Oktober 1985, Bremen

Die Konditorei Möllmann war noch immer das beste Café Bremens. Es hatte sich in den vergangenen zwanzig Jahren kaum verändert. Natürlich war die Einrichtung erneuert worden, aber die Tochter des Gründers hatte für die Gäste erhalten, was zum Café zu gehören schien, was ihnen ein Gefühl von Heimat verlieh. Die Farben Gelb, Orange und Braun dominierten noch immer, aber verschnörkelte Tische waren durch zierliche Nierentische und schwere Sessel durch die modernen Cocktailsessel ersetzt worden. So war dem Café Möllmann trotz dieser Erneuerungen die Gemütlichkeit erhalten geblieben, die zu einem guten Café gehörte. Viele Pflanzen, die die Sitzgruppen voneinander trennten, sorgten dafür, Bilder und Nippes in ausreichender, aber nicht zu großer Menge, tief hängende Lampen und dicke Stumpenkerzen. Das Wichtigste aber war: Der Kuchen schmeckte noch genauso gut wie vor zwanzig Jahren, die Rezepte waren allesamt an die nächste Generation weitergereicht worden.

Nicole sah sich um, als sie sich gesetzt hatte. »Hier haben Tante Brit und Onkel Olaf mal gearbeitet.«

»Ehrlich?« Dennis hatte offenbar Mühe, sich zu erinnern, was früher über diese beiden getuschelt worden war. Nicole hingegen wusste nur allzu gut darüber Bescheid, was immer noch häufig ein Thema war, zurzeit erst recht, seit Kari geheiratet hatte. Hochzeiten öffneten ja immer eine Lücke für den Blick in die Vergangenheit.

»Du hast gesagt, André würde auch kommen.«

Dennis grinste breit. »Ja, ja, gedulde dich. Er hat erst später Feierabend.«

Nicole fühlte sich ertappt und lief rot an. »Ich meinte ja nur …«

Dennis winkte ab, und Nicole wurde klar, dass ihr Bruder längst wusste, dass sie in seinen Freund verliebt war. »Ich war am Wochenende auf Sylt! Habe ich dir das schon erzählt?«

»Nein! Hast du Tante Brit und Onkel Olaf besucht?«

Dennis schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich könnte mal bei Kari nachfragen, ob sie mir aushelfen kann.«

Nicole schnappte nach Luft. »Bist du verrückt? Du hast sie angebettelt?«

»Hätte ich gerne. Die hat doch genug Kohle, warum soll die nicht einen Tausender für mich lockermachen?«

Nicole tippte sich an die Stirn. »Sag mir lieber, warum sie es tun sollte. Weil du dein Geld in die Spielautomaten steckst? Da müsste sie ja ganz schön dumm sein.«

»Ich hätte ihr natürlich einen anderen Grund genannt …«

»Hätte?«

Dennis nickte zornig. »Mir scheint, es ist leichter, bei Queen Elizabeth eine Audienz zu bekommen als bei Kari Heiser. Die Security-Leute haben mich nicht durchgelassen. Madame war nicht da. Am Abend war sie auch nicht da, am nächsten Morgen war sie ebenfalls nicht da … Sie lässt sich verleugnen, schon klar. Dabei bin ich ihr Cousin.«

Nicole betrachtete ihren Bruder kopfschüttelnd. »Vermutlich konnte sie sich denken, was du wolltest. Oder hast du vorher schon mal den Versuch gemacht, sie zu besuchen? Als sie noch keine reiche Verwandte war?«

Die Serviererin erschien und nahm ihre Bestellung auf. Nicole bat um eine heiße Schokolade und ein Stück Pflaumentorte, Dennis bestellte einen doppelten Espresso und ein Stück Frankfurter Kranz. »Du bezahlst doch, oder?«

Nicole nickte ergeben. »Aber ich werde dich nicht mehr decken, wenn du Mist baust, Dennis. Romy Wimmer hat dich auch durchschaut. Du kannst von Glück sagen, dass sie der Polizei nichts verraten hat.«

»Wieso hat sie überhaupt die Bullen gerufen?«

»So was kann man doch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen«, entgegnete Nicole empört. »Der Diebstahl ist auch im Entbindungsheim bemerkt worden. Aber noch einmal wird sie nicht schweigen.« Mit fester Stimme setzte sie hinzu: »Und ich auch nicht.«

»Du würdest mich verpfeifen?«, fragte Dennis ungläubig.

»Ja«, antwortete Nicole und wusste, dass sie es niemals übers Herz bringen würde. »Hör endlich auf, dein Geld in die Spielautomaten zu stecken und …«

Weiter kam sie nicht. André erschien neben ihrem Tisch und warf sich auf den nächsten Stuhl. »Hallo!« Er beugte sich zu Nicole und hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Du gibst einen aus?« Ehe Nicole antworten konnte, winkte er nach der Kellnerin und bestellte Schwarzwälder Kirschtorte und Kaffee.

André war Anfang zwanzig, ein Mann von gedrungener Statur und geduckter Haltung, als wollte er jederzeit zum Sprung ansetzen. Er trug die dunklen, lockigen Haare schulterlang, an diesem Tag hatte er sie mit einem Gummi im Nacken zusammengefasst. Seine Jeans war nach der neuesten Mode geschnitten, seine Lederjacke genau so speckig, dass sie äußerst lässig wirkte.

Nicoles Herz schlug schneller, und sie lächelte ihn an, als wäre ihr Adonis persönlich erschienen, aber ihr Lächeln fiel zusammen, als André sagte: »Komische Verwandte habt ihr!«

Nicole sah ihn verblüfft an. »Du warst dabei, als Dennis bei Kari geklingelt hat?«

»Geklingelt?« André lachte spöttisch. »So weit sind wir ja gar nicht gekommen. Die Kraftmeier, die da vor der Tür standen, haben uns nicht mal in die Nähe der Klingel gelassen.« Er sah Nicole an, als wäre sie schuld an der Erfolglosigkeit ihrer Unternehmung. »Ich könnte einen Job gebrauchen. Fahrer, Gärtner, so was in der Art. Aber Mike Heiser braucht angeblich niemanden, alle Stellen sind besetzt. Und da man uns zu der gnädigen Frau nicht vorgelassen hat …« Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern zog seine Handkante über die Kehle, als wollte er Kari zur Strafe umbringen. »Geld verdirbt eben den Charakter.« Er griff nach Nicoles Hand und beugte sich so nah zu ihr, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. »Kannst du uns nicht helfen? Dennis braucht Kohle und ich einen Job. In der Stiftung, in der du arbeitest, muss es doch etwas geben, was gut bezahlt wird.«

Nicole fiel es schwer, sich aus seinen Augen zu lösen. »Dennis hat einen Job«, sagte sie leise.

»Mit einem Hungerlohn«, warf Dennis ein.

»Und was ist mit mir?«, fragte André.

»Hast du denn eine Ausbildung?«, fragte Nicole zaghaft.

»Sehe ich so aus?« André griff zur Kuchengabel und machte sich über die Torte her, die inzwischen serviert worden war. »Du brauchst keine Ausbildung, wenn du Beziehungen hast. Dennis hat welche! Seine Cousine ist mit Mike Heiser verheiratet!« Wieder sah er ihr mit einem tiefen Blick in die Augen, und Nicoles Herz wurde weich. »Seine Schwester arbeitet in der Stiftung. Seiner Tante gehört die Stiftung …«

»Ihrem Mann«, korrigierte Nicole.

»Egal! Das müsste als Vitamin B doch reichen! Ich habe keine einzige Beziehung. In meiner Verwandtschaft gibt’s nur Loser.«

Sie spürte, dass Dennis ihr einen düsteren Blick zuwarf. »Nicole will uns nicht helfen, das siehst du doch.«

»Doch!«, rief sie verzweifelt. »Aber ich weiß nicht, wie!«

Ein älterer Mann trat an ihren Tisch. Mindestens Mitte siebzig war er, trug einen schwarzen Anzug, als wäre er für die Honneurs zuständig, darüber aber eine weiße Schürze, als käme er gerade aus der Backstube. Er lächelte Nicole und Dennis wohlwollend an. »Die Verwandten von Brit Rensing? Schön, dass Sie mal wieder da sind.« Dann bezog er auch André mit ein. »Was höre ich da? Sie suchen Arbeit? Verwandte von Brit und Olaf Rensing bekommen bei mir immer eine Chance.« Rudi Möllmann ließ sich an ihrem Tisch nieder, ohne um Erlaubnis zu bitten. »Olaf war mein bester Konditor. Ich habe von Anfang an gewusst, dass er es mal zu etwas bringen wird.«

»Kunststück, bei dem Vater!«, brummte André.

»Olaf wäre auf jeden Fall erfolgreich gewesen. Auch ohne Knut Augustin als Vater. Und Brit!« Seine Augen wanderten in die Ferne, sein Lächeln wurde wehmütig. »Sie hatte immer Angst, dass ihre Eltern sie finden und ihr Kari wegnehmen. Zeiten waren das!« Sein Blick kehrte in die Realität zurück, sein Lächeln wurde wieder fröhlich. »Kari war ein so süßes Ding! Und jetzt ist sie mit dem berühmtesten Designer des Landes verheiratet.« Er stand auf. »Aber das wissen Sie ja alles selbst.« Er wandte sich noch einmal an André. »Also, wenn Sie Interesse haben … In meiner Backstube ist eine Lehrstelle frei.«

André tippte sich an die Stirn, als er gegangen war, und Nicole spürte eine haarfeine Enttäuschung durch ihren Körper ziehen. »Morgens um drei aufstehen und dann kleine Brötchen backen? Der spinnt wohl.«