Juli 1985, Sylt
Romy Wimmer war betrunken . Nicht sehr, nicht so, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat, aber doch so, dass sie sich keine schnellen Bewegungen erlauben durfte und Worte, die einen Zischlaut enthielten, besser mied oder besonders vorsichtig anging. Die Hocker in der Bar des Hotels König Augustin waren für sie auch eindeutig zu hoch. Sie hatte ihre liebe Mühe, einen zu erklimmen, und war, als sie es geschafft hatte, derart zufrieden, dass sie von ihrer ursprünglichen Absicht, an diesem Abend nur noch Mineralwasser zu trinken, abwich und nach einem Sekt rief. Der Geschäftsführer persönlich servierte ihn, denn der Barkeeper war eine halbe Stunde vorher über eine Getränkekiste gestolpert, der Länge nach hingeschlagen und mit einer aufgeplatzten Stirn in die Nordseeklinik gebracht worden. Das ließ Romy sich von Hajo Keller erzählen, gab ihrem Bedauern Ausdruck und ebenfalls ihrer Zufriedenheit, dass nun nicht der viel zu junge Barkeeper, der noch grün hinter den Ohren war, ihr den Sekt servierte, sondern der Geschäftsführer, der zwar ebenfalls zu jung für sie war, aber immerhin distinguiert genug, um als reife Persönlichkeit durchzugehen, was ihn optisch ein wenig älter machte.
Romy war der einzige Gast in der Bar. Eine halbe Stunde vorher hatte es noch einige Geschäftsreisende dort gegeben, die die Zeit mit Fachsimpelei verbracht hatten, und zwei wichtig aussehende Herren, die einen Geschäftsabschluss feierten. Offenbar mussten sie alle am nächsten Morgen früh aufstehen, so war es in der Bar bald still geworden, die dunklen Teppiche waren dunkler als sonst, die roten Wände bekamen einen braunen Schimmer. Die Bar des König Augustin brauchte Menschen, die redeten und lachten, die ihre Feuerzeuge aufflammen ließen, um sich Zigaretten anzustecken, und die ihre Gläser klingen ließen. Je weniger Gäste desto düsterer und öder wurde die Bar, dann musste das Licht heller gedreht werden, damit aus dem Gemütlichen nicht Trostlosigkeit wurde.
Romy starrte auf die Flaschen, die vor einer Spiegelwand aufgereiht waren, und versuchte, ihr Gesicht zwischen einer Martini- und zwei Campariflaschen zu erkennen. Kurz gelang es ihr, danach versuchte sie es nicht wieder. Man sah ihr an, dass sie an diesem Abend schon mehr getrunken hatte, als ihrem Aussehen bekam. Sie hätte auf direktem Wege in ihr Zimmer gehen sollen, nachdem sie in der Wohnung von Brit und Olaf Rensing bereits einige Gläser getrunken hatte, und dort schleunigst ins Bett. Das wäre das einzig Vernünftige gewesen. Olaf hatte die Kurve bekommen, nachdem er beinahe auf dem Sofa eingeschlafen war, Brit hatte es nicht fertiggebracht, Romy darauf aufmerksam zu machen, dass sie einen schweren Arbeitstag vor sich hatten und ihren Schlaf brauchten. Romy hatte gemerkt, dass Brit müde war und zu Bett gehen wollte, aber sie fand auch, dass sie als Brits Freundin ein Recht darauf hatte, sich ihren Ärger von der Seele zu reden. Wo sonst, wenn nicht bei Brit Rensing?
Romys Blick fiel auf Hajo Keller, der kontrollierte, ob die Kaffeemaschine gründlich genug gereinigt worden war. Sie musterte ihn von oben bis unten, fand Gefallen an seiner schlanken, drahtigen Rückseite und bemerkte nicht, dass Hajo sie im Spiegel beobachtete.
»Kennen Sie Kari Rensing?«, fragte sie, nachdem sie einen kräftigen Schluck Sekt genommen hatte.
Hajo drehte sich zu ihr um. »Natürlich. Sie ist die Tochter meines Chefs.«
»Die Adoptivtochter«, korrigierte Romy. »Das war bisher ein Geheimnis, aber jetzt … jetzt ist es ja heraus.« Sie krempelte die Ärmel ihres karierten Blazers mit den überdimensionalen Schulterpolstern auf. »Ich habe Brit immer gesagt, sie soll nicht zu lange damit warten, Kari die Wahrheit zu sagen. Hätte sie nur auf mich gehört! Dann wäre Kari nicht sauer gewesen, und wir wären heute Abend alle in Hamburg und feierten dort ihre Verlobung. Mit der Presse! Man stelle sich das vor.« Romy trank einen weiteren kräftigen Schluck. »Morgen hätte es vielleicht ein Bild von mir in der Zeitung gegeben.«
Nun drehte Hajo sich um und ließ sich auf das Gespräch ein. »Wieso von Ihnen?«
Romy sah ihn aufgebracht an. »Kari war mal so was wie … meine Tochter. Wir waren eine Familie, Brit, Kari und ich. Wenn Brit arbeiten musste, habe ich auf Kari aufgepasst und war wie eine Mutter für sie.« Sie sah Hajo eindringlich an und vergewisserte sich, dass er ihr aufmerksam zuhörte. »Ich war auch dabei, als Brit ihre große Liebe kennenlernte. Arne Augustin!«
Hajo goss sich ein Glas Wasser ein. »Wann war das?«
»Wissen Sie, wie alt Kari ist? Wann sie Geburtstag hat?«
Hajo nickte.
»Dann rechnen Sie es sich aus. Neun Monate vorher hat unsere Klasse eine Woche auf Dikjen Deel verbracht.«
Hajo war überrascht. »Da hat sie Arne Augustin kennengelernt? Er ist …«
»… Karis Vater, jawoll.« Romy musste eine Weile gegen einen unangenehmen Schluckauf ankämpfen. »Aber er war ein Schwein«, fuhr sie fort, als sie es geschafft hatte. »Erst war von Heirat die Rede, als Brit schwanger geworden war, und dann hat er nichts mehr von sich hören lassen. Brit landete im Haus für gefallene Mädchen, und ich …« Sie stieß sich mit dem rechten Zeigefinger vor die Brust. »… ich habe sie da rausgeholt. Und von da an waren wir eine Familie. Brit, Kari und ich. Olaf hätten wir gar nicht gebraucht. Wir hätten das auch ohne einen Mann hingekriegt. Aber Brit wollte ja unbedingt …« Sie stützte den Kopf auf, schloss die Augen und riss sie erst wieder auf, als sie das Gefühl hatte einzuschlafen. »Eigentlich wollte sie natürlich Arne, aber der war ja mittlerweile umgekommen.« Sie stürzte ihren Sekt hinunter. Nun drehte sich der Raum vor ihren Augen wie ein Karussell, und sie lallte nun doch. »Ich glaube, ich muss …«
»Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer.«
»Ehrlich? Das ist aber … aber verdammt nett von Ihnen.« Sie hatte es geschafft, sich von ihrem Hocker zu hieven, bevor Hajo um die Theke herumkommen konnte, um ihr zu helfen. »Und wie finden Sie das? Finden Sie das richtig, dass Kari ihre Verlobung in Hamburg feiert, ohne ihre Eltern und ohne mich?«
»Nein, das ist nicht richtig«, antwortete Hajo folgsam, griff unter Romys Arm und sorgte dafür, dass sie ohne Unfall zum Aufzug kam. Er fuhr mit ihr zusammen in die zweite Etage, wo Romy ein Zimmer bezogen hatte, und lehnte höflich ab, als sie Anstalten machte, ihn in ihr Bett einzuladen. »Schlafen Sie gut, Frau Wimmer! Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.«