Oktober 1985, Sylt
Kari ging an der Wasserkante entlang, trotz des leichten Regens, trotz des Windes, der immer stärker wurde. Sie trug das, was auf der Insel »Friesennerz« genannt wurde – einen quietschgelben Regenmantel mit großer Kapuze –, dazu Gummistiefel, in die sie ihre Jeans gesteckt hatte, einen dicken Schal um den Hals und eine Mütze unter der Kapuze. So war sie einigermaßen geschützt und ließ sich gerne vom Wind durchrütteln. Einige Strandwanderer kamen ihr entgegen, sie spazierten von Kampen Richtung Wenningstedt, und manche blickten zu den Security-Leuten, die sich am Dünensaum aufgestellt hatten und jedem die Lust nahmen, einen Blick auf Mike Heisers Grundstück zu werfen. Alle schienen zu wissen, wo er lebte, die meisten hatten vermutlich in der Yellow Press von der Hochzeit in Hamburg gelesen. Die Sylter waren enttäuscht gewesen, aber Mike Heiser hatte dort heiraten wollen, wo die meisten seiner Geschäftsfreunde lebten. Es wurde auch gemunkelt, dass er seine Gäste nicht allzu nah an sein Privatleben herankommen lassen wollte, das seinen Mittelpunkt in Kampen hatte. Alles, was betrachtet, begutachtet und beurteilt werden durfte, hatte in Hamburg stattgefunden, die Flitterwochen würde das frisch gebackene Ehepaar auf Sylt verleben. Nein, verreisen wollte Mike Heiser mit seiner jungen Frau nicht, das hatte er jedem Reporter geduldig erklärt. Ihm lag nichts an teuren Reisen, er fühlte sich auf Sylt am wohlsten, und seine Frau ebenfalls. Das wussten alle, die in Kampen Urlaub machten und hofften, einen Zipfel von Mike Heiser oder seiner jungen Frau zu Gesicht zu bekommen.
Kari blieb stehen und wandte sich dem Meer zu. Es wütete an den Strand, mal hell-, mal dunkelgrau, nur ganz hinten, in der Nähe des Horizonts, gab es einen silbernen Streifen. Ein intensives Gefühl durchzog Kari, das sie zunächst nicht zu identifizieren vermochte. So durchdringend, dass es wehtat, so heftig, dass es ihr den Atem nahm. Was war das? Sehnsucht? Ja, so fühlte sich Sehnsucht an. Aber wonach sehnte sie sich? Sie musste eine Weile überlegen, bis sie eine Erklärung fand. Nach Eindeutigkeit! Früher war ihr Leben eindeutig gewesen, ihr Zuhause, ihre Eltern, ihre Aufgaben, ihre Zukunft. Das war vorbei. Dem Zuhause hatte sie den Rücken gekehrt, ihr Vater war nicht mehr ihr Vater, für ihre Aufgaben im Café hatte sie sich nie richtig begeistern können. Nun war alles noch weniger eindeutig, und sie war genauso unzufrieden wie vorher. Ihre Beziehung zu Mike hatte die Leichtigkeit verloren. Mit ihm Geschäfte zu machen war etwas ganz anderes, als seine Bekannte zu sein, seine Gastfreundschaft anzunehmen, seinen Champagner zu trinken und seine Joints zu rauchen. Was sie heute noch verband, war nun mal ein Geschäft. Kari kam sich verloren vor, wenn sie ohne Mike unterwegs war, weil sie nie ganz allein war, sondern immer mit Mikes Popularität Schritt halten musste, ständig im Kampf mit diesem unsichtbaren Begleiter. An seiner Seite war es noch schlimmer. Mike griff dann nach ihrem Arm, so hart und bestimmt, dass sie es nicht wagte, ihn abzuschütteln. Er schien immer noch unter der Sorge zu leiden, dass sie ihre Abmachung nicht einhalten könnte oder keine Lust mehr hatte, auf das zu achten, was ihm wichtig war. Jetzt, an der Wasserkante, mit dem Rücken zum Strand und dem Blick aufs Meer, ging es besser. Nur die Blicke der Security-Leute stachen in ihren Rücken, sonst achtete niemand auf sie.
Wieder zog die Sehnsucht nach dieser Eindeutigkeit durch ihren Körper, die scheinbar wichtig war, wichtiger, als sie gedacht hatte. Es war gleichgültig, ob sie heimging oder nicht, ob Mike zu Hause war oder nicht, ob sie in ihr Apartment ging oder sich im Wohnzimmer niederließ, ob sie im Pool planschte oder die Sauna anheizte. Und ob sie Mike heute oder an irgendeinem anderen Tag eröffnete, was sie soeben erfahren hatte, spielte auch keine Rolle. Wie würde er darauf reagieren? Und was, wenn die Presse davon Wind bekam? Ihre Eltern? Die Verwandten in Riekenbüren? Von da an würde sie glücklich sein müssen. Wusste sie überhaupt, wie das ging? Klar, sie hatte immer so getan, als machte es sie glücklich, in den Tag hineinzuleben und nur das zu unternehmen, was ihr Spaß machte. Aber war das Glück? Nein! Richtiges Glück war anders. Damals in der Schule, unter der Bank, hatte sie heimlich Groschenromane gelesen, zusammen mit einem Mädchen, dessen Namen sie längst vergessen hatte. Da war es immer um das ganz große Glück gegangen! Und jedes Mal war es erst nach einem langen, schweren Weg, nach viel Unglück erreicht worden. Aber das war nicht das echte Leben. Es hielt nun mal nicht für jeden ein Happy End bereit.
Eine Welle lief direkt vor ihren Füßen aus, zog sich erst zwei oder drei Zentimeter vor ihren Schuhspitzen wieder zurück. Hätte sie elegante Schuhe aus feinstem Leder an, hätte sie jetzt glücklich darüber sein können, dass sie nicht ruiniert worden waren. Vielleicht musste sie sich erst mal darüber klar werden, was Glück überhaupt war, wie es aussehen konnte und was es bewirkte.
Einer dieser aufdringlichen Reporter hatte nach ihrer Hochzeit gefragt, wann mit Nachwuchs zu rechnen sei. Es schien auf der Hand zu liegen, dass eine glückliche Braut sich nichts anderes wünschte, als bald auch eine glückliche Mutter zu werden. Seit sie sich mit Mike verlobt hatte, ging es ständig ums ganz große Glück. Und bald, wenn die Welt der Regenbogenpresse erst gemerkt hatte, was mit ihr los war, noch mehr.
Sie drehte sich um und ging langsam auf die Dünen zu. Der Securitymann, der dort Wache stand, merkte auf, stellte sich besonders breitbeinig und breitbrüstig hin und griff zu seinem Gürtel, als wollte er eine Waffe ziehen. Dann aber erkannte er Kari, und ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Hallo, Madame!«
Er trat zur Seite und ließ sie passieren, sie nickte ihm flüchtig zu. Ein schmaler hölzerner Steg führte in den Garten. Er bestand aus einer hügeligen Rasenlandschaft, mit vielen lauschigen Ecken, mehreren kleinen Sitzgruppen und niedrigen Steinbänken. Einer der Gärtner, der sich ums Unkrautjäten kümmerte, winkte ihr grüßend zu, die Haushälterin, die jeden Tag ins Haus kam, putzte die Fenster und lächelte herüber. Julian trat aus dem Büro, warf ein paar Worte über die Schulter zurück ins Haus und ging dann auf die hintere Tür der Garage zu, ohne Kari zu sehen. Mike war also im Haus. Und wie es aussah, war er allein. Das war eine gute Gelegenheit! Sie würde es ihm jetzt, auf der Stelle, sagen. Es war sinnlos, es hinauszuzögern. Warum auch? Zwar wusste sie nicht, wie Mike auf die Neuigkeit reagieren würde, aber eigentlich konnte sie sich durchaus vorstellen, dass sie ihm gefiel. Er war ein großzügiger Mann, über die unerwarteten Mehrkosten würde er lächelnd hinwegsehen …