Juni 1985, Sylt

Hajo Keller glaubte, es sei eine gute Idee, sich ins Auto zu setzen und nach Kampen zu fahren. Es war am späten Nachmittag, die Sonne wurde schon orange, die Wärme wogte nicht mehr, sie wurde von einem frischen Wind aufgewirbelt, der bald Abendwind heißen würde.

Als Hajo in den Weg einbog, der zu Mike Heisers Villa führte, dachte er schon, ungesehen vors Haus fahren zu können. Aber er kam nicht weit. Ein großer, dunkel gekleideter Mann trat auf den Weg und zwang ihn zum Anhalten. Auf Hajos Erklärung hin, er sei Gast auf Mike Heisers letzter Party gewesen, zog er ein misstrauisches Gesicht. Erst als Hajo ergänzte, er sei in Kari Rensings Begleitung gewesen, wurde er freundlicher.

»Ich vermisse meine goldene Armbanduhr«, erklärte Hajo. »Ist sie nach der Party gefunden worden?«

Der Wächter zog sein Walkie-Talkie hervor und fragte eine unsichtbare Person am anderen Ende nach einer Armbanduhr. Er nickte Hajo zu. »Die Haushälterin wird nachsehen. Scheinbar ist einiges liegen geblieben.«

Hajo war unzufrieden. Er hatte gehofft, zum Haus vorfahren, dort aussteigen und eintreten zu dürfen, aber das kam anscheinend nicht infrage. Er wusste, wie die Antwort der Haushälterin ausfallen würde und dass er unverrichteter Dinge würde zurückfahren müssen. Eine dumme Idee, schalt er sich jetzt. Warum sollte ausgerechnet in einem solchen Moment Kari auftauchen und mit ihm sprechen wollen?

Der Wächter steckte das Walkie-Talkie wieder zurück. »Tut mir leid. Eine goldene Armbanduhr war nicht dabei.«

Hajo gab sich geschlagen. »Vielleicht hat Kari sie an sich genommen«, versuchte er es trotzdem noch einmal. »Ist Frau Rensing zu sprechen?«

»Soviel ich weiß, ist sie nach Westerland gefahren, um ihre Sachen zu holen.«

Hajo bedankte sich, setzte zurück, wendete und drückte aufs Gas. Kari war nebenan gewesen, als er losfuhr? Ihre Sachen holen! Das konnte nur bedeuten, dass sie ihre kleine Wohnung ausräumte. Er hätte nur ein Haus weiter gehen müssen, den Seiteneingang in die Wohnung kannte er ja. Andererseits … was sollte er Karis Eltern sagen, wenn er sie traf? Dass er sich von ihrer Tochter verabschieden wollte? Dass er wissen wollte, was die Nacht in Mike Heisers Haus für sie bedeutet hatte? Dass er unbedingt erfahren wollte, ob er nur ein belangloser Flirt für sie gewesen war oder ob die Stunde, in der sie im Saunahaus allein gewesen waren, wenigstens eine schöne Erinnerung für sie war?

Hajo nahm den Fuß vom Gas, als er nach Westerland hineinfuhr. Was für unsinnige Fragen! Kari hatte sich mit Mike Heiser verlobt, sie würde ihn heiraten, also hatte er ihr nichts bedeutet. Kari war eben so, ein bisschen flatterhaft, eine Frau, die sich nicht um das scherte, was sich gehörte und von ihr erwartet wurde. Mike Heiser schien es nichts auszumachen. Hajo konnte sich nicht erinnern, dass er während der Party nach Kari gefragt hatte, dass er sie an seiner Seite haben wollte, dass er sie geküsst hatte oder mit ihr in den Dünen verschwunden war. Eigentlich hatte er bis dahin sogar geglaubt, Mike Heiser mache sich gar nichts aus Frauen. Das Gerücht, er sei schwul, hielt sich hartnäckig. Und sein Geschäftsführer Julian Haarbeck wohnte schon lange in der Heiser-Villa. Angeblich, weil er dort sein Büro hatte und Mike Heiser bei der Arbeit die kurzen Wege schätzte. Vielleicht war an den Gerüchten etwas dran? Bei Mike Heiser war das jedoch anders. Vielleicht waren die Gerüchte nur entstanden, weil aus seinem beruflichen Verhältnis mit Julian Haarbeck Freundschaft geworden war? Hajo seufzte tief auf, als er am Miramar vorbeifuhr und in die Käpt’n-Christiansen-Straße einbog. Mike Heiser war hetero, da durfte er sich nichts vormachen, sonst hätte Kari sich nicht mit ihm verlobt.

Die Dämmerung zog herauf, als er sein Auto abstellte. Im Café König Augustin war noch viel los, im Hotel herrschte die kultivierte Ruhe, die zu einem gut geführten Haus gehörte. Über dem Café, in der Wohnung der Rensings, war es dunkel, nur hinter einem Fenster ganz links, das zu Karis Apartment gehörte, brannte Licht. Waren ihre Eltern nicht zu Hause? Hatte Kari diesen Moment gewählt, weil sie allein sein wollte, wenn sie ihre Sachen packte?

Kurz entschlossen ging Hajo ins Café und sah sich um. Weder Olaf noch Brit Rensing waren zu sehen. Er hielt eine Serviererin auf, die an ihm vorbeieilen wollte, und fragte nach dem Chef und der Chefin. »Sind sie nicht da?«

»Herr König hat Geburtstag«, war die Antwort. »Er feiert in der Alten Friesenstube. Wie jedes Jahr.«

Hajo bedankte sich und verließ das Café wieder. Natürlich! Kari wusste, dass Robert König Geburtstag hatte und die Eltern mit ihm feierten. Diese Gelegenheit nutzte sie, nach dem Streit wollte sie den beiden nicht in die Arme laufen. Dies war wieder so eine Situation, die er empfand, als gehörte er zur Familie. Die Rensings waren ihm so vertraut, obwohl er sie noch nicht lange kannte, glaubte er zu wissen, was sie dachten und wie sie urteilten. Die Arbeit in einem Familienbetrieb konnte schwierig sein, aber Hajo fühlte sich wohl im Hotel König Augustin , in dieser Familie.

Er ging zum Seiteneingang, wo es zwei Klingeln neben der Tür gab: »Olaf und Brit Rensing« und »Kari Rensing«. Er zögerte, ließ seinen Daumen eine Weile über dem Klingelknopf zittern, dann drückte er zu. Es dauerte lange, bis der Türdrücker summte. Hajo hatte sich gerade abwenden wollen, weil er glaubte, dass Kari nicht gestört werden wollte. Nun schob er die Tür auf. Langsam, als hätte er Angst vor dem, was ihn erwartete, stieg er die Treppe hoch. Den Blick hob er erst, als er Karis Stimme hörte.

»Hajo? Du?«

Er antwortete, als er vor ihr stand. »Du ziehst aus?«

Sie wirkte wie ein Kind, dem gesagt worden war, dass es nun groß sei und endlich lernen müsse, seine Koffer selbst zu packen. Die Haare zerrauft, das Make-up verrutscht, die Bluse falsch zugeknöpft. »Eigentlich war das erst nach der Hochzeit geplant, aber nun geschieht es eben früher.« Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn herein. »Kannst du mir helfen, die Koffer und Kisten runterzutragen?« Sie ging voraus in ihr Schlafzimmer, wo die Schranktüren offen standen und die Kommodenschubladen herausgezogen waren. Zwei Koffer lagen offen auf ihrem Bett, daneben standen mehrere Kartons, einige schon halb gefüllt.

»Hilft Mike dir nicht beim Umzug?«, fragte Hajo.

Kari schüttelte den Kopf. »Er hat sich einmal überwunden, hier aufzukreuzen, das hat ihm gereicht.«

Sie wollte einen Stapel T-Shirts aus ihrer Kommode heben, aber Hajo hinderte sie. Er griff nach ihrem Arm und zwang sie, ihn anzusehen. »Kari … ich wollte dir nur sagen … ich finde …«

»… dass ich mich zu schnell für Mike entschieden habe? Das sagen alle. Aber ich will hier raus. Jetzt erst recht.« Sie machte sich von Hajo frei und mit dem Packen weiter. »Ständig bekomme ich Vorwürfe zu hören: Tu dies, tu das, arbeite endlich, das Leben besteht nicht nur aus Vergnügungen. Du musst lernen, das zu schätzen, was dir deine Vorfahren hinterlassen … blablabla. Immer die Moralkeule! Das tut man nicht, und jenes tut man nicht. Und dann kommen sie ganz locker damit um die Ecke, dass sie mich mein Leben lang belogen haben. Egal, was ich tu oder lasse, es ist immer ganz, ganz schlimm. Aber meine Eltern? Sie können sich erlauben, was sie wollen, und ich muss Verständnis dafür haben. Meine Mutter lässt sich von einem Typen flachlegen, an dessen Namen sie sich nicht einmal erinnern kann. Aber das ist nicht weiter schlimm, das muss ich akzeptieren.« Sie holte tief Luft und stieß hervor: »Nein, danke! Ich bin froh, dass ich hier rauskomme.«

Hajo hielt sie noch einmal zurück, sorgte ein weiteres Mal dafür, dass sie zu packen aufhörte. »Deswegen heiratest du Mike? Damit du hier rauskommst?«

»Es wird mir gut gehen bei ihm«, antwortete Kari trotzig. Aber in ihren Augen stand etwas, das nicht zu ihrer Kaltschnäuzigkeit passte: der Schmerz eines Kindes, das sich unverstanden fühlte.

»Kari …« Er versuchte, sie an sich zu ziehen, ließ es aber sofort wieder, als sie sich mit einem winzigen Zurücklehnen widersetzte. »Das ist doch kein Grund zu heiraten.«

Sie drehte sich um, griff mit fahrigen Fingern nach einem Pulli, ließ ihn wieder fallen, nahm sich den nächsten vor. Er starrte auf ihren Rücken, während sie die Pullover durchsah, als wollte sie entscheiden, ob sie alle mitnehmen oder einige zurücklassen würde.

»Fürs Erste bin ich ja nur verlobt«, gab sie schließlich zurück. »Wenn ich jetzt schon zu Mike ziehe, können wir testen, ob das mit dem Zusammenleben klappt, bevor wir heiraten. Und wenn nicht …« Sie brach ab, einen Plan B hatte sie offenbar nicht in petto.

»… dann ziehst du wieder zurück?« Hajo sah sie ungläubig an.

»Vielleicht bekomme ich eine Stelle in Mikes Firma«, wich Kari aus. »Dann bin ich endlich unabhängig von meinen Eltern. Von meiner Mutter und meinem Adoptiv vater.« Das letzte Wort betonte sie mit Bitterkeit in der Stimme.

»Du kannst auch unabhängig sein, wenn du die Nachfolge deiner Eltern antrittst. Wenn du es wirklich willst, werden sie dich schon machen lassen.«

Kari lachte bitter und warf einen Pullover so nachlässig aufs Bett, dass er auf der anderen Seite zu Boden fiel. »Sie würden mir den ganzen Tag auf die Finger schauen und an mir herummäkeln. Außerdem habe ich keine Ausbildung, weder im Hotelfach noch im Restaurantgewerbe.«

»Das lässt sich nachholen.«

Kari atmete tief ein und aus, dann richtete sie sich auf und starrte die offene Tür des Kleiderschranks an, als sähe sie dort etwas, das ihr helfen könnte. »Hast du was zu rauchen dabei? Ich glaube, ich brauche etwas.«

»Kari!« Hajo schrie es fast. »Du musst damit aufhören. Du treibst Raubbau mit deinen Kräften. Rauschgift ist doch keine Lösung.« Er zwang sich zur Ruhe und fügte mit leiser Stimme an: »Mit den Drogen gibst du dein Leben aus der Hand. Merkst du das nicht? Oder … oder weißt du noch, was während der Party alles vorgefallen ist?«

Sie sah ihn lange an, als dächte sie über die Antwort auf seine Frage nach. Dann schüttelte sie langsam, sehr langsam den Kopf.