Juni 1985, Sylt

Hajo Keller verabschiedete ein älteres Ehepaar, Stammgäste des Hotels König Augustin . Er hielt ihnen die Wagentüren auf, während der Taxifahrer das Gepäck im Kofferraum verstaute. »Angenehme Heimreise! Beehren Sie uns bald wieder.« Er wartete, bis sich die Autotüren geschlossen hatten, und deutete eine Verbeugung an, als das Taxi sich in Bewegung setzte.

In diesem Augenblick sah er Kari. Sie kam aus dem Seiteneingang des Cafés gelaufen und stürzte auf die Straße, ohne nach rechts und links zu sehen. Sie war tränenblind, das sah Hajo sofort.

»Kari!« Er trat ihr in den Weg. »Was ist passiert?«

Sie schluchzte auf, wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab, schien sich zusammenreißen und behaupten zu wollen, dass alles in Ordnung sei … aber Hajo ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Er hätte ihr sowieso nicht geglaubt. »Komm rein.« Er griff nach ihrem Arm und zog sie in die Lobby. Diese wurde gerade von einem Mitarbeiter durchquert, der auf die Tür von Hajos Büro zuhielt, in der Hand einen dicken Aktenordner. Der Personalchef, der mit ihm über eine Bewerbung reden wollte.

»Wir gehen in mein Zimmer, da sind wir ungestört.«

Er führte Kari zum Aufzug und schob sie hinein. Noch hatte er keine Wohnung auf Sylt gefunden, bis jetzt lebte er in einem Hotelzimmer im ersten Stock. Dort schloss er die Tür auf und merkte, dass Kari zögerte, dass sie sich nicht mehr bereitwillig schieben und drängen ließ. Prompt machte er einen Schritt zur Seite und sorgte für ausreichenden Abstand. Das hatte er von klein auf gelernt. Ein Schwarzer musste sehr vorsichtig sein. Eine fürsorgliche Geste seinerseits wurde von manchen Menschen schnell missverstanden oder fehlinterpretiert, und die Reaktionen auf einen Mann mit dunkler Hautfarbe waren viel heftiger als bei einem Weißen.

»Wir können natürlich auch in mein Büro gehen. Ich dachte nur …«

Kari gab sich einen Ruck und betrat sein Zimmer. Er folgte ihr, schloss die Tür hinter sich und betrachtete sie, wie sie dastand und in sich aufnahm, was sie zu sehen bekam. Das frisch gemachte Bett, die Kleidung des Vortags, die er zum Glück ordentlich zusammengefaltet hatte, das gerahmte Foto seiner Eltern, das auf dem Nachttisch stand, das Buch, in dem er vor dem Einschlafen las, die Halspastillen, die Flasche Wasser, die Tüte mit den Gummibärchen, die er liebte. Er hatte das Gefühl, jedes Teil erklären, sich für alles entschuldigen zu müssen.

Aber Kari hatte das Interesse schon wieder verloren, es schien, als würde sie von einer neuen Welle des Schmerzes überwältigt. Geistesabwesend griff sie in die Tüte und nahm sich ein paar Gummibärchen heraus. Ihre Augen wurden wieder feucht, sie ließ sich in den kleinen Sessel am Fenster fallen. »Meine Eltern haben mich belogen. Mein Leben lang.«

Hajo sah sie ungläubig an. Olaf und Brit Rensing? Die korrektesten Menschen der Welt? Das konnte er sich nicht vorstellen. Andererseits … wenn er so in Karis Gesicht blickte, wurde ihm schnell klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste. Derart aufgelöst hatte er sie noch nie erlebt.

»Also erzähl …«

Hajo hörte sich ihre Geschichte an, hockte sich auf seine Bettkante, wo er ihr am nächsten sein konnte, nahm ihre Hände in seine, als sie wieder zu weinen begann, und sagte schließlich sanft: »Er hatte Angst, dich zu verlieren. Er wollte ganz und gar dein Vater sein, nicht nur dein Adoptivvater. Vielleicht hatte er auch Angst davor, mit der Erinnerung an deinen leiblichen Vater konkurrieren zu müssen.«

»Wie war das bei dir?« Sie wischte sich die Augen trocken und sah ihn nun sehr aufmerksam an.

»Ich wusste natürlich schon sehr früh, dass meine Adoptiveltern nicht meine leiblichen Eltern sein konnten.«

»Hast du ständig an deine richtigen Eltern denken müssen. Die in Äthiopien?«

Er dachte kurz nach. »Manchmal. Aber jetzt schon lange nicht mehr. Von meinem leiblichen Vater weiß ich nichts, und von meiner Mutter nur, dass sie nichts zu essen für mich hatte. Deswegen hat sie mich zu einer Missionsstation gebracht, wo man dafür gesorgt hat, dass ich adoptiert werden konnte. Ich bin meiner Mutter heute dankbar, dass sie mich weggegeben hat. Ich wäre unter erbärmlichen Umständen groß geworden.«

Kari nickte. »Das ist was ganz anderes. Das lässt sich nicht vergleichen.«

Hajo beugte sich so weit vor, dass er ihr tief in die Augen sehen konnte. »Es war nicht richtig von deinen Eltern, dich so lange im Unklaren zu lassen. Aber sie haben es getan, weil sie dich lieben. Dein Vater hatte Angst, dich zu verlieren. Das solltest du ihm verzeihen.«

Kari stand auf. Ihr Gesicht war voller Trotz, kindlich rund, die großen Augen, die Hajo so sehr liebte, weit aufgerissen, so als würden sie im nächsten Augenblick voller Tränen sein. Aber sie blieben trocken, nur die vor Aufregung geröteten Wangen zeigten, wie aufgewühlt sie nach wie vor war.

Hajo merkte, dass es in ihr arbeitete. Er erhob sich ebenfalls. Sie standen nun dicht voreinander, er brauchte nur die Hände nach ihr auszustrecken, um sie an sich zu ziehen. Sollte er …? Sie kam einen Schritt auf ihn zu, zeigte ihm, dass sie seine Nähe suchte, und dann war es unmöglich, ihr zu widerstehen. Sanft umfing er sie. »Ach, Kari.«

Sie schmiegte sich an ihn, aber nicht wie in Mike Heisers Haus, nicht begehrlich, sondern wie ein Kind an jemanden, der Trost schenkte. Lange standen sie so da, ihr Kopf auf seiner Brust, bewegungslos, aneinander gelehnt, haltend und gehalten werdend, sich gegenseitig einatmend.

Kari schnupperte mit einem Mal. »Du riechst gut.« Sie löste sich von ihm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Hattest du dieses Eau de Toilette auch benutzt, als wir bei Mike Heiser waren?«

Seine Stimme war rau. »Ich habe nur das eine.«

»Ich kann mich gut an den Duft erinnern.«

Er starrte sie an, wartete, dass sie noch etwas sagte, sehnte es herbei, dass sie die richtigen Schlüsse zog, hielt den Atem an … aber dann sagte sie: »Ich bleibe jetzt erst mal bei Mike. Bald werde ich sowieso zu ihm ziehen.«

Hajo sah sie erschrocken an. »Zu ihm ziehen? Wie meinst du das?«

»Du hast heute noch keine Zeitung gelesen?«

Er schüttelte den Kopf, langsam und argwöhnisch. Er ahnte, dass etwas auf ihn zukam, was er unter keinen Umständen hören wollte.

»Ich habe mich mit Mike verlobt. Mit der Hochzeit werden wir wohl nicht lange warten.«