Oktober 1985, Riekenbüren
Frida liebte es, wenn die Familie am Sonntag zusammenkam. In den Sommermonaten gelang es nicht immer, weil der Campingplatz während der Saison natürlich ständig geöffnet war, am Wochenende erst recht, wenn neue Gäste kamen und andere abreisten. Manchmal sorgte Hasso dafür, dass sich der arbeitslose Sohn von Ursula Berghoff an den Empfang stellte, die Schranke öffnete und schloss, neuen Gästen einen Platz zuwies und ein Auge auf die Putzfrauen hatte, die natürlich auch samstags und sonntags das Sanitärhaus reinigen mussten. Ziemlich viel für einen so jungen Mann mit so wenig Erfahrung. Aber da er, sobald sich Probleme auftaten, jederzeit zu Hasso und Halina kommen und sich Rat holen konnte, riskierten sie es immer öfter. Christoph arbeitete sich allmählich ein, vielleicht würden sie ihn demnächst fest anstellen, damit Halina entlastet wurde. Hasso versuchte immer, Dennis am Wochenende an die Schranke des Campingplatzes zu stellen, aber der weigerte sich hartnäckig, in seiner Freizeit für seine Eltern zu arbeiten. Das kam für ihn nicht infrage. Und seit er immer seltener nach Hause kam, vermutlich, um sich den Forderungen seines Vaters zu entziehen, sorgte Halina dafür, dass ihr Mann damit aufhörte, seinen Sohn am Wochenende einzuspannen. Vielleicht hatte Dennis deswegen an diesem Sonntag mal wieder seinen Besuch angekündigt.
Seit Christoph Berghoff gelegentlich bei den Hefliks arbeitete, kam seine Mutter noch öfter vorbei als sonst. Immer wenn ihr Sohn am Empfang des Campingplatzes stand, erschien sie, beobachtete ihn bei der Arbeit, sorgte dafür, dass er seine rutschende Hose hochzog, sich die Nase nicht mit dem Ärmel seines Hemdes sondern mit einem Taschentuch putzte, und korrigierte die Anweisungen, die er Neuankömmlingen gab, weil sie ihrer Meinung nach viel zu ungenau gewesen waren. Den Ausbildungsvertrag, den der Metzger des Dorfes mit Christoph nach seiner Schulentlassung abgeschlossen hatte, war bald gekündigt worden, weil Ursula Berghoff ständig in der Wurstküche erschien, um ihrem Filius über die Schulter zu gucken und dafür zu sorgen, dass er alles richtig machte. Davon wollte sie allerdings später nichts hören, sondern setzte, nachdem ihr Sohn seine Lehrstelle verloren hatte, derart absurde Gerüchte über den Metzger in die Welt, dass kein anderer es wagte, Christoph einen Lehrvertrag anzubieten. Nur Halina und Hasso fanden, dass der Junge bei ihnen eine Chance bekommen sollte, weil auf einem Campingplatz eine Mutter, die sich einmischte, noch am ehesten zu ertragen war.
Ursula Berghoff wirkte sehr zufrieden, als sie an Fridas Küchentür klopfte. Christoph machte ihrer Meinung nach an der Schranke des Campingplatzes eine gute Figur, sie konnte ihn dort allein lassen und mit der Mutter des Besitzers plaudern, damit bei den Hefliks nicht vergessen wurde, wie dringend Christoph Berghoff einen Ausbildungsplatz brauchte.
»Hm, Sauerbraten!« Ursula Berghoff ließ sich am Küchentisch nieder und von Frida Heflik erklären, wie die rheinische Variante des Sauerbratens zuzubereiten sei. Das ging schnell, denn so genau wollte sie es gar nicht wissen. Frida stellte immer wieder fest, dass Rezepte für Ursula Berghoff nur ein willkommener Umweg zu dem waren, was in jedem Dorf Klatsch und Tratsch hieß. »Was ich noch fragen wollte …«
Frida wusste, was Ursula Berghoff umtrieb. Natürlich wollte sie wissen, wie Karis Hochzeit verlaufen war. »Das hat ja keiner geahnt. So schnell!«
Frida tat so, als wüsste sie genau Bescheid. »Das kommt dir nur so vor. Natürlich haben die beiden nicht von den Hochzeitsvorbereitungen geredet. Sonst hätte es viel zu früh in allen Zeitungen gestanden.«
Das leuchtete Ursula Berghoff ein. Aber nun wollte sie alles genau wissen, welche Berühmtheiten daran teilgenommen hatten, wie glücklich die Braut gewesen war und mit welcher Liebe der Bräutigam sie angesehen hatte, als er das Jawort sprach. Einfach alles! Was es in der Regenbogenpresse zu lesen gegeben hatte, war für Ursula Berghoff nicht genug. Sie hatte alle Blätter gekauft, aber, wie sie Frida sofort erzählt hatte, feststellen müssen, dass ein einziges genügt hätte. Die Fotos ähnelten sich und die Berichterstattungen auch. Nein, sie brauchte eine Schilderung aus erster Hand, aus der Sicht einer stolzen Großmutter, nicht aus der Perspektive irgendwelcher Schreiberlinge. Die übertrieben entweder, oder sie ließen aus, was wirklich wichtig war, das war in Ursula Berghoffs Augen ja allgemein bekannt.
»Schade, dass ihr auf keinem Foto drauf seid!«
Frida musste bekennen, dass sie mit Edward, Hasso, Halina und den Kindern Plätze ganz hinten in der Kirche zugewiesen bekommen hatte, dort, wo niemand saß, der das Interesse der Reporter erregte.
»Aber Brit und Olaf haben ganz vorn gesessen?«, erkundigte sich Ursula Berghoff.
Die Frage klang lauernd, so als wüsste sie bereits die Antwort, als wollte sie sich nur bestätigen lassen, dass Frida Heflik alles beschönigen würde, was nicht den Erwartungen entsprach.
Trotzdem ging Frida das Risiko ein. »Selbstverständlich.«
Wirklich gelogen war es ja auch nicht. Brit und Olaf hatten tatsächlich weiter vorn gesessen, wenn auch nicht dort, wo die Prominenz Platz genommen hatte. Alle anderen, die mit den großen Namen und den berühmten Gesichtern, hatten in den ersten Reihen gesessen. Aber über diese enttäuschende Tatsache ging Frida schnell hinweg. Und natürlich unterschlug sie auch, dass Brit und Olaf kaum ein Wort mit ihrer Tochter gesprochen hatten, dass ihr Schwiegersohn freundlicher zu ihnen gewesen war als die Tochter. Das hätte sie Ursula Berghoff niemals auf die Nase gebunden. Schon deswegen nicht, weil sie sich den Grund für dieses Verhalten partout nicht erklären konnte. Nein, Frida ließ alles, was sie bedrückend gefunden hatte, unter den Tisch fallen. Sie hatte der atemberaubenden Feier beigewohnt, ein Essen zu sich genommen, das bei einer royalen Hochzeitsfeier nicht besser sein könnte, und in einem Hotel genächtigt, in dem ihnen jeder Wunsch von den Augen abgelesen worden war.
»Und Kari ist so richtig glücklich?«, vergewisserte sich Ursula Berghoff, als traute sie der Sache nicht. »Das ging ja so schnell! Man hatte ja nichts davon gehört, dass Kari und der Modefritze …«
»In diesen Kreisen redet man nicht über solche Dinge«, erklärte Frida so hochnäsig, als stünde sie mit dem Geldadel auf Du und Du. »Das wird immer geheim gehalten, sonst steht es schon in der Zeitung, wenn der Heiratsantrag noch nicht gemacht wurde.«
Ursula Berghoff schien einzusehen, dass sie dazu nicht viel sagen konnte, weil sie sich in den Kreisen, zu denen Kari und dadurch auch Frida nun gehörte, nicht auskannte. »Mein Gott, eine Riekenbürenerin gehört nun zur Prominenz! So was hatten wir ja noch nie!«
»Kari ist keine Riekenbürenerin.«
»Aber ihre Mutter.« Ursula Berghoff machte deutlich, dass man das nicht so genau nehmen müsse. Und dann ließ sie sich sehr ausführlich berichten, dass Kari zu Tränen gerührt gewesen war, als ihr der Ring angesteckt wurde, dass Mike Heiser vor dem Essen eine sehr emotionale Rede auf seine Braut gehalten habe, dass sogar der Ministerpräsident eine Grußbotschaft entsandt habe, in der er dem Brautpaar viel Glück wünschte, dass ein Nachrichtensprecher unter den Gästen gewesen war, mehrere Schauspieler, die häufig im Fernsehen zu bewundern waren, viele Mannequins und sogar Politiker, die beeindruckende Reden gehalten hatten.
Ursula Berghoff war tief beeindruckt. »Und ich hatte glatt gedacht, aus Kari wird nichts. Keine Ausbildung, kein Beruf und nur Schickimicki im Kopf …« Erschrocken ergänzte sie: »Also, das habe ich reden hören. Ich selbst weiß ja nicht, wie Kari bisher gelebt hat. Es wird ja so viel geschwatzt, was nicht stimmt. Jetzt jedenfalls ist sie bis ans Lebensende gut versorgt. Ohne selbst arbeiten zu müssen.«
Frida kümmerte sich wieder um den Sauerbraten, wendete ihn und goss noch etwas Wein an. Dann begann sie mit dem Kartoffelschälen.
»Brit hat es ja auch gut getroffen«, fuhr Ursula Berghoff fort. »Wie viele Cafés und Hotels besitzt ihr Mann nun eigentlich?«
Das konnte Frida nicht beantworten, wollte aber unbedingt als Insider glänzen und sich bestens informiert geben. »Mehr als ein Dutzend«, behauptete sie.
Immer wenn es um Brit ging, fühlte sich Ursula Berghoff bewogen, daran zu erinnern, dass sie ihren Eltern viele Sorgen bereitet hatte. Als Sechzehnjährige schon Mutter geworden, der Vater ihres Kindes unbekannt oder über alle Berge, das wusste Ursula Berghoff zu ihrem Bedauern nicht genau, und jahrelang, bis zu ihrer Volljährigkeit, verschwunden. Dass sie dann einen Mann geheiratet hatte, der zwar der Sohn einer unverehelichten Mutter war, aber dennoch der Erbe seines leiblichen Vaters wurde, war etwas, was nur unter Aufbietung aller emotionalen Kräfte ohne Neid zu ertragen war. Um nicht doch noch in den Sog der Missgunst zu geraten, bekräftigte Ursula Berghoff bei jeder Gelegenheit, besonders in Gegenwart des Pfarrers, dass es den Hefliks wirklich zu gönnen sei, nach all den Sorgen, die ihre Tochter ihnen gemacht habe. »Einfach wunderbar, dass aus einem gefallenen Mädchen doch noch was geworden ist!«
Es war das erste Mal, dass Frida Heflik zurückschlug, wenn auch etwas subtiler als die Berghoff. »Brit kennt sich aus mit Luxushotels. Sie fand gar nichts dabei, dass es dort vergoldete Wasserhähne gab, aber unsereins!« Frida schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. »So ein Hotel wie das, in dem Karis Hochzeit stattfand, habe ich noch nie von innen gesehen.«
Ursula Berghoff erhob sich. »Jetzt muss nur noch aus Dennis was werden«, meinte sie leichthin, während sie sich zur Tür wandte, »und Nicole die Bürogehilfinnenprüfung bestehen. Dann könnte Edward es durchaus noch mal mit dem Bürgermeisteramt versuchen. Die Hefliks wären dann in Riekenbüren sozusagen die erste Familie.« Ursula Berghoff kicherte, als hätte sie einen guten Scherz gemacht. »Vielleicht kann der Schwiegerenkel seinen Einfluss geltend machen? Schade, dass es damals nicht geklappt hat. Ich habe noch versucht, die Riekenbürener davon zu überzeugen, dass Edward der beste Bürgermeister wäre. Aber ich konnte damals ja reden, wie ich wollte …«
Damals! Über zwanzig Jahre war das jetzt her, als Brit verschwunden war, aus dem Entbindungsheim geflohen, auf sich allein gestellt und nicht bereit, Hilfe bei ihren Eltern zu suchen. Damals war aus Edwards Bürgermeisterkandidatur nichts geworden. Frida wusste, dass dieser Stachel noch immer tief in Edwards Ego saß. Wenn er auch nie darüber sprach, er hatte nicht vergessen, wem er es zu verdanken hatte, dass er die Kandidatur zurückziehen musste.