Oktober 1985, Sylt
Hajo Keller konnte sich nicht sattsehen. Es war schon die dritte Zeitschrift, die er zur Hand nahm, und in dieser war Kari am schönsten. Ihr strahlendes Lächeln, die blitzenden Augen, der Schalk, der aus ihnen heraussprühte, als wollte sie der Welt zeigen, dass das Leben nichts als ein großer Spaß war, und die Ehe sowieso! Kari! Wäre er an ihrer Seite gewesen, hätte er ihren Arm ergreifen dürfen wie Mike Heiser auf diesem Foto, hätte sie sich für ihn entschieden, wäre er über das Leichte, sogar über das Leichtlebige entzückt gewesen. So wie in jener Nacht im Saunahäuschen. Jetzt aber fragte er sich, was dahintersteckte, wenn Kari das Leben einfach nicht ernst nehmen wollte. Es war ja nicht so, dass sie über das Leben lachte oder diejenigen auslachte, die es ernst nahmen. Es war nur so, dass sie nichts an sich herankommen ließ, was sie bedrängen könnte, das große Glück ebenso wenig wie schweres Leid. Vielleicht hatte sie Mike Heiser geheiratet, weil sie ihn nicht so sehr liebte, dass er ihr jemals das Herz brechen könnte?
Hajo suchte nach einer Schere und fand sie in einer Schreibtischschublade, eine Nagelschere, eigentlich zu klein und zu krumm für das, was er vorhatte. Aber er ging vorsichtig zu Werke und schaffte es so, Karis lachendes Gesicht aus der Zeitung herauszuschneiden. Das Brautkleid, das natürlich Mike Heiser entworfen hatte, ließ er in der Zeitschrift, ein kopfloses Modell, das ohne Kari bedeutungslos geworden war.
An der Rezeption ging die Klingel, scheinbar war die Empfangsdame nicht an ihrem Platz. Hajo schob das Foto unter die Papiere auf seinem Schreibtisch und verließ das Büro.
Vor der Theke stand eine Frau in den Fünfzigern, die misstrauisch die Stirn runzelte, als sie ihn sah. »Zimmer? Zwei Personen?« Sie wies auf sich selbst und dann auf ihren Mann, der gerade die Lobby betrat. »Heute und morgen?«
»Sie möchten ein Doppelzimmer für zwei Nächte?«, fragte Hajo lächelnd. »Habe ich das richtig verstanden?«
Ihr Blick wurde noch misstrauischer. »Sie sprechen Deutsch?«
»Ich bin Deutscher, gnädige Frau.« In solchen und ähnlichen Situationen, die ihm zur Genüge bekannt waren, verhielt er sich immer besonders höflich. »Aber leider sind wir ausgebucht.«
»Die Saison ist vorbei. In anderen Hotels ist noch Platz.«
»Wir erwarten heute die Mitarbeiter einer großen Firma, die hier eine Tagung abhält. Dann sind alle Zimmer belegt.«
»Wir möchte aber im König Augustin wohnen. Das Hotel ist uns empfohlen worden.«
»Ich bedaure.«
Nun war der Ehemann an die Seite seiner Frau getreten. »Ich will Ihren Chef sprechen.«
Hajo erlaubte sich ein kleines Lächeln. »Ich bin der Chef.«
»Der Besitzer?«
»Der Geschäftsführer.«
»Dann will ich den Besitzer sprechen.«
»Der ist nicht im Haus.«
Dass Olaf Rensing ausgerechnet in diesem Auenblick ins Hotel kam, machte Hajo unruhig. Wie würde der Besitzer reagieren, wenn sich diese beiden potenziellen Gäste über den Geschäftsführer beschwerten?
Olaf merkte sofort, dass etwas im Argen lag. »Probleme?« Er blieb stehen, sah erst Hajo Keller fragend an und musterte dann das Ehepaar vor der Rezeptionstheke.
»Wir sind ausgebucht«, informierte ihn Hajo schnell. »Die Tagungsgäste, die wir erwarten …«
Olaf erinnerte sich sofort. »Wenn Sie möchten, fragt mein Geschäftsführer in einem der anderen Hotels nach, ob dort noch Platz ist.«
»Aha!« Der Ehemann baute sich vor Olaf auf. »Sie sind demnach der Besitzer des Hotels?«
»Richtig.« Hajo war erleichtert, in der Stimme seines Chefs nur noch die eiskalte Höflichkeit zu hören, die er für unangenehme Gäste bereithielt.
»Sie finden es angemessen, einen Schwarzen einzustellen? Nicht als Kofferträger, sondern als Geschäftsführer?«
»In der Tat«, antwortete Olaf mit schneidender Stimme. »Sehr angemessen! Herr Keller ist ein ausgezeichneter Mann.«
Die Frau gab ihrem Gatten einen Wink. »Ich glaube, ich will hier gar nicht mehr wohnen.« Sie griff nach dem Arm ihres Mannes, und gemeinsam schritten sie zum Ausgang. »Wir fragen im Miramar .«
»Das ist uns sehr recht.« Olaf nahm seinen scharfen Worten mit einer kleinen Verbeugung das Schroffe.
»Danke«, sagte Hajo leise, als das Ehepaar das Hotel verließ. Er war unendlich erleichtert, dass sein Chef sich so vor ihn gestellt hatte.
Olaf winkte nur ab und ging ins Büro. »Ich suche die Unterlagen für den Steuerberater …« Ehe er genau beschreiben konnte, was er brauchte, sah er sich auf Hajos Schreibtisch um. »Ich meine, ich hätte sie hier …« Er schob die Papiere nach rechts und nach links, stapelte einige übereinander, legte sie zur Seite, durchblätterte die verbliebenen ein weiteres Mal … Und ehe Hajo wirklich verstand, was Olaf Rensing da tat und was er gleich entdecken würde, lag plötzlich Karis lachendes Gesicht ganz oben auf dem Papierstapel.
Hajo bekam weiche Knie. »Ich dachte … ich sah es zufällig … und es gefiel mir so gut …«
Olaf unterband mit einer kurzen Geste seine Rechtfertigungen. »Reden Sie sich nicht um Kopf und Kragen, Hajo! Ich habe schon bemerkt, wie Sie meiner Tochter nachblicken. Und ich kann Ihnen versichern – ein Ehemann aus der Branche wäre mir erheblich lieber gewesen. Aber …« In diesem Augenblick fand er, was er gesucht hatte, und ließ den Satz unvollendet. Er machte Anstalten, das Büro wieder zu verlassen, blieb jedoch in der Tür noch einmal stehen. »Passiert Ihnen so was eigentlich öfter?« Mit einer Kopfbewegung in Richtung Rezeptionstheke machte er klar, was er meinte.
»Gelegentlich«, gab Hajo zu. »Aber nur selten. Die meisten Gäste sind beeindruckt von einem Hotelbesitzer, der kein Problem damit hat, einen farbigen Geschäftsführer einzustellen.« Leise ergänzte er: »Und ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Olaf sagte nichts darauf. Er verließ das Hotel, seine festen Schritte waren zu hören, bis die Tür quietschte und die Lobby wieder menschenleer war. Ja, dachte Hajo, ich bin ihm wirklich sehr dankbar. Hajos Adoptivmutter hatte lange versucht, ihn davon abzubringen, sich fürs Hotelgewerbe zu entscheiden. »Da hast du ständig mit Menschen zu tun«, hatte sie gesagt, »auch mit Menschen, die intolerant sind und Vorurteile haben.« Aber er hatte nicht glauben wollen, dass es Schwierigkeiten geben könnte, nur weil er eine andere Hautfarbe hatte. Hajo Keller lächelte. Und er hatte recht gehabt. Auf solche Leute wie dieses Ehepaar kam es nicht an. Entscheidend waren Menschen wie Olaf Rensing, der ihn eingestellt hatte, ohne sich zu fragen, ob es Gäste gab, die nicht ins König Augustin einziehen wollten, weil ein Geschäftsführer mit dunkler Haut sie empfing.