Juli 1985, Sylt

Es war ein kühler Morgen. Zwar wechselte das Wetter auf Sylt oft schnell, aus Regen wurde in wenigen Minuten Sonnenschein, und der Himmel riss häufig auf, wenn niemand mehr damit rechnete, aber an diesem Tag sah es nicht so aus, als könnte sich der Strand mit Urlaubern füllen und sich die besonders ausgelassenen ins kalte Wasser werfen. Kari konnte von der Terrasse einen guten Teil des Strandes überblicken. Er war menschenleer. Das lag natürlich auch daran, dass es noch früh war, so früh, wie sie sonst nie aufstand. Aber seit sie in Mike Heisers Haus lebte, schlief sie anders, stand anders auf und verbrachte den Tag ganz anders als gewohnt. Wenn sie zu Hause erwacht war, hatte sie die Stimmen der Eltern gehört, die immer früh auf den Beinen waren, und hatte sich wütend und trotzig auf die andere Seite gedreht, um weiterzuschlafen. Am Abend hatte sie sich davongemacht, sobald das Café geschlossen wurde und die Gefahr bestand, dass ihre Eltern in die Wohnung kamen und bei ihr anklopften. Der Verlauf des Tages war davon bestimmt gewesen, sich dort herumzudrücken, wo Kari keine Forderungen zu hören bekam, wo ihr keine Vorhaltungen gemacht wurden, wo niemand mit ihr über die Zukunft reden wollte.

Das hatte sich nun geändert. Es gab niemanden mehr, vor dem sie davonlaufen musste. Mike kümmerte sich nicht um sie, er ließ sie in Ruhe. Wie sie die Zeit in dem kleinen Gästeapartment verbrachte, interessierte ihn nicht. Seine einzige Forderung war, dass sie sich so verhielt, wie es von der Verlobten des berühmten Stardesigners erwartet wurde. Dafür lebte sie in seinen komfortablen vier Wänden und erhielt monatlich einen Betrag auf ihr Konto überwiesen, den Julian mit näselnder Vornehmheit ihre Apanage nannte. Ein bequemes Leben! Ein wunderbares Leben! Nun hatte sie zwei oder drei Jahre Zeit, über die Zukunft nachzudenken. Wenn sie sich dann scheiden ließ, würde Mike ihr natürlich Unterhalt zahlen müssen, aber das Leben würde womöglich etwas weniger bequem sein. Bis dahin musste sie sich also überlegen, mit welcher Aufgabe sie ihr Dasein füllen wollte. Vielleicht doch mit der Arbeit im König Augustin ? Man würde sehen …

Sie hatte ihren Eltern einen Brief hinterlassen, als sie heimlich ausgezogen war, und sie gebeten, sie nicht zu besuchen. Sie würde ihnen eine Nachricht zukommen lassen, wenn der Hochzeitstermin feststand, vorher wollte sie in Ruhe gelassen werden, von ihrer Mutter und erst recht von Olaf. Sie merkte, wie gut es ihr tat, wütend und traurig zu sein. Bisher waren es immer die Eltern gewesen, die wütend und traurig über ihre missratene Tochter gewesen waren. Nun endlich hatte Kari einen Grund, wütend und traurig zu sein. Einen sehr guten Grund!

Sie drehte sich um und kehrte in ihr Apartment zurück. Es war richtig gewesen, schon vor der Hochzeit zu Mike zu ziehen. Sie wollte keine Erklärungen mehr hören, keine Entschuldigungen, keine Rechtfertigungen. Gut, dass Hajo ihr beim Packen geholfen hatte. Vermutlich hätte sie es nicht geschafft, alles ins Auto zu schaffen, bevor ihre Eltern zurückkamen.

Hajo! Hans-Josef. Kari lächelte. Was für ein Name! Er passte überhaupt nicht zu ihm. Hajo sollte Humphrey heißen oder Leonardo, der Name eines Filmstars würde zu ihm passen. Er hatte ja selber etwas von einem Star. Aber seine Eltern hatten Wert darauf gelegt, ihm einen urdeutschen Namen zu geben, den Namen des Großvaters, damit von vornherein für jeden klar war, dass er Deutscher war und kein Nordafrikaner, der hier nur geduldet wurde. Hajo war ein schöner Mann. Seine Ernsthaftigkeit, die Ruhe, die er ausstrahlte, die leise Freundlichkeit, das alles hatte ihr vom ersten Augenblick an gefallen. Deswegen hatte sie ihn auch gebeten, sie zu Mikes Party zu begleiten.

Sie ließ sich auf das breite Bett fallen, auf die Tagesdecke, die aus reinem Kaschmir bestand, und betrachtete die Seidentapeten, die hellen Möbel, die erlesenen Accessoires, mit denen der Innenarchitekt alle Gästeapartments ausgestattet hatte. Wenn sie an Hajo dachte, überkam sie jedes Mal ein Gefühl, das unangemessen war. Eine verschwommene Erinnerung, die sie sich nicht erklären konnte. Hatten sie zusammen getanzt? Sie wusste es nicht. Aber sein Eau de Toilette war ihr in Erinnerung geblieben, sein Duft hatte ihr gefallen. Sie musste ihm also nahe gekommen sein. In dem Versuch, ihre Erinnerungen hervorzulocken, schloss sie die Augen, schüttelte dann aber den Kopf. Nein, es gelang nicht. Sie musste aufhören mit den harten Drogen. Nicht zu wissen, was sie getan hatte, sich nicht zu erinnern, wie die Zeit vergangen war, gefiel ihr nicht. Was hatte Hajo gesagt? »Mit den Drogen gibst du dein Leben aus der Hand.« Das wollte sie nicht, auf keinen Fall. Nie wieder wollte sie am frühen Morgen den Strand entlangstolpern, ohne zu wissen, wie sie die Nacht verbracht hatte. Ein Filmriss war kein Spaß. Hajo hatte recht, damit gab sie ihr Leben aus der Hand. Und dafür war sie noch zu jung. Noch schlimmer war, dass man sie demnächst womöglich fotografierte, wenn sie nicht wusste, was sie tat, und die Fotos dann auf den Titelseiten irgendwelcher Zeitschriften auftauchten. Nein, es war wichtig, dass sie sich zukünftig unauffällig verhielt. Das hatte sie Mike versprochen, er wollte es sogar vertraglich festlegen lassen.

Sie stand auf und trat erneut auf die Terrasse. Tief atmete sie die wunderbare Luft ein, holte den Wind in ihre Lunge und spürte, wie ihr Körper leichter wurde, wie in ihr der Wunsch entstand, an diesem Tag etwas zu tun, das Sinn hatte. Vielleicht konnte sie Mike fragen, wie sie ihn bei seiner Arbeit unterstützen könnte? Bisher war er ihr immer ausgewichen, wenn sie darauf zu sprechen gekommen war, aber vielleicht musste sie nur hartnäckiger werden.

Kari wollte sich gerade umdrehen und erneut ins Haus zurückkehren, als sie die Bewegung wahrnahm. Unten, vor den dichten Büschen, die Mikes Grundstück vom Strand trennten, in der Nähe des schmalen Weges, der zum Wasser führte, den eigentlich niemand kannte und der vom Strand aus nicht zu sehen war. Kari machte einen Schritt vor und starrte auf den Punkt, wo die Büsche sich bewegt hatten. Nicht vom Wind zum Wogen gebracht, nicht von einer Bö geschüttelt, sondern zur Seite gestreift, losgelassen und zurückgeschnellt. Und dann sah sie einen Arm, eine Kamera … und kurz darauf das Blitzlicht. Einmal, zweimal.

Kari sprang wieder ins Zimmer und zog die Vorhänge zu. Paparazzi! Als Mike Heisers Verlobte gehörte sie nun tatsächlich zu denen, über die in der Regenbogenpresse berichtet wurde. »Puh!« Hoffentlich war das bald vorbei. Die Hochzeit würde sicherlich noch mal für Aufruhr sorgen, aber dann würde sich das Interesse hoffentlich wieder ausschließlich auf Mike richten und nicht auf seine Frau.

Kari verließ ihr Apartment und machte sich auf die Suche nach Mike. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass sein Grundstück noch besser gesichert war. Es durfte nicht sein, dass irgendein Fotograf von irgendeiner Zeitschrift Fotos von ihr machte!