Januar 1986, Achim
Die Knut-Augustin-Stiftung war in Achim zu einem wichtigen Arbeitgeber geworden. Aus dem Ort kamen viele mit Fahrrädern, Autos oder auf Mopeds angefahren, die im Entbindungsheim oder im Hotel Haus für gefallene Mädchen arbeiteten, Köche, Zimmermädchen und Reinigungskräfte, Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Kinderpflegerinnen, Erzieherinnen und Hebammen. Wer fragte, warum das Hotel einen so merkwürdigen Namen erhalten hatte, erfuhr dann von der düsteren Vergangenheit des Hauses. Gerade sie hatte das Hotel bekannt gemacht. Im Speisesaal, auf den Liegewiesen, im Wellnessbereich wurde gern davon gesprochen, wie man in diesem Haus mit jungen Müttern umgegangen war, und dass Olaf Rensing im Nachbarhaus die Stiftung gegründet hatte, um minderjährigen Müttern zu helfen. Ihm ging es um wirkliche Hilfe, während damals, vor gut zwanzig Jahren, zwar von Hilfe geredet worden war, man in Wahrheit aber nur versucht hatte, eine unerwünschte Schwangerschaft schnell in Vergessenheit geraten zu lassen. Nun konnten sehr junge Mütter hier ihre Babys zur Welt bringen und bleiben, bis sie ihre Schul- oder Berufsausbildung abgeschlossen und eine Anstellung gefunden hatten. Dann erst wurden sie in ein selbstständiges Leben als alleinerziehende Mütter entlassen, auf das sie dann gut vorbereitet waren. Der Gebäudekomplex, in dem die Hotelzimmer untergebracht waren, der Speisesaal und die Küche, der Wellnessbereich und eine Reihe von Tagungsräumen, waren neu errichtet worden. Ein schlichtes, schmuckloses Gebäude, das sich auf frappante Weise vom Eingangsbereich unterschied. Wer im Haus für gefallene Mädchen wohnen wollte, durchschritt zunächst ein Stück Vergangenheit und landete dann in der modernen Zeit, wo es keine gefallenen Mädchen mehr gab, die von der Gesellschaft verstoßen wurden. Der Hotelgarten war von einer dichten Hecke umgeben und so vor Blicken geschützt. Das andere Gebäude neben dem Hotel enthielt die Entbindungsstation, die vielen kleinen Apartments, in denen die Mütter mit ihren Babys wohnten, eine Kinderkrippe, Gemeinschaftsräume und natürlich den Verwaltungstrakt, in dem Romy und Nicole arbeiteten.
Indra Wiemann war erst fünfzehn Jahre alt. Klein und zart, wie sie war, wirkte sie sogar noch jünger, obwohl sie ihr Bestes tat, durch Kleidung und Frisur so auszusehen wie eine junge Frau und nicht mehr wie ein Kind. Die Haare trug sie in einem Bob, zu ihren weiten Trägerröcken am liebsten schlichte weiße Blusen. Aber ihr Ziel verfehlte sie dennoch, sie sah trotzdem aus wie ein Kind, das viel zu früh schwanger geworden war. Ihre Eltern waren entsetzt gewesen, als sich herausstellte, was geschehen war, und hatten Indra bedrängt, das Kind abzutreiben. Allerdings vergeblich. Als sie einsehen mussten, dass es zu spät war, hatten sie ihre Tochter zwingen wollen, den Namen des Vaters zu verraten, was Indra jedoch ebenso verweigerte. Niemand hatte eine Ahnung, wer es war, dabei wollte Indras Vater unbedingt dafür sorgen, dass dieser gewissenlose Kerl, der ein Kind geschwängert hatte, zur Rechenschaft gezogen wurde. Aber je öfter er prophezeite, dass es ihm gelingen würde, diesen Mann, den Indra offenbar nach wie vor liebte, vor einen Richter zu bringen, desto weniger war Indra bereit, seinen Namen zu nennen.
Romy hatte ihr einmal erklärt, dass ihre Liebe zu dem Vater ihres Kindes und dessen Liebe zu ihr nicht strafrechtlich verfolgt werden könne, da ein Mädchen bereits mit vierzehn Jahren sexualmündig sei, aber Indra blieb dennoch dabei: Niemand sollte den Namen des Vaters erfahren. »Ich habe meine Gründe.«
Romy vermutete, dass der Mann verheiratet war und Indra nicht wollte, dass seine Familie zerstört wurde. Sie bewunderte Indra für ihre Großherzigkeit.
Die Beziehung zu ihren Eltern war schon nach wenigen Wochen zerrüttet, Indra wollte weg von zu Hause, sie hielt die vielen Vorwürfe ihres Vaters und die ständigen Fragen ihrer Mutter nicht mehr aus. Ihre Gynäkologin war schließlich mit dem Vorschlag gekommen, Indra solle in das Entbindungsheim der Knut-Augustin-Stiftung gehen, dort ihr Kind bekommen und so lange bleiben, bis sie sich in der Lage sah, allein für sich und ihr Kind zu sorgen. Vor allem sollte sie dort die Gelegenheit bekommen, nach der Geburt wieder zur Schule zu gehen und ihr Abitur zu machen.
Ihre Eltern hatten zähneknirschend zugestimmt, seitdem aber jeden Kontakt zu Indra aufgegeben. Sie hatten ihre Tochter nicht einmal nach Achim gefahren, das hatte ein Onkel erledigt, der auch der Einzige war, der Indra regelmäßig besuchte. Unter größter Geheimhaltung, das hatte er sich ausbedungen, und Romy hatte großes Verständnis dafür …
Sie ging ins Büro, wo Nicole an ihrer Schreibmaschine saß und gerade ein Blatt herausdrehte, das sie mit gekrauster Stirn kontrollierte.
Romy trat hinter sie und las kopfschüttelnd, was Nicole geschrieben hatte. Dann nahm sie einen Stift und korrigierte alle Rechtschreibfehler. Kommentarlos reichte sie ihr das Blatt zurück, und Nicole spannte eine neue Seite ein, um den Brief noch einmal zu schreiben.
»Samy Angermann ist da«, erzählte Romy, während sie an ihrem Schreibtisch Platz nahm.
»Der Onkel von Indra Wiemann?«, fragte Nicole. »Echt süß, dass er seine Nichte so oft besucht.«
»Als Einziger«, betonte Romy. »Indras Eltern haben sich noch nie hier blicken lassen.«
»Wenn das Baby da ist, werden sie kommen«, glaubte Nicole. »Hoffentlich ist Indra dann bereit, sich mit ihren Eltern auszusöhnen.«
Romy bewegte sich nachdenklich auf ihrem Drehstuhl hin und her. »Ist das wirklich nötig, dass Samy Angermann hier inkognito erscheint?«
Nicole ließ ihre geliebte Schreibmaschine im Stich und drehte sich zu Romy um. »Na klar! Samy Angermann ist prominent! Wenn die Zeitschriften herausbekommen, dass er regelmäßig bei seiner Nichte auftaucht, lungern hier ständig Reporter herum. Und Indra muss sich verstecken, wenn sie nicht permanent fotografiert werden will.«
»Das will sie nicht«, warf Romy ein.
»Ja, denn dann müsste man Angermann erklären«, fuhr Nicole fort, »was es mit seiner Nichte auf sich hat. Da würde es nur weiteren Zoff mit Indras Vater geben.«
»Und wir hätten hier jede Menge Ärger«, meinte Romy. »Im Nu würde dann auch jemand Kari entdecken …«
*
Kari stand am Fenster ihres Apartments und blickte hinaus. Ein friedliches Bild bot sich ihr, ganz anders als auf Sylt. Dort konnte sie zwar auch mit der Natur allein sein. Aber dort war es eine überbordende Natur, wilde Wasser, riesige Wellen, schwere Wolkenberge. Hier war alles ruhig und still, das Auge bekam nicht viel zu bieten. Aber gerade dieser Blick auf die weiten Wiesen, auf denen der Raureif glitzerte, tat ihr gut.
Sie hatte es in Mike Heisers Villa nicht mehr ausgehalten. Einerseits war sie in ihrer Heimat, fühlte sich aber so heimatlos und verloren wie noch nie. Ihre Eltern waren in der Nähe, aber sie schaffte es immer noch nicht, ihnen wieder so nah zu sein wie früher. Mike und Julian kümmerten sich nicht um Kari, Mike war höflich und rücksichtsvoll ihr gegenüber, während Julian Kari übersah, so gut es ging. Sie war nur ein Gast, das ließen die beiden sie spüren. Ein Gast in ihrem eigenen Zuhause – denn das sollte die Villa in Kampen jetzt für sie sein. Aber sie war nie zu Karis Zuhause geworden. Auch deshalb nicht, weil immer wieder Reporter am Strand unterhalb des Hauses auftauchten, um ein Foto von der jungen schwangeren Frau Mike Heisers zu schießen.
Aber diese Belästigungen hatten ihr schließlich in die Hände gespielt. Sie hatte Mike erklärt, dass es gefährlich war – gefährlich vor allem für ihn –, wenn ihre Anwesenheit immer wieder Reporter anlockte. »Man weiß nie, wie weit sie sich vorwagen. Am Ende sehen sie irgendwas, was dich verrät.«
Das hatte Mike nachdenklich gemacht, und so hatte er zugestimmt, als Kari den Wunsch vorbrachte, sich bis zur Geburt woanders aufzuhalten. »Aber wo?«, hatte Mike gefragt.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Kari schon eine Antwort gefunden. Und ein Anruf bei Romy Wimmer hatte gereicht. »Ich kann im Entbindungsheim in Achim unterkommen. Da ist ein Apartment frei. Und dort wird mich niemand suchen.«
Nun war sie hier, ausgeflogen aus dem goldenen Käfig, gelandet in etwas Kleinem, Schlichtem, in dem sie sich wohler fühlte als in dem Luxus, den Mikes Haus bot. Hier war sie allein, allein mit ihrem Kind, ihren Gefühlen und den Erinnerungen. Wenn sie zu einer Zukunftsperspektive finden konnte, dann hier! Sie suchte keine Kontakte, nur mit Indra hatte sie sich angefreundet. Von allen anderen jungen Müttern hielt sie sich fern, damit nicht am Ende doch durchsickerte, dass auch Kari Heiser in diesem Haus auf die Entbindung wartete. Zum Glück kam niemand auf die Idee. Wer sie von Weitem sah, stellte höchstens fest, dass sie einer Prominenten ähnlich sah. Niemand glaubte daran, dass sie es wirklich sein konnte. Außerdem hatten die jungen Mütter, die hier für eine Weile lebten, genug mit ihren eigenen Problemen zu tun. Kari blieb völlig unangefochten.
Sie wandte sich vom Fenster ab und betrachtete ihr kleines Reich, zu dem auch schon das Babybett gehörte, das sie bald brauchen würde. Sie strich sich lächelnd über den Bauch. Ach, sie freute sich auf ihr Kind. So sehr!