Januar 1986, Sylt

Brit stand vor dem Spiegel und betrachtete sich. Dann stöhnte sie auf, zog das Kleid wieder aus und suchte den Hosenanzug aus dem Schrank, den sie erst einmal getragen hatte. Aber der hielt ihrem kritischen Blick ebenfalls nicht stand. Viel zu förmlich und steif! Am Ende entschloss sie sich für eine Kombination, die sie noch nie getragen hatte, weil sie nicht zu der Rolle der gestandenen Geschäftsfrau passte, die ihr von morgens bis abends anhaftete: Ein langärmeliges Shirt, rosa, mit knallroten Sternen bedruckt, dazu einen kurzen schwarzen Rock.

Endlich war sie zufrieden, ging ins Wohnzimmer, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer der Herzklinik in Ulm. Es war ein schwerer Weg gewesen, Olaf davon zu überzeugen, sich in die Hände von Spezialisten zu begeben, aber irgendwann hatte er es eingesehen. Brit hatte für ihn einen Termin beim Hausarzt gemacht, worüber er sich mächtig geärgert hatte, und ihn sogar mit dem Auto hingefahren, weil sie Angst hatte, dass er im letzten Augenblick umkehren könnte. Den ganzen Weg hatte Olaf geschimpft und seine Frau zimperlich und überängstlich genannt. Aber als sie ihn wieder abholte, war er verändert gewesen. Das hatte sie sofort erkannt. Der Hausarzt hatte ihm sehr eindringlich klargemacht, dass er sich sofort in die Hände von Kardiologen begeben musste, wenn er wieder gesund werden wollte.

Olaf war sofort am Apparat. »Du rufst heute aber früh an. Ist was im Café? Oder im Hotel?«

»Mir war danach. Im Café geht es auch mal eine halbe Stunde ohne mich, und im Hotel kümmert sich ja Herr Keller um alles. Nein, ich habe Sehnsucht nach dir.«

Olafs Stimme wurde weich und zärtlich. »Ich auch nach dir. Nur noch eine Woche, dann werde ich entlassen. Die Ärzte sind sehr zufrieden mit mir.«

»Und dann?«

Olaf seufzte, der Unterton in Brits Stimme war bei ihm angekommen. »Natürlich muss ich dann regelmäßig Medikamente einnehmen und … Sport treiben. Viel Bewegung, spazieren gehen, schwimmen, Rad fahren, rudern.«

Brit sank der Mut. Olaf und Sport? Sobald er wieder in der Tretmühle angekommen war, würde ihn nichts anderes als das Geschäft interessieren. Das Beste würde sein, wenn sie selbst ebenfalls mit Sport begann, um Olaf zu motivieren und bei der Stange zu halten.

Sie erzählte ihm von einem Anruf des Steuerberaters, von der Kündigung einer Kellnerin und einer erheblichen Preissteigerung bei einem Lieferanten. »Es wird Zeit, dass du heimkommst und dich darum kümmerst.«

Am Ende des Gesprächs fragte Olaf nach Kari. »Hast du was von ihr gehört?«

»Sie hat einmal angerufen, es geht ihr gut.«

»Glaubst du das? Sie kann sich in diesem Entbindungsheim doch nicht wohlfühlen.«

»Warum nicht? Es hat nichts mehr mit dem Heim zu tun, wie ich es erlebt habe.«

»Trotzdem! Auf Sylt hat sie den Himmel auf Erden, das komfortable Haus, den prächtigen Garten, den ganzen Luxus, den Mike Heiser ihr bietet.«

»Aber die Reporter suchen ständig nach neuen Schlupflöchern, um in den Garten zu kommen und Kari zu fotografieren. Seit bekannt wurde, dass sie ein Kind erwartet, ist alles noch schlimmer geworden.«

»Oder stimmt etwas in der Ehe nicht?«

Dieser Gedanke war Brit auch gekommen, als Kari ihr mitgeteilt hatte, dass sie ihr Kind nicht auf Sylt, sondern im Entbindungsheim bekommen wolle. »Nein, das glaube ich nicht«, antwortete sie dennoch. »Kari ist diese Aufmerksamkeit nicht gewöhnt. Bei Mike ist das anders.« Sie hörte, dass sich in Olafs Zimmer die Tür öffnete und ihn jemand ansprach. »Besuch?«, fragte sie.

»Nein, das Abendessen«, entgegnete er. »Ich muss runter in den Speisesaal. Schrecklich, diese frühen Essenszeiten!« Er lachte leise. »Gute Nacht, Oma.«

»Schlaf gut, Opa.«

Sie lächelte noch, als sie ins Badezimmer ging, um sich zu schminken und ihre Frisur zu richten. Gut, dass sie Olaf nicht hatte belügen müssen. Es war ein Unterschied, ob man seinem Ehemann etwas verschwieg, oder ob man ihn belog. Oder? Sie wurde unsicher. Nein, wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass der Unterschied so gering war, dass er nicht ins Gewicht fiel. Sie würde sich an diesem Abend mit Arne treffen, mit dem Mann, den sie immer noch tief in ihrem Herzen ihre große Liebe nannte, Karis Vater, von dem Olaf glaubte, dass er vor vielen Jahren ums Leben gekommen war. Dass er noch lebte, hatte sie ihm verschwiegen, und nun unterschlug sie erneut etwas, was für Olaf große Bedeutung hätte, wenn er davon wüsste. Warum hatte sie ihm damals nicht die ganze Wahrheit gesagt? Die Antwort auf diese Frage konnte sie ohne Zögern geben. Sie hatte sich darum gesorgt, dass Olaf nicht damit fertiggeworden wäre, dass Karis Vater noch lebte. Oder hatte sie diese Erklärung für sich selbst gefunden, um jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen? Wäre sie von Olaf gefragt worden, hätte sie geantwortet: »Für mich ist Arne gestorben, nur deshalb habe ich nichts davon gesagt, dass er noch lebt.«

Diesen Satz hatte sie sich schon vor Jahren zurechtgelegt. Ein Beweis dafür, dass die Wahrheit nicht auszusprechen war? Aber wie sah sie denn aus, diese Wahrheit? Das fragte sie sich, während sie das Haus verließ und auf den Eingang des Hotels zusteuerte. Die Antwort fand sie erst, als sie Arne in der Bar an der Theke sitzen sah. Nein, sie fand sie nicht, sie wurde von ihr gefunden. Die Antwort griff nach ihr, zerrte sie heran, ließ ihr keine Wahl. Sie lautete: »Er ist nach wie vor die Liebe meines Lebens.« Und Olaf? Liebte sie ihn etwa nicht? »Doch, ich liebe ihn auch«, flüsterte sie vor sich hin. »Aber anders …«

Sie machte es wieder so wie früher, als sie ein Kind, ein junges Mädchen gewesen war. Ihre Beine übernahmen den Namen des Menschen, der ihr am wichtigsten war, oder das Problem, das sie am meisten bedrängte. »Ar – ne, Ar – ne!« Links, rechts, beide Schritte gleich kräftig. Bei »O – laf« war es anders, dann hatte sie immer links kräftiger ausgeschritten als rechts. Aber am Ende, als sie Arne das letzte Mal gesehen hatte, waren aus den beiden Schritten »Ar – ne« zwei unbedeutende geworden, zwei leichte Schlenderschritte, die auf kein Ziel zuführten. Nur zwei Schritte, die etwas hinter sich ließen. Sie war dankbar, dass sie sich wieder daran erinnerte. Nun wusste sie wieder, dass die Schritte, die zu Arne führten, sie nicht vorwärts brachten.

Er stand auf, als er sie bemerkte, und sah ihr entgegen. Erinnerungsbilder schossen durch ihren Kopf. Arne, wie er mit ihrem Kleid dastand, das er ihr am Strand gestohlen hatte, Arne, der mit ihr an der Wasserkante entlanglief, Arne, der das schöne Plätzchen in den Dünen gefunden hatte, und schließlich Arne, der sie mitnahm in das Haus seiner Tante, in seine Kammer, die er dort bewohnte, mit dem unbequemen schmalen Bett. Hatte dieser Arne noch etwas mit dem gemein, der jetzt vor ihr stand?

Er zog sie kurz in seine Arme, mit Händen, die noch so sanft wie damals waren, hauchte ihr einen Kuss auf beide Schläfen, wie man Bekannte begrüßte, die keine langjährigen Freunde waren.

Er rückte ihr den Barhocker zurecht und fragte sie, was sie trinken wolle. »Ein Cocktail?«

Brit musste nicht lange überlegen. »Kullerpfirsich«, entschied sie.

Hinter ihnen waren mehrere der kleinen Tische besetzt, das war in der verspiegelten Rückwand der Bar zu erkennen. Geschäftspartner, die sich nach einer kräftezehrenden Verhandlung entspannen wollten, Paare, die den Tag hier ausklingen ließen oder sich in der Bar des König Augustin verabredet hatten, um später das Nachtleben von Westerland zu genießen.

Nun erst stellte Brit fest, dass es Hajo Keller war, der hinter der Theke stand. »Nanu?«, wunderte sie sich. »Der Geschäftsführer persönlich mixt uns die Drinks?«

Hajo lächelte verlegen. »Ernest fühlte sich nicht gut, da habe ich ihn nach Hause geschickt. An der Rezeption ist zurzeit nichts los, da kann ich ohne Weiteres hier den Abend verbringen.«

»Ihren Feierabend sollten Sie eigentlich in privater Atmosphäre genießen«, sagte Brit.

Aber Hajo wehrte ab. »Das Hotel ist mein Leben. Noch habe ich keine Wohnung gefunden, ich bleibe also sowieso im Hotel, bis morgen meine nächste Schicht beginnt. Da kann ich genauso gut an der Bar stehen, als in meinem Hotelzimmer in den Fernseher zu starren.«

Brit beglückwünschte sich heimlich zu diesem Geschäftsführer. Und sie dachte daran, wie Olaf ihr gestanden hatte, dass er Hans-Josef Keller nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hätte, wenn ihm vorher aufgefallen wäre, dass er von dunkler Hautfarbe war.

Sie rückte so weit wie möglich von Arne ab. Bis Hajo Keller ihr das Glas mit dem Kullerpfirsich hingestellt und Arne ein zweites Pils serviert hatte, redeten sie über das Wetter, dass die ersten Herbststürme zu erwarten seien, aber dennoch viele Touristen auf der Insel waren. Erst als Hajo sehr beschäftigt war, als er in schneller Folge weitere Drinks mixen und an den Tischen servieren musste, fragte Brit: »Warum bist du nach Sylt gekommen?« Und mit einem bitteren Unterton ergänzte sie: »Als wir uns das letzte Mal hier gesehen haben, bist du vor mir davongelaufen. Warum also bist du heute zurückgekommen?«

»Ich mache mir Sorgen um Kari.«

Bisher hatte Brit ihm nicht ins Gesicht gesehen, hatte nur in sein Spiegelbild gesprochen, das sie hinter unzähligen Flaschen und Gläsern erkennen konnte. Jetzt rückte sie noch weiter von ihm ab, damit sie ihn anblicken konnte. »Was weißt du von Kari?«