Juli 1985, Hamburg
Es war schrecklich warm. Die Scheinwerfer der Fotografen sorgten dafür, dass jede Frau heimlich nach der Puderquaste griff, um sich den öligen Glanz aus dem Gesicht zu pudern. Als sich die Vertreter des regionalen Fernsehsenders verabschiedeten, war es kaum noch auszuhalten. Die Klimaanlage kam nicht mehr gegen die Hitze an.
Kari erhob sich und flüsterte Mike zu: »Ich gehe mal eben für kleine Mädchen …«
Er nickte lächelnd und vertiefte sich wieder in das Gespräch mit dem Angestellten eines Modehauses, das Mike-Heiser-Modelle exklusiv anbieten und mit Sonderangeboten locken wollte.
Kari huschte aus dem Raum, lächelte jedem zu, der ihr gratulierte, und deutete mit einem Nicken in Richtung Toilettentür, um zu zeigen, dass es für sie zurzeit etwas Dringenderes gab. Der Vorraum der Toiletten war leer, sie huschte in eine Kabine und lauschte auf die Geräusche ringsum. Nach einer Weile schien sie allein zu sein, verließ die Kabine, wusch sich die Hände und sah in den Spiegel. Kari Heiser! So würde sie demnächst heißen. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob es richtig war, die Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen. Konnte das wirklich gut gehen? Der größte Schwachpunkt war Julian, der mit Karis Rolle überhaupt nicht einverstanden war. Schon seit Jahren hoffte er, dass Mike sich endlich öffentlich zu ihm bekannte und sich outete. Manchmal kam es Kari so vor, als wollte er dieses Outing erzwingen, indem er sich absichtlich verriet. Aber noch war seine Angst, Mike dadurch zu verlieren, größer als sein Wunsch, dass dieser sich zu seiner wahren Liebe bekannte.
Als Kari die Toiletten verließ, spürte sie einen kühlen Luftzug von rechts. Links wartete die stickige Wärme auf sie, der sie gerade entkommen war, auf der anderen Seite schien es ein offenes Fenster zu geben oder eine Tür, die nach draußen führte. Sie machte zwei, drei Schritte in den Flur hinein und stellte fest, dass es tatsächlich eine Hintertür gab, die in einen kleinen Innenhof führte, der von einer hohen Mauer umgeben war. An der Hauswand stapelten sich Getränkekisten, Bierfässer und hölzerne Weinstiegen, dahinter große Mülltonnen in einem Verschlag, der sie vor Blicken schützen sollte. Im hinteren Teil des Hofs sah Kari eine dichte Hecke, die etwas zu umschließen schien, etwas abschirmen sollte, was nichts mit dem Carar zu tun hatte, etwas Privates. Sie ging darauf zu, obwohl sie nicht neugierig war, sondern sich nur für einen Augenblick so weit wie möglich von den Gästen ihrer Verlobungsfeier entfernen wollte. Als sie um die Hecke herumschaute, war es zu spät. Sie konnte nicht mehr umkehren, sie war bereits bemerkt worden. Die Hecke verbarg einen kleinen Sitzplatz, ein niedriges Tischchen, auf dem eine brennende Kerze und eine Flasche Rotwein standen, daneben zwei Rattansessel mit bunten Bezügen. Auf einem von ihnen saß ein Mann, der sie zunächst bestürzt anblickte, der dann aber lächelte, als er ihr Erschrecken bemerkte.
»Sie brauchen eine Auszeit?«
Kari war sehr verlegen. »Es war so warm da drinnen …«
Der Mann wies auf den zweiten Sessel. »Wenn Sie mögen, können Sie sich gerne dazusetzen.« Als Kari zögerte, fragte er: »Oder wartet Ihr Verlobter auf Sie?«
Kari zuckte mit den Schultern, dann setzte sie sich. Und sie nickte, als der Mann ihr ein Glas Rotwein anbot.
»Ich bin Florian Aldenhof«, sagte er. »Mir gehört der Laden. Oder vielmehr … die Hälfte. Ich führe das Carar zusammen mit meinem Freund. Mir ging’s wie Ihnen, ich brauchte auch eine kleine Auszeit.«
Kari trank einen Schluck Wein, dann fragte sie: »Haben Sie was zu rauchen hier? Ich meine … einen Joint?«
Florian Aldenhof lachte. »Natürlich nicht! Brauchen Sie so was, wenn Sie … wie soll ich sagen … wenn Sie emotional angegriffen sind?«
Kari winkte ab. »Schon gut. Ich wollte sowieso weg von dem Zeug.«
»Richtig so. Sie sind jetzt ja auf dem besten Weg zur Ehefrau. Vielleicht sogar zur Mutter. Ein Joint ist was für junge Mädchen, die noch nicht wissen, wo sie hinwollen.«
Kari seufzte. »Das hätte auch von meinem Vater kommen können.«
Aldenhof lachte, ein bisschen zu laut, fand Kari, ein wenig schrill. »Oje, mit väterlichen Sprüchen wollte ich mich nun wirklich nicht unbeliebt bei Ihnen machen.«
Kari fühlte sich von ihm beobachtet und sah in eine andere Richtung, als bemerkte sie es nicht. Dieser Florian Aldenhof war nett, ein sehr sympathischer Mann, aber irgendwie verhielt er sich auch merkwürdig. Er sah sie an, als würde er sie kennen. Aber so würde das wohl in Zukunft immer sein, viele Leute würden glauben, sie zu kennen, weil neuerdings ihr Foto in den Zeitschriften zu sehen sein würde.
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte er nun, »aber es kommt mir so vor, als hätten Sie ein Problem.«
Kari sah ihn an, ohne zu antworten. Sie überlegte, ob er recht haben könnte.
»Ich kann mir vorstellen«, fuhr er fort, »dass dieser Rummel um die Verlobung Angst macht. Sollten Sie es sich anders überlegen, wird die Öffentlichkeit an der Auflösung der Verbindung genauso teilhaben wie an der Verlobung. Das macht so eine Entscheidung doppelt schwer.«
In diesem Moment quietschte eine Tür, Schritte kamen auf die Hecke zu. Kurz darauf erschien Carsten Tovar neben ihnen. »Oh, ich störe?«
Kari versicherte ihm, dass das nicht der Fall sei, und stand auf. »Ich wollte nur ein wenig frische Luft schnappen. Und Ihr Freund war so nett …« Sie griff nach dem Weinglas und trank es im Stehen aus. »Vielen Dank!«