September 1985, Sylt
An diesem Tag hatte Brit länger geschlafen als sonst. Ihr Wecker hatte geklingelt wie immer, sie war aufgeschreckt, hatte dann aber daran gedacht, dass die Saison vorbei und der große Ansturm im Café nicht mehr zu erwarten war, und war wieder eingeschlafen. Dass Olaf dennoch aufstand, hatte sie gar nicht mitbekommen.
Lächelnd erwartete er sie später am Frühstückstisch, den er augenscheinlich selbst gedeckt hatte. Meist nahmen sie nur einen schnellen Imbiss im Café ein, aber an diesem Tag schien auch Olaf der Meinung zu sein, dass sie es mal langsam angehen lassen konnten.
Brit blieb einen Moment in der Tür stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot. Der große, gemütliche Wohnraum mit dem ausladenden blauen Sofa und den bunten Samtkissen darauf, die Perserteppiche davor, die Schrankwände, die gefüllt waren nicht nur mit Büchern, sondern auch mit gerahmten Fotos, Erinnerungsstücken, Kerzenleuchtern, Urlaubsandenken. In einer gläsernen Vitrine hatte Olaf seine geliebte Musikanlage untergebracht, darauf stand der Fernseher. Die Wände waren mit einer Fototapete beklebt, der neueste Schrei, in diesem Fall ein Waldmotiv, zu dem es sogar ein passendes Raumspray gab, Fichtennadel- oder Zirbelkieferduft. Davor stand ein Regal, auf dem eine technische Neuerung stand: das Faxgerät. Daneben lag der Zauberwürfel, an dem Olaf sich jeden Abend vor dem Einschlafen versuchte, bisher allerdings vergeblich.
Olaf schenkte Brit Kaffee ein und legte ihr ein Brötchen auf den Teller. »Die Auschwitz-Lüge wird jetzt unter Strafe gestellt.«
»Richtig so.«
»Und Gegenstände mit NS -Kennzeichen sind demnächst verboten.«
Brit nickte zufrieden. »Ich habe auch gehört, dass die Beleidigung und Verunglimpfung von Opfern des Nationalsozialismus verfolgt und bestraft wird.«
Beide verhielten sich zustimmend, beide bewiesen aber schnell, dass sie gedanklich nicht lange bei diesen tagesaktuellen Nachrichten blieben. Übergangslos sagte Olaf: »Meinst du, Kari wird nie wieder hier mit uns frühstücken?«
Brit merkte, dass ihre Augen feucht wurden. Der Abend, an dem Robert Königs Geburtstag begangen worden war, hatte schrecklich geendet. Als sie heimkamen, hatten sie gleich gespürt, dass etwas anders war als sonst. Das Haus war leer gewesen, man hatte es fühlen und hören können. Die Haustür war mit einem hohlen Echo ins Schloss gefallen, und als sie die Treppe heraufgekommen waren, hatte die Tür zu Karis Apartment offen gestanden. Es war leer gewesen. Kari hatte die Abwesenheit ihrer Eltern dafür genutzt, ihr Zuhause zu verlassen. Nur einen Brief hatte sie zurückgelassen, mit einer unmissverständlichen Bitte, die man auch Anweisung nennen konnte. Sie sollten sich nicht mit ihr in Verbindung setzen, sie brauche Zeit, sie wollte keine weiteren Erklärungen hören, die womöglich doch wieder neue Lügen wären. Sie würde wieder im König Augustin erscheinen, wenn die Zeit gekommen sei, auf jeden Fall aber noch vor ihrer Hochzeit.
»Wir haben ihr noch immer nicht die ganze Wahrheit gesagt«, gab Brit zu bedenken. »Sie ist noch einmal belogen worden. Wäre es nicht besser gewesen …?«
»Nein«, gab Olaf zurück, ehe Brit zu Ende sprechen konnte. »Sie muss nicht wissen, wer ihr leiblicher Vater ist. Die Sache mit dem Klassenkameraden war genau richtig. Dass du dich nur noch an seinen Vornamen erinnern kannst, hat sie geglaubt.«
Brit strich Butter auf ihr Brötchen und griff nach dem Marmeladeschälchen. »Du hast ja recht. Niemand sonst weiß davon, das ist das Problem. Wir könnten Kari nicht die Wahrheit sagen und sie gleichzeitig verpflichten, darüber zu schweigen.«
»Eben! Sie würde garantiert mit Robert König darüber reden wollen, der kannte Arne schließlich sehr gut.«
»Aber Robert ist ja nicht über alles informiert. Er weiß nicht, dass ich das Mädchen war, das von Arne ein Kind bekommen hat. Er weiß nicht, dass es meine Eltern waren, zu denen Knut Augustin gefahren ist, um sie zu überreden, mich ins Entbindungsheim zu schicken. Er hat keine Ahnung, dass Kari Arnes Tochter ist. Und wie würde Linda damit umgehen, dass ihr Mann eine Tochter hinterlassen hat? Sollen wir das jetzt alles wieder aufwühlen?«
»Robert und Linda werden übrigens heute Nachmittag kommen«, erinnerte Olaf. »Denkst du daran?«
Brit nickte, natürlich hatte sie diesen Termin nicht vergessen. Olaf würde Roberts Cafés übernehmen und auch seinen Anteil am König Augustin , dem Café und dem Hotel. Der Anwalt hatte einen Vertrag ausgearbeitet, der für alle akzeptabel gewesen war. Linda würde bis an ihr Lebensende ihr gutes Auskommen haben, aber mit der Geschäftsführung nicht weiter behelligt werden. Das war genau das, was sie wollte. Sie konnte weiterhin in den Tag hineinleben, das tun, was ihr gefiel, und mit ihrem Maler glücklich sein. Auch Chris Reineit war mit der Regelung sehr einverstanden gewesen. Er wollte, dass Linda wirtschaftlich unabhängig von ihm war, dass er sich niemals Sorgen machen musste, ob genug Geld für ihre Extravaganzen im Haus war. Ein Kunstmaler wusste schließlich nie, wie sich seine Karriere entwickelte, ob seine Bilder in zehn Jahren noch immer so gut verkauft wurden wie zurzeit. Er wusste, dass es mit ihrer Liebe vorbei sein würde, wenn man Linda das gute Leben nahm, da machte er sich keine Illusionen.
»Wie wird Karis Hochzeit ablaufen?«, fragte Olaf unvermittelt. »Ohne uns?«
Brit wusste nicht, was sie antworten sollte. Einerseits wollte sie dabei sein, wenn Kari heiratete, wollte sie als Braut sehen und an ihrem Glück teilhaben, andererseits war sie noch immer die Angst nicht losgeworden, dass ihre Tochter einen Fehler machte. Aber es gab noch mehr Gefühle, die in ihrem Innern miteinander stritten. Einerseits die Hoffnung, dass Kari als Ehefrau endlich zu einem soliden Leben fand, dann wieder die traurige Gewissheit, dass Kari nicht Olafs Nachfolgerin werden würde, was sie insgeheim noch immer gehofft hatte. Aber als Ehefrau von Mike Heiser würde Kari erst recht nicht bereit sein. Wer sollte Olafs Arbeit weiterführen, wenn Kari sich nach wie vor weigerte, ihr Leben dem Erbe von Knut Augustin zu widmen? Solange sie sich von Olaf betrogen und belogen fühlte, war die Aussicht noch geringer.
»Schon jetzt wird in der Regenbogenpresse von der Hochzeit berichtet«, sagte Olaf bedrückt. »Das wird ein Riesenspektakel.«
Kein einziges Mal hatte er zur Sprache gebracht, dass es sein großer Wunsch gewesen war, Kari zum Altar zu führen. Dabei wusste Brit genau, dass er so empfand. Und nun? Nach dem schrecklichen Streit hatten sie Kari nicht wiedergesehen. »Glaubst du wirklich, sie wird uns das Hochzeitsdatum sagen, uns aber nicht dazu einladen?«
Olaf versuchte, sich Mut zu machen. »Das wird sie uns nicht antun.«
Brit konnte sich nicht vorstellen, dass Kari sie von ihrer Hochzeit ausschließen würde. »Das glaube ich auch nicht.« Sie versuchte, das Gespräch auf einen Nebenschauplatz zu lenken. »Ob ich Kari überreden kann, Romy zur Hochzeit einzuladen? Sie hatte sich schon von der Verlobung viel versprochen und war nicht dabei.«
Olaf runzelte die Stirn. »Romy nimmt sich viel heraus, nur weil sie mal mit Kari und dir zusammengelebt hat.«
»Sie hat uns damals ihre Familie genannt.«
»Kari hat kaum noch eine Erinnerung daran.« Olaf wollte weiterreden, verzog aber mit einem Mal das Gesicht, als litte er unter einem plötzlichen Schmerz. Seinen Griff an die linke Seite seines Oberkörpers kannte Brit schon.
»Du musst endlich zum Arzt, Olaf. Ich kann dir morgen einen Termin machen.«
»Nun mal langsam. Außerdem kann ich das selbst.«
»Natürlich kannst du das, aber du tust es nicht. Ich mache mir allmählich Sorgen.«
»Du übertreibst.«
»Nein! Tu’ ich nicht! Die Schmerzattacken kommen immer häufiger.«
»Schon gut«, brummte Olaf. »Nach Karis Hochzeit.«