Juli 1985, Hamburg
Arne blätterte in dem Buch mit den Vorbestellungen und stutzte. »Carsten?«, rief er leise.
Sein Partner stand hinter der Theke und zapfte ein Bier für einen frühen Gast. Die Thekenbesetzung würde später den Dienst antreten, wenn es voll wurde. Das war erst gegen acht der Fall, Hochbetrieb war dann ab zehn.
Carsten sah flüchtig auf. »Was gibt’ s, Florian?«
»Diese Verlobungsfeier heute.« Arne zeigte auf den Eintrag. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das geht uns nichts an«, bekam er zur Antwort.
Arne verstand, was er sagen wollte. »Schon klar! Aber mit Presse und allem Drum und Dran?«
»Mike Heiser wird schon wissen, warum er das tut.« Carsten sprach jetzt sehr leise, damit der Gast, der an der Theke saß, ihn nicht verstehen konnte. »Es ist in letzter Zeit oft darüber geredet worden, dass Mike Heiser schwul sein könnte. Ihm wurde eine Fernsehshow angeboten. Hast du auch davon gehört?« Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern fuhr gleich fort: »Dabei geht es natürlich um Mode. Eine Sendung für Frauen also. Aber welche Frau interessiert sich für einen Mann, der schwul ist? Keine! Der Fernsehsender könnte Mike unter Druck gesetzt haben. Vielleicht muss er beweisen, dass er hetero ist.«
»Du meinst …«
»Ja, genau das meine ich.«
»Weißt du, wer die Glückliche ist?«, fragte Arne.
»Irgendeine reiche Erbin von der Insel, habe ich gehört.«
»Reich? Das hat er doch gar nicht nötig.«
»Geld kommt zu Geld, das war schon immer so.«
Arne mochte Mike Heiser nicht besonders gern. Carsten sagte immer, ihm wären alle sympathisch, die Stammgäste im Carar waren und dafür sorgten, dass die Kasse klingelte. Aber dem konnte Arne nicht zustimmen. Natürlich behandelte er alle gleich, die Gäste, die er nicht mochte, bekamen es selbstverständlich nicht zu spüren, und Mike Heiser war sicherlich noch nicht auf die Idee gekommen, dass Florian Aldenhofs Freundlichkeit gespielt war. Arne hielt Heiser für egoistisch und berechnend. Vielleicht waren das alle, die zu Geld gekommen waren. Er kannte sich schließlich aus, wenn es auch schon lange her war, dass er mit den Reichen auf Du und Du gestanden hatte. Sein Vater war sicherlich auch nicht von allen gemocht worden, und selbst der stets liebenswürdige Robert König hatte Feinde gehabt, Konkurrenten, deren Cafés nicht gut liefen, während jedes Linda, das Robert König eröffnete, zu einer Goldgrube wurde.
Arne zupfte an seinem Bart, als wollte er sichergehen, dass er sich nicht von seinem Gesicht löste. Dabei war er natürlich echt, einen künstlichen Bart hatte er sich nur in den Tagen nach dem Schiffsunglück angeklebt. Danach hatte er sich für einen Vollbart entschieden und seine Haare wachsen lassen. Er war noch nie erkannt worden, aber ob die Verkleidung ausreichte, wenn er jemandem begegnete, der ihn sehr gut gekannt hatte, wusste er nicht. Noch immer schoss die Angst durch seinen Körper, wenn er jemanden sah, der ihm vor zwanzig, dreißig Jahren mal vertraut gewesen war. Immer wieder sagte er sich, dass sich nach den vielen Jahren kaum noch jemand an ihn erinnerte. Aber jedes Mal sagte er sich dann auch, dass es leichtsinnig gewesen war, in Norddeutschland zu bleiben. Sie hätten das Carar in München oder noch besser im Ausland eröffnen sollen. Doch bisher war alles gut gegangen. Vermutlich würde die Angst ihn nie verlassen. Und Arne sagte sich oft, dass sie wohl seine gerechte Strafe war.
Auch an diesem Abend würde er wieder von der Angst verfolgt werden. Wenn Mike Heiser im Carar feierte, konnte es sein, dass viele Sylter dabei waren. Oder war dies nur die Party für seine Geschäftsfreunde? Schon möglich. Warum sollte er mit seinen Sylter Freunden in Hamburg auf seine Verlobung anstoßen? Das würde sicherlich auch seine Braut nicht wollen, wenn sie Sylterin war.
Manchmal war Arnes Angst noch konkreter. Gelegentlich malte er sich aus, Brit könnte ins Carar kommen, als Gast einer Feier, die dort veranstaltet wurde. Oder, weil sie mit Olaf einen Einkaufsbummel in Hamburg machte und im Carar einkehren und sich stärken wollte. Obwohl das eher unwahrscheinlich war. Das Carar lag nicht in der Nähe der Einkaufszone, es führte die Hamburg-Touristen in die Vergnügungsviertel. Nach dem Carar wurden die Etablissements immer kleiner und dunkler.
Wie immer, wenn Sylter im Carar erwartet wurden, ließ Arne sich erst blicken, wenn der Abend fortgeschritten war, wenn die Gäste nicht mehr so aufmerksam waren, ihre Blicke verschwommener, ihre Wahrnehmungen nicht mehr so verlässlich. Carsten kümmerte sich um die Verlobungsfeier, sorgte dafür, dass die Pressevertreter ein ruhiges Eckchen für ein Interview bekamen und im Übrigen ihre Kameras so ausgerichtet waren, dass nicht nur das Brautpaar in spe, sondern auch das Carar gut zur Geltung kam.
Als Arne den großen Raum betrat, der voller Stimmengewirr, Gelächter und Rauchschwaden war, hatte ein Reporter gerade den bekannten Modedesigner ins rechte Licht gerückt. Er stand an einem runden Stehtisch, den rechten Arm aufgestützt, in der Linken ein Sektglas. So hatte der Fotograf es gewollt.
»Und nun die Braut!«, rief der Fotograf. »Bitte links von Herrn Heiser und dann … tief in die Augen sehen!«
Die junge Frau trat in den Lichtkegel des Scheinwerfers, lächelnd, leicht verlegen, in einem schmalen hellen Etuikleid, das natürlich von Mike Heiser entworfen worden war, auf hochhackigen Schuhen, sodass sie genauso groß war wie er. Ihre blonden Haare trug sie hochgesteckt, ein paar Locken kringelten sich über den Ohren, was ihr etwas Kindliches gab. Aber ihr grell geschminkter Mund passte nicht zu diesem Eindruck, und ihr Lachen, als die Umstehenden riefen »Küssen! Küssen!«, auch nicht.
Arne machte zwei, drei Schritte zurück, zog die Tür zu und lehnte sich kurz dagegen, die Augen fest zusammengepresst, als wollte er das Bild verdrängen, das er gesehen hatte. Mein Gott, Kari! War sie es wirklich? Am liebsten hätte er noch einmal nachgeschaut, aber er wusste natürlich, wen er gesehen hatte. Das Blut rauschte in seinen Ohren, sein Herz raste. Kari war die Braut von Mike Heiser? Eigentlich völlig unmöglich. Und doch …
Er ging auf zitternden Beinen in den Thekenraum, wo er sich einen Aquavit eingoss und ihn hinunterstürzte.
»Ist was?«, fragte der Barkeeper und betrachtete seinen Chef besorgt, während er eine Nikolaschka mixte, den angesagtesten Cocktail der Saison.
Aber als Arne nicht antwortete, zuckte der Barmann mit den Schultern und wandte sich dem nächsten Gast zu.