal, Carsten. Ich bin vor Linda weggelaufen, vor ihrem Vater und meinem Vater, vor dem König Augustin , vor den ganzen Erwartungen. Aber dann bin ich auch vor Brit davongelaufen – und das werde ich mir nie verzeihen.«

»Tja, Arne Augustin, was passiert ist, ist passiert.«

Sein Freund sah sich um, als könnte sie jemand belauscht haben. »Lass das, Carsten. Nenn mich nicht so. Ich heiße Florian Aldenhof. Ich bin froh, dass ich mich endlich an diesen Namen gewöhnt habe. Ich will nicht mehr so heißen wie mein Vater, das weißt du doch. Er hat mir meine Liebe genommen …«