Juni 1985, Sylt

Kari erwachte früh , viel früher als sonst. Sie streckte sich, dann kuschelte sie sich wieder in ihre Bettdecke. Nicht schlecht, mal wie normale Leute noch vor Mitternacht zu Bett zu gehen, und das sogar, ohne vorher Drogen genommen oder jede Menge Alkohol getrunken zu haben. Sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr direkt nach dem Aufwachen. Es wurde Zeit, dass sie ihr Leben veränderte. Sie war jetzt mit einem bekannten Mann verlobt, würde bald Frau Heiser heißen, würde von der Presse beobachtet werden, da konnte sie nicht noch einmal in den Morgenstunden nach Haus getorkelt kommen oder am Strand einschlafen, ohne zu wissen, wann sie zu Hause weggegangen war.

Sie hörte Geräusche aus der elterlichen Wohnung, Stimmen vor dem Haus, einen Lieferwagen, der vorbeituckerte, Möwengeschrei und das Rauschen der Brandung. Allerlei Vertrautes, das zum ersten Mal seit Langem ihre ständige Sehnsucht zum Verstummen brachte. Ihr Zuhause! Jetzt, wo sie wusste, dass sie ihn bald verlassen würde, kam ihr der Raum größer vor, die Wände waren heller, der Kaffeeduft, der hereindrang, war nicht mehr penetrant, sondern anregend. Sie öffnete die Augen, richtete sich auf, schob sich ein Kissen in den Nacken und betrachtete ihr Zimmer, als sähe sie es zum ersten Mal. Ein schönes Zimmer, hübsch möbliert, mit einem großen Fenster, das die Sonne hereinließ. Der helle Schrank mit dem Spiegel auf der mittleren Tür, der pinkfarbene Teppich, die zartrosa Vorhänge und die Lampe, die aus kunterbuntem Glas bestand, das leise klirrte, sobald man sich im Zimmer bewegte – ein Jungmädchenzimmer! Sehr komfortabel natürlich, aber ohne den Luxus, den es bei Mike Heiser gab. Eigentlich hatte sie es immer gut gehabt in ihrem Zuhause. Als ihr alles zu beengt geworden war, hatten die Eltern Verständnis gehabt und ihr diese Wohnung eingerichtet, in der sie ganz für sich sein, in die sie sich zurückziehen konnte. Trotzdem war ihr im König Augustin alles zu nah gewesen, die Pflichten, die sie nicht erfüllen wollte, die Eltern, die sie liebten, aber mit einer Liebe, die sie bedrängte, die Tradition, der sie sich ergeben sollte. Sie wollte weg, so weit wie möglich. Nun, besonders weit würde es nicht sein, von Westerland bis Kampen war es nur eine kurze Strecke, aber innerlich würde sie sich weit von ihren Eltern und deren Ansprüchen entfernen können, sobald sie bei Mike wohnte. Zwei oder drei Jahre, so hatten sie vereinbart, danach würde man weitersehen …

Sie ging duschen und zog sich an. Während sie eine Bermudashorts und ein Shirt heraussuchte, sah sie ihre Kleidung durch. Was würde sie mitnehmen? Alles? Oder nur eine Auswahl? Als Mike Heisers Frau musste sie stets nach der neuesten Mode gekleidet sein. Ihre kunterbunten Klamotten sollte sie vielleicht besser hierlassen. Oder wollten ihre Eltern diese Wohnung vermieten? Einem Mitarbeiter zur Verfügung stellen? Kari spürte Eifersucht in sich aufsteigen. Nein, diese Wohnung gehörte ihr. Am Klingelschild neben der Wohnungstür sollte weiterhin »Kari Rensing« stehen, auch wenn sie hier nicht mehr wohnte. Während sie sich anzog und frisierte, fragte sie sich, ob sie diesen Anspruch überhaupt haben durfte. Entschlossen griff sie zu ihrem Lippenstift und malte ihre Lippen knallrot. Sie würde ihre Eltern bitten, die Wohnung noch eine Weile für sie zu halten. Sicherlich würden sie damit einverstanden sein, dass sie mit einem Fuß im Elternhaus blieb. Wer wusste schon, wie sich das Zusammenleben mit Mike gestalten würde. Vor allem war unklar, wie Julian damit zurechtkam. Zum Glück war die Villa in Kampen groß genug, es gab Platz im Überfluss, genug Platz, um sich aus dem Weg zu gehen.

Sie hörte die Stimme einer Kellnerin, die mit ihren Eltern sprach. Aha, sie hatten das Frühstück also in die Wohnung kommen lassen! In Kari entstand so etwas wie Spannung, eine Erregung, die gestern noch in der Nähe des Magens gesessen hatte und nun ihr Herz erreichte. Was mochte es sein, was ihre Eltern ihr zu sagen hatten? Es schien große Bedeutung zu haben.

Olaf kam auf Kari zu, als sie eintrat, und zog sie in seine Arme. »Mein Kind!«

Das war zu viel. Kari spürte genau, wie die überbordenden Emotionen ihres Vaters in der Umarmung mitschwangen. Was war los?

Brit deckte den Tisch. »Bin sofort fertig!« Bei ihr war es genau anders herum. Sie warf Kari nur einen kurzen Blick zu, als hätte sie jetzt schon Angst vor ihrer Reaktion.

Kari sah, dass die Zeitung, in der heute von ihrer Verlobung mit Mike Heiser berichtet wurde, auf einem kleinen Regal in der Nähe des Tisches lag. Sie zögerte, bevor sie Platz nahm. »Ich hoffe, ihr rückt bald mit der Sprache raus.« In diesem Augenblick sah sie das Familienstammbuch neben der Zeitung liegen. »Das habt ihr schon herausgesucht?«

Brit nickte, noch immer ohne sie anzusehen. »Das brauchst du, wenn ihr das Aufgebot bestellt.« Sie goss Kaffee ein und drückte Olaf auf seinen Stuhl zurück, der schon wieder aufspringen und irgendwas holen wollte. Er war sehr nervös, nippte nur kurz an seiner Kaffeetasse, dann, kaum hatte sich Brit zu Kari und Olaf gesetzt, fing er an, als wollte er es hinter sich bringen: »Du weißt ja, Kari, dass ich nicht Augustin, sondern Rensing heiße, weil ich ein unehelicher Sohn deines Großvaters bin. Es gab auch einen ehelichen Sohn, Arne Augustin …«

»… der bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen ist«, unterbrach Kari und schaffte es nur im letzten Augenblick, nicht die Augen zu verdrehen. »Das weiß ich doch längst.«

»Mein Vater hatte immer lockeren Kontakt zu meiner Mutter gehalten und meinen Werdegang genau verfolgt. Ich selbst habe lange Zeit seinen Namen nicht gekannt. Als er dann plötzlich ohne einen Sohn dasaß, der sein Erbe hätte antreten können, hat er sich an mich erinnert. Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits als Konditor im König Augustin , ohne zu ahnen, dass mein Arbeitgeber mein Vater war.«

»Weiß ich doch alles.«

»Es gibt aber etwas, das du noch nicht weißt.« Olaf griff nach Brits Hand, als brauchte er ihre Nähe, als sollte etwas von ihrer Kraft auf ihn übergehen. »Ich habe deine Mutter erst kurz vor deiner Geburt kennengelernt. Ich bin nicht dein leiblicher Vater, Kari, sondern dein Adoptivvater. Ich habe dich an Kindes statt angenommen, als ich deine Mutter geheiratet habe.«

»Was?« Kari legte das Brötchen zurück, von dem sie gerade abbeißen wollte. In ihrem Kopf herrschte mit einem Mal Nebel, ihre Gedanken und Gefühle verschwammen, sie konnte nicht spüren, was die Worte ihres Vaters in ihr anrichteten. Nur Schemen waren da, alles undeutlich, nichts war mehr klar.

Schließlich flüsterte sie kraftlos: »Wer ist mein Vater?«

Es war Brit, die antwortete: »Ein Klassenkamerad. Du weißt doch, ich habe die Handelsschule besucht. Wir machten eine Klassenfahrt nach Sylt, haben auf Dikjen Deel gezeltet. Ich war zum ersten Mal weg von zu Hause, wir waren alle ziemlich ausgelassen … Ich weiß nur noch den Vornamen deines Vaters. Mit Olaf an meiner Seite habe ich diesen Jungen total vergessen. Er selbst hat nie erfahren, dass ich schwanger geworden bin.«

Olaf griff nach Karis Hand. »Aber du bist immer meine Tochter gewesen. Ich kenne dich seit dem ersten Tag deines Lebens. Du bist ganz und gar mein Kind, Kari. Deswegen wollte ich nicht, dass du es schon früh erfährst und vielleicht verunsichert wirst.«

Kari warf ihr Brötchen so zornig zurück, dass es über den Tellerrand rutschte und auf die Tischdecke fiel. Mit einem Mal war der Nebel weg. Sie sah jetzt ganz klar. So klar, dass es wehtat. »Ihr habt mich also mein ganzes Leben lang belogen?« Ihre Stimme klang schrill, einerseits voller Empörung, andererseits angefüllt mit Angst und Enttäuschung.

Olaf wehrte erschrocken ab. »So darfst du das nicht sehen.«

Kari sprang auf. »Ständig kommt ihr mir mit Vorhaltungen. Nichts, was ich mache, ist richtig. Täglich reibt ihr mir unter die Nase, dass ich mein Leben ändern soll. Und ihr?« Sie griff nach dem Familienstammbuch und sah so aus, als wollte sie es an die Wand werfen. »Ihr belügt mich jahrelang!« Mit blitzenden Augen wandte sie sich an ihre Mutter. »Ausgerechnet du! Ständig schwingst du die Moralkeule, und du weißt nicht einmal, wie mein Vater heißt? Woher nimmst du dir eigentlich das Recht, mich zu verurteilen?«

Sie wirbelte herum und stürmte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße. Zum Meer! An der Wasserkante entlang nach Kampen! Weg vom König Augustin . Bloß weg!