Juni 1985, Riekenbüren
»Ein Anruf nach Sylt?« Edward Heflik sah seine Frau entgeistert an. »Weißt du, was so ein Ferngespräch kostet?«
Frida setzte ihr bockiges Gesicht auf, das sie sich zugelegt hatte, seit sie ihrem Mann gelegentlich widersprach. In den ersten Jahren ihrer Ehe war das undenkbar gewesen, da hatte sie noch alle eigenen Wünsche hintangestellt aus lauter Dankbarkeit, weil Edward sie zu seiner Frau gemacht hatte. Erst später, als Brit jahrelang verschwunden gewesen war und als ihr Sohn partout nicht die Frau heiraten wollte, die für ihn vorgesehen war, hatte sie zum ersten Mal aufbegehrt. Seitdem führte sie manchmal sogar Ferngespräche, ohne ihren Mann vorher zu fragen. Dieses Mal hatte sie allerdings den Fehler gemacht, ihn vorher darüber in Kenntnis zu setzen.
»Unsere Enkelin hat sich verlobt!«, sagte sie mit einem solchen Nachdruck, dass Edward sie erstaunt ansah. »Und ich will wissen, warum wir davon nichts erfahren. Brit hat nur Romy Wimmer verständigt. Wir mussten davon aus der Zeitung erfahren. Da wird man ja wohl fragen dürfen, was Brit sich dabei gedacht hat.«
Nun nickte Edward. Frida hatte es doch gewusst! Ihr Mann wollte es auch wissen. Und deswegen sagte er kein Wort mehr, als sie Brits Telefonnummer heraussuchte und sie mit der feierlichen Stimmung wählte, die sie immer überkam, wenn sie sich moderner Technik bediente.
»Brit?«, schrie sie in den Hörer, als am anderen Ende abgenommen wurde. Noch immer glaubte sie, dass ein Gespräch über so viele Kilometer unmöglich mit leiser Stimme geführt werden konnte.
Natürlich hielt sie das Telefonat kurz, wie ihr Mann es verlangte, der schon nervös wurde, als Frida nach dem Wetter auf Sylt fragte, weil er der Meinung war, dass sie, wenn sie schon ein Ferngespräch führen musste, sich wenigstens auf das Wesentliche beschränken sollte. Frida dagegen war der Meinung, dass man, wenn man jemandem mit Vorwürfen kommen wollte, zunächst für gute Stimmung sorgen musste, damit das Gespräch nicht im Streit endete.
Brit hatte nicht viel Zeit, wie das meist der Fall war. Wann immer ihre Mutter anrief, musste Brit unbedingt runter ins Café, hatte einen Termin mit einem Lieferanten von Rosinen oder Toilettenpapier oder wollte nebenan im Hotel nach dem Rechten sehen, wo ein Zimmermädchen schlampig gearbeitet hatte. Frida schwirrte jedes Mal der Kopf, wenn sie mit ihrer Tochter telefoniert hatte. Wann Brit eigentlich ihre Hausarbeit verrichtete, danach fragte sie schon lange nicht mehr.
Diesmal kam ihr Anruf ungelegen, weil Romy gerade zu Besuch gekommen war. »Wegen der Verlobung?«, fragte Frida.
»Ja, sie meint, es gibt ein großes Fest.«
»Es gibt keins?«, erkundigte sich Frida hoffnungsvoll, die sich schon gefragt hatte, wie sie den Nachbarn erklären sollte, warum ihre Enkelin die Großeltern nicht zur Verlobung einlud.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Brit, und ihre Stimme war ganz dunkel vor Enttäuschung, das entging Frida nicht. »Wie sollte das auch auf die Schnelle organisiert werden? Niemand wusste von den Verlobungsplänen.«
Als Frida klar wurde, dass Brit von diesen Neuigkeiten genauso überrumpelt worden war wie sie selbst, schluckte sie die Vorwürfe hinunter, die sie eigentlich vorbringen wollte. Und als Ursula Berghoff ein paar Stunden später bei Frida erschien – die Nachbarin, die immer auftauchte, wenn sich in einer Riekenbürener Familie etwas ereignete, was nicht Naht auf Naht in die Sitten und Gebräuche des Dorfes passte –, hatte Frida ihre Fassung vollends wiedererlangt. Ursula Berghoff hatte es zu ihrer Aufgabe gemacht, solchen verrutschten familiären Ereignissen auf den Grund zu gehen. Sie war ja auch die Erste gewesen, die vor über zwanzig Jahren begriffen hatte, was mit Brit geschehen war.
Edward verzog sich in die Werkstatt, als er Ursula Berghoffs Stimme hörte, die behauptete, dringend hellrosa Nähseide zu benötigen, und angeblich hoffte, bei Frida ein Röllchen ausleihen zu können.
»Ach, übrigens …« Mit diesen Worten kam sie stets auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs zu sprechen. »Ich habe heute Morgen in der Zeitung gelesen …«
Frida ließ sie nicht aussprechen. »Ist das nicht wunderbar? Eine Verlobung, von der in der Zeitung berichtet wird! Wann hat es in Riekenbüren je so etwas gegeben? Kari wird demnächst zur High … High So … also, zu den oberen Zehntausend gehören.«
Ursula Berghoff strich aufgeregt über ihre Dauerwelle. »Ihr wusstet davon?«
»Natürlich! Was dachtest du denn?«
»Du hast nichts davon erzählt.«
»Muss man alles gleich an die große Glocke hängen? Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich mit meiner Enkelin prahlen will.«
Frida war hingerissen von ihren eigenen Worten. So clever hatte sie noch nie reagiert. Nun war sie sogar bereit, Ursula Berghoff einen Kaffee anzubieten, was sie sonst gern vermied, damit sich der Besuch der Nachbarin nicht länger hinzog als unbedingt nötig. Und – einmal so richtig in Schwung – schaffte Frida es sogar, Karis Zukunft auszumalen, als hätte sie Mike Heiser längst kennengelernt, als hätte sie seine Villa schon besichtigt und wüsste alles über seine ausgefallenen Gewohnheiten und natürlich über die wunderbaren Kleider, die er entwarf. Erst Halinas Erscheinen bremste sie und ihre Fantasie, von der sie bis zu diesem Tag gar nicht gewusst hatte, dass sie in ihr schlummerte.
Halina lachte verächtlich, als sie Ursula Berghoff am Küchentisch sitzen sah. »Ah, Karis Verlobung spricht sich herum!«
Ursula Berghoff fühlte sich durchschaut. Das war nie schwierig und kam häufig vor, aber selten wurde es ihr derart deutlich vor Augen geführt wie jetzt von Halina. Ursula Berghoffs Gesicht lief rot an, und ein gehässiger Zug umspielte ihre Lippen. »Ja, wir haben alle unser Päckchen zu tragen. Nicht zur Verlobung der Enkelin eingeladen zu sein ist ja direkt eine Kleinigkeit gegen deine Probleme, Halina. Die Tochter auf der Hilfsschule und der Sohn bester Kunde in den Spielhöllen. Meint ihr wirklich, dass Nicole die Prüfung zur Bürogehilfin schafft? Dass es in Bremen ebenfalls Spielautomaten gibt, vor denen Dennis seinen Feierabend verbringt, wisst ihr ja sicherlich.« Ursula Berghoff ging zur Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Ich möchte wissen, wo der Junge das Geld hernimmt.«