Juni 1985, Sylt
Olaf ging zum Schrank , öffnete das Barfach und holte eine Flasche Whisky heraus. »Ich brauche jetzt etwas zur Stärkung«, sagte er und goss sich ein. »Du auch?«
Brit schüttelte den Kopf. »Nicht so früh am Tag.«
Es war jetzt zwölf, Mike Heiser war pünktlich um elf erschienen, wie Kari es angekündigt hatte. Und er war nicht länger geblieben als unbedingt nötig.
Brit sah, dass sich Olaf an die Brust griff und das Gesicht verzog. »Ist was?«
»Nein! Aber …« Olaf nahm einen kräftigen Schluck. »Das muss man erst mal verdauen.«
»Sie wird es jetzt erfahren müssen«, flüsterte Brit. »Wir dürfen es nicht länger hinauszögern.«
Am Morgen hatte sie ratlos vor ihrem Kleiderschrank gestanden. »Was soll ich bloß anziehen?«
Olaf hatte ungehalten reagiert. »Willst du dich dafür entschuldigen, dass du kein Mike-Heiser-Modell im Schrank hast?« Er selbst sah einen Augenblick lang so aus, als wollte er aus Protest seine älteste Jeans und einen ausgeleierten Pullover anziehen. »Hätte uns Kari auf diesen Besuch vorbereitet, wäre ich natürlich mit dir nach Kampen gefahren. Dort soll es in jeder Boutique Heiser-Mode geben.«
Brit griff nach einem dunklen Kostüm. »Wenn ich bloß wüsste, was er von uns will.«
Olaf riss wütend irgendeinen Anzug aus dem Schrank. »Sie sagt uns, es hat etwas mit ihr zu tun, und dann verschwindet sie wieder und lässt uns raten, was passieren wird. Will er sie einstellen? Als Mannequin? Oder als Nachwuchsdesignerin? Aber nein! Wir bleiben im Dunkeln stehen. Unser Fräulein Tochter schleicht sich fort, und niemand weiß, wohin.«
»Sie muss wohl ihren Rausch ausschlafen.« Brit hängte das dunkle Kostüm wieder zurück und entschied sich für einen karierten Rock und ein rotes Twinset. Zweifelnd stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich. Alt kam sie sich vor, viel älter, als sie war. Zwar war ihr rundes Gesicht noch faltenfrei, und ihre Figur war, wenn auch etwas fülliger geworden, so doch immer noch die einer jungen Frau. Aber dieser karierte Rock machte sie dick. Jedenfalls kam sie sich mit einem Mal in jeder Hinsicht unzulänglich vor. Nur weil Mike Heiser schon mal Barbara Streisand zu einer Anprobe empfangen hatte?
Arne hatte das Runde an ihr geliebt. Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, zog sie den karierten Rock wieder aus. So was konnte sie auch in zwanzig Jahren noch tragen. Wenn sie im Café von Tisch zu Tisch ging, um die Stammgäste zu begrüßen, legte sie Wert darauf, einen soliden Eindruck zu machen und dezent gekleidet zu sein. Aber nun sollte sie einen Mode-Designer empfangen, von dem sie nicht wusste, was er von ihr wollte. Da konnte sie ruhig etwas weniger seriös aussehen.
Sie griff nach einem Blazer mit breiten Schulterpolstern, den sie noch nie getragen hatte, und krempelte die Ärmel hoch, wie es neuerdings Mode war. Eine schmale schwarze Hose passte dazu, nun fühlte sie sich wohl und würde Mike Heiser selbstbewusst gegenübertreten können. Als sie jedoch die Tür öffnete und kurz darauf mit einem Arm voller Rosen dastand, war es mit ihrem Selbstbewusstsein schon wieder vorbei. Rosen für Karis Mutter? Und ein kleines Schmuckkästchen für Kari selbst? Brit wollte nicht verstehen, was das bedeutete, obwohl es eigentlich nur eine einzige Erklärung dafür geben konnte.
»So viele?«, stammelte sie.
»Es können gar nicht genug sein«, antwortete Mike Heiser, »dafür, dass Sie dieses wunderbare Wesen in die Welt gesetzt haben.« Er griff nach Kari und zog sie an seine Seite. Und Kari, zur Feier des Tages in dezentes Beige gehüllt, lächelte engelsgleich. Wie eine Posse im Bauerntheater, so kam es Brit vor.
Sie wusste nicht, ob ihr Mike Heiser gefiel. Bisher hatte sie ihn nie persönlich kennengelernt, hatte nur Fotos von ihm in der Klatschpresse gesehen und über seine Erfolge gelesen. Mike-Heiser-Mode wurde von den großen Stars getragen, sogar von Mitgliedern des englischen Königshauses, auf seinen Modeschauen traf sich alles, was Rang und Namen hatte. Die Partys, die er in seiner Kampener Villa feierte, waren legendär, so hieß es. Wie Kari in den Genuss seiner Einladungen gekommen war, hatte Brit sich bisher nicht erklären können. Kari selbst behauptete, sie habe ihn am Strand kennengelernt, sei mit ihm ins Gespräch gekommen und wäre von seinem Charme sehr angetan gewesen. Seine Gastfreundschaft, seine Großzügigkeit, das alles hatte ihr imponiert und so gut gefallen, dass sie die Einladungen immer wieder angenommen hatte und immer länger weggeblieben war …
Natürlich waren Mike Heisers vollendete Manieren sehr einnehmend, das fand auch Brit, seine gepflegte Erscheinung, die Komplimente, die er für Mutter und Tochter parat hatte, die Anerkennung für Olaf, der das König Augustin , sowohl das Café als auch das Hotel, zu inselbekannten Häusern gemacht hatte, das alles war entgegenkommend, zielte aber natürlich ganz klar darauf ab zu gefallen. Wie der echte Mike Heiser war, ob er sich hinter der Fassade des Verehrers versteckte oder ob er wirklich der aufrichtige, höfliche und wohlerzogene Mann war, als den er sich jetzt zeigte, war Brit unklar. Und Olaf, der nur verstand, was er auf den ersten Blick glauben konnte, sowieso. Brit ahnte, dass ihr Mann längst wusste, ob er Mike Heiser mochte. Nein, er gefiel ihm vermutlich nicht, er war ihm nicht authentisch genug, nicht geradlinig, nicht offen und ehrlich genug.
Aber als er formvollendet um Karis Hand anhielt, überkam Olaf doch so etwas wie Rührung, ein durch und durch positives Gefühl. Und als Mike vor Kari einen Kniefall machte und ihr den Verlobungsring ansteckte, standen Olafs Augen voller Tränen, während Brit sich seltsam unbeteiligt vorkam. Ihr schien es, als wohnte sie einer Förmlichkeit bei, die sie eigentlich nichts anging, als wäre sie nur zufällig anwesend.
Mike Heiser machte Anstalten, sich zügig zu verabschieden, nachdem er erledigt hatte, was wohl seiner Meinung nach erledigt werden musste, nachdem er zweimal ein Ja zu hören bekommen hatte, und war nur mit Mühe davon zu überzeugen, dass ein solches Ereignis ein Glas Champagner erforderlich machte. Olaf ließ den Korken knallen, Brit holte die besten Gläser aus dem Schrank, sie stießen an, lachten, prosteten sich zu und versicherten sich gegenseitig, dass alles ganz wunderbar und diese herrliche Überraschung absolut gelungen sei. Doch als Brit eine angemessene Weile gerührt gewesen war, als sie ihren zukünftigen Schwiegersohn umarmt und lange genug Karis Verlobungsring bewundert hatte, war ihr noch immer nicht klar gewesen, ob sie Mike Heiser eigentlich mochte.
Jetzt sah sie Olaf, der sich erneut einen großzügigen Schluck Whisky einschenkte, flehentlich an. »Kari muss es jetzt erfahren«, wiederholte sie. »Es wird Zeit.«
Olaf wusste sofort, wovon sie sprach. »Das hätte ich gerne etwas gründlicher vorbereitet. Jetzt, von einem Tag auf den anderen, so plötzlich …« Er trank das Whiskyglas in einem Zuge leer und stellte es klirrend zurück. »Wieso haben wir nichts gemerkt? Warum hat Kari nie etwas angedeutet? Was wissen wir eigentlich über sie? Wir machen uns Sorgen, dass sie sich von einem reichen Typen zu Drogen und freizügigen Partys verführen lässt, und in Wirklichkeit ist sie in ihn verliebt und denkt ans Heiraten. Und das kriegen wir nicht mit?«
Brit fand keine Antwort. Sie war ja genauso fassungslos wie ihr Mann. Sie blickte sich um, als wollte sie kontrollieren, ob ihre Welt noch heil war oder ob die Möbel wackelten, die Tapeten von den Wänden fielen und die Teppiche noch auf dem Boden lagen. »Sie redet ja schon lange nicht mehr mit uns«, sagte sie leise. »Sie lebt nur noch bei uns, weil ihr hier der Lebensunterhalt bezahlt wird und sie sich um nichts zu kümmern braucht.«
Olafs Stimme klang bitter. »Das wird ja jetzt ein anderer übernehmen.«