Januar 1986, Riekenbüren

Es war viel los im Zentrum von Riekenbüren. Das fiel Kari auf, obwohl sie lange nicht bei der Familie ihrer Mutter gewesen war. In ihrer Erinnerung war es um das Haus herum stets menschenleer gewesen, immer war die Schreinerei von der Sonne beschienen worden, gelegentlich von Glockengeläut garniert. Still war es nie gewesen, denn auf dem Platz vor der Schreinerei war immer das Hämmern und Sägen zu hören, das aus der Werkstatt drang. Aber das hätte niemand Lärm genannt, diese Arbeitsgeräusche gehörten zum ruhigen Leben in Riekenbüren dazu. Und selbstverständlich brachen sie Tag für Tag pünktlich ab, wenn die Arbeiter Feierabend machten, und waren am Wochenende, vornehmlich am Sonntag, niemals zu hören. In Riekenbüren, fand Kari, war die Welt in Ordnung. Am Morgen hatte sie noch gezweifelt, ob es eine gute Idee gewesen war, sich bei den Großeltern anzumelden, doch jetzt, als sie in den Ort hineinfuhr, freute sie sich, dass sie sich dazu entschlossen hatte. Dass es nicht so ruhig und menschenleer wie in ihrer Erinnerung war, spielte keine Rolle.

Ursula Berghoff hatte ihren Mann angewiesen, das neue Jahr mit einer guten Tat zu beginnen und das Schild der Bushaltestelle, die der Schreinerei von Edward Heflik gegenüberlag, von den Farbresten zu befreien, die irgendwelche Schmierfinken dort hinterlassen hatten.

»Man muss sich engagieren«, erzählte sie jedem, der vorbeikam und sich wunderte.

Ihr Mann wunderte sich nicht. Erst recht nicht darüber, dass seine Frau ihn nicht alleine ließ, während er sich für die Gemeinde engagierte, er kannte seine Ursula ja schon lange. Sie brauchte ihm auch nicht zu sagen, dass er sich trotz der Kälte Zeit lassen solle, denn ihm war klar, dass Ursulas Idee sinnlos verpufft wäre, wenn er mit seinem Engagement für Riekenbüren fertig gewesen wäre, bevor Kari Heiser vorfuhr, um ihre Großeltern zu besuchen. Diese Kunde hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet.

Auch der Presbyterin war etwas eingefallen, ebenfalls trotz der Kälte. Sie kam auf die Idee, die Stufen, die zur Kirchentür hochführten, endlich einmal gründlich zu reinigen und von Moos und Flechten zu befreien. Das dauerte lange. Denn sie wurde häufig unterbrochen und sah sich immer wieder genötigt, ihren Mitbürgern zu erklären, dass man jetzt schon daran denken müsse, wie schnell der Frühling hereinbräche. Und dann sei ja bekanntlich keine Zeit mehr für solche Reinigungsarbeiten, dann war so viel anderes zu tun. Dass die Nachbarn, die ihr für diese Weitsicht Bewunderung zollten, lange stehen blieben und mit weißer Atemluft vor dem Mund sehr ausführlich über alles Mögliche plaudern wollten, immer mit Blick auf die Schreinerei, verwunderte natürlich niemanden. Es staunte auch kein Mensch darüber, dass der Postbote, dessen Postfahrrad schon seit Langem quietschte, auf die Idee kam, es ausgerechnet an diesem Tag und direkt vor der Schreinerei näher in Augenschein zu nehmen und mit anderen zu beratschlagen, was gegen das hässliche Geräusch zu unternehmen sei.

Kari bemerkte nicht, dass Ursula Berghoffs Mann aufhörte, an dem Schild der Bushaltestelle herumzureiben, dass seine Frau sich auf die Haustür der Hefliks zubewegte, dass die Presbyterin nicht mit dem Säubern der Treppe weitermachte und der Postbote die Helfer, die sich um sein Rad kümmern wollten, abwehrte. Sie stellte ihr Auto vor dem Haus ab, den knallroten Aston Martin, der in Riekenbüren wie eine Bombe einschlug, und seufzte.

»Ein Rennwagen«, staunte Ursula Berghoff und hörte nicht auf ihren Mann, der ihr erklären wollte, dass sie sich irrte. »Ich glaube, ich muss mal nachsehen, ob Christoph Hilfe braucht. Nicht dass er neben der Schranke einschläft und sich dann ein Camper bei Halina beschwert«, verkündete Ursula Berghoff bestimmt.

Seit Wintercamping in Mode gekommen war, blieb der Campingplatz das ganze Jahr über geöffnet, sogar an den Weihnachtstagen, da es immer mehr Camper gab, die es vorzogen, ihr Weihnachtsfest fernab von Familienfeiern, Fressgelagen und Geschenkorgien zu verbringen.

Ihr Sohn war noch nie neben der Schranke eingeschlafen, nicht einmal während dieser Januartage, an denen die Weihnachtscamper abgereist waren und kaum neue in Riekenbüren erschienen. Aber Ursula Berghoffs Mann seufzte nur, weil er wusste, dass es sinnlos war, seine Frau zurückzuhalten. Sie würde einen Weg finden, sich den Hefliks und ihrem attraktiven Besuch so weit wie möglich zu nähern.

*

Kari schnallte sich ab, blieb aber noch im Auto sitzen und starrte das Haus an, in dem ihre Mutter aufgewachsen war. In den letzten Jahren hatte sie kein einziges Mal das Bedürfnis verspürt, hier einen Besuch zu machen, aber nachdem sie sich in dem Entbindungsheim eingerichtet hatte, dachte sie öfter an Riekenbüren und ihre Verwandten und war schließlich zu dem Entschluss gekommen, sich zu einem Besuch anzumelden. Seit sie in Mike Heisers Haus lebte, kam sie sich entwurzelt vor. Sie hatte angenommen, dort eine neue Heimat zu finden, bei Mike ein Zuhause zu bekommen, aber es war nicht geglückt. Die Villa in Kampen war ein Ort geblieben, in dem sie zu Gast war, mehr nicht. Mike kümmerte sich nicht um sie, Julian zeigte ihr seine Geringschätzung Tag für Tag, und seit er wusste, dass sie schwanger war, noch mehr. Ziemlich schnell war ihr klar geworden, dass sie sich in eine Sicherheit geflüchtet hatte, die keine Obhut bot. Auf wirtschaftliche Sicherheit konnte sie sich verlassen, auf gesellschaftliche Sicherheit auch, aber es gab kein Gottvertrauen mehr, das ein Mensch in sich selbst fand oder eben in seiner Familie.

Familie! Das war das Wort, das sie nach Riekenbüren gelockt hatte, nun war es ihr klar. Ein Wort, das auf Sylt, im König Augustin , wenn es in den Mund genommen wurde, immer wieder einen anderen Klang erhielt, mal zynisch, mal bitter und nachdenklich, dann wieder mit einer Stimme voller Glück. Die Familie, die aus Brit, Olaf und Kari Rensing bestand, war für Kari immer über jeden Zweifel erhaben gewesen. Ihre Mutter betonte bei jeder Gelegenheit, wie stolz sie auf ihre kleine Familie sei, und ihr Vater hatte ihr dann jedes Mal zugestimmt. Ihr Vater? Familie? Was waren sie denn für eine Familie gewesen? Alles Lüge! Und die Familie in Riekenbüren? Kari wusste, dass ihre Mutter verstoßen worden war, als sich ihre Schwangerschaft herausstellte. Sie war in das Haus für gefallene Mädchen geschickt worden, in dem sie schlecht behandelt worden war, in dem sie arbeiten und Buße tun musste, beides bis zur Erschöpfung. Trotzdem sollte sie dort ihr Kind bekommen und es direkt nach der Geburt zur Adoption freigeben. So war es von ihr verlangt worden. Von ihrer Familie! Kari fror jedes Mal, wenn sie sich fragte, wo sie gelandet wäre, wie ihre Zukunft ausgesehen hätte, wenn der Plan ihrer Großeltern aufgegangen wäre. Familie? Schöne Familie! Ein letztes Mal fragte sie sich, warum sie diese Menschen eigentlich besuchen wollte.

Auf der Seite ihres Vaters, ihres Adoptivvaters, sah es nicht viel besser aus. Seine Familie hatte lange nur aus seiner Mutter bestanden, die mittlerweile verstorben war, komplett war sie erst geworden, als sein leiblicher Vater Knut Augustin seinen Erben verloren hatte und seinen unehelichen Sohn an dessen Stelle setzte. Kari konnte nicht verstehen, dass Olaf sich damit abgefunden hatte, von der Ersatzbank geholt zu werden, und seinem Vater sogar dankbar dafür war. Er hatte ihn geliebt, in der kurzen Zeit, die den beiden geblieben war, hatte er gelernt, ihn trotz allem zu lieben. Noch heute ging er häufig zum Friedhof und besuchte sein Grab. Ein Sohn, der mit Almosen glücklich gemacht werden konnte! Seit Kari diese Geschichte kannte, war die Liebe zu ihrem Vater löchrig geworden, Seichtigkeit hatte wie Motten daran gefressen. Wie konnte man glücklich darüber sein, etwas hingeworfen zu bekommen, was eigentlich einem anderen hatte zustehen sollen? Steckte dahinter auch der Begriff Familie? Wenn das so war, dann wollte Kari nichts mit Familie zu tun haben. Dennoch war sie jetzt hier, in Riekenbüren, bei Menschen, mit denen sie das Wort Familie verband. Und es war ganz anders, als gute Bekannte oder gar Freunde zu besuchen. Zur Familie zu kommen bedeutete, gar nicht weggegangen, immer da gewesen zu sein, auch wenn man sich jahrelang woanders aufgehalten hatte. Dieser Gedanke gefiel ihr, und sie verwarf den Vorsatz wieder, die Großeltern oder Onkel und Tante nach ihrem leiblichen Vater zu fragen. Mit diesem Vorsatz war sie in Achim losgefahren, aber je näher sie ihrer Familie gekommen war, desto weiter war er von ihr abgerückt. Diese Frage zu stellen würde bedeuten, mit Vorwürfen hier aufzutauchen. Niemand würde ihr glauben, dass es darum nicht ging, dass sie nur wissen wollte, wer dieser Klassenkamerad war, um die Möglichkeit zu bekommen, ihren leiblichen Vater zu suchen und kennenzulernen. Dass sie es wirklich tun würde, glaubte sie zu diesem Zeitpunkt nicht, aber es schien wichtig zu sein, gelegentlich diese Möglichkeit im Auge zu haben. Doch sie wusste, dass es falsch sein würde, bei diesem ersten Besuch seit langer Zeit mit Fragen zu kommen, die ihr vermutlich den Zugang zum Kern ihrer Familie verwehren würden. Vielleicht später mal …

Kari öffnete nun endlich die Fahrertür, stieg aus und holte ihren dicken Wintermantel vom Rücksitz. Mit einer abwesenden Geste strich sie sich über den gewölbten Bauch, nachdem sie ihn übergezogen hatte. In welche Familie wurde ihr Kind hineingeboren? Sie bestand aus einer Mutter, einem Vater, der es nur auf dem Papier war, und einem Erzeuger, der unbekannt war. Ihre Mutter wusste wenigstens, dass Karis Vater ein Klassenkamerad war, dessen Namen sie vergessen hatte. Sie selbst konnte sich nicht einmal erinnern, dass etwas geschehen war, was zur Zeugung ihres Kindes geführt hatte.

Zwei bis drei Jahre noch! So lange musste sie durchhalten. Vielleicht würde es ja leichter, wenn sie nicht mehr allein in Mikes Villa lebten, sondern zusammen mit ihrem Kind. Mit der Einsamkeit, die sie dort gequält hatte, würde es dann ein Ende haben.

Nicht einmal am Heiligen Abend hatte Mike sie eingeladen, sich mit ihm und Julian unter den riesigen Weihnachtsbaum zu setzen, den er im Wohnraum hatte aufstellen lassen. »Du feierst ja sicherlich bei deinen Eltern.«

Kari hatte nicht geantwortet, und er hatte keine Antwort erwartet. Nein, Kari war nicht zu Brit und Olaf gegangen, die beiden rechneten damit, dass das junge Ehepaar das Fest in trauter Zweisamkeit verbringen wolle, und hatten beteuert, dass sie Verständnis dafür hätten und sich auf keinen Fall aufdrängen wollten.

»Vermutlich möchtet ihr auch nicht zum Weihnachtsessen am ersten Feiertag zu uns kommen?«

Brit hatte Karis Antwort gar nicht abgewartet. Nein, nein, sie könne ihre Tochter verstehen, Weihnachten feierte man, wenn man frisch verheiratet sei, am liebsten in den eigenen vier Wänden. Vielleicht würde im nächsten Jahr alles anders sein, wenn ein kleines Kind unter dem Weihnachtsbaum herumkrabbelte …

Mike hatte gar nicht gemerkt, dass Kari am Heiligen Abend im Haus geblieben war, ganz allein in ihrem Apartment, und am ersten Feiertag auch. Am Abend des zweiten Feiertags war sie tatsächlich versucht gewesen, zu ihren Eltern zu fahren, sich dort ein wenig Familienleben, Wärme und Zuwendung zu holen. Bisher hatte sie Weihnachten immer mit ihren Eltern verlebt, auch in den letzten Jahren, als sie ihnen zu allen anderen Feiertagen einen Korb gegeben hatte. Zur Weihnachtsparty in Mikes Haus war sie nie gegangen. Aber in diesem Jahr war alles anders. Der Vater, der bisher immer den Baum in einen Ständer gestellt und die Beleuchtung angebracht hatte, war nicht mehr ihr Vater, nur ein Mann, der sie an Kindes statt angenommen hatte. Ein Vater, der sie liebte, daran hatte sie nach wie vor keinen Zweifel, aber dennoch ein Mann, der sie jahrelang belogen hatte. Genau wie ihre Mutter. Nein, die beiden hatten es verdient, an den Weihnachtstagen Kari in der Heiser-Villa glücklich zu wissen. Vielleicht hatten sie sogar heimlich darauf gehofft, eine Einladung zum spießbürgerlichen Weihnachts-Kaffeetrinken zu erhalten. Aber darauf konnten sie lange warten. Und vermutlich warteten sie nicht einmal darauf – das Café König Augustin war während der Feiertage natürlich geöffnet, die beiden würden, statt zu Hause ihre Tochter zu vermissen, die Feiertage im Café sein, dort waren sie ja sowieso am liebsten.

Kari klingelte an der Haustür, aber es rührte sich nichts. Wie gut, dass Ursula Berghoff zur Stelle war, die Kari darüber informierte, dass ihre Großeltern mittlerweile auf dem Altenteil lebten. »Hier wohnen jetzt die jungen Hefliks.«

Kari war peinlich berührt. Das wusste sie doch, wenn sie es auch im Moment vergessen hatte. »Klar, aber natürlich möchte ich nicht am Eingang meines Onkels vorbeigehen, ohne zu klingeln.«

»Vergebene Liebesmüh«, bekam sie zu hören. »Hasso ist natürlich in der Schreinerei und Halina auf dem Campingplatz, da werden die Sanitärhäuser renoviert. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr. Ich wollte sowieso nach meinem Sohn sehen, der arbeitet nämlich für die Hefliks auf dem Campingplatz …«

»Aber ich …«

»Frida wartet bestimmt schon auf Sie. Sie beginnt mit dem Warten ja immer schon eine Stunde vorher. Früher konnte sie vom Küchenfenster aus sehen, wer kam, aber jetzt gehen ihre Fenster ja nach hinten raus.« Ursula Berghoff ging Kari mit energischen Schritten voran. »Nicole und Dennis sind auch da, vermutlich auf dem Campingplatz. Da ist es lustiger als in der Küche ihrer Oma.«

Kari folgte der Frau wie hypnotisiert. Bisher war sie immer durch die Schreinerei gegangen, in der es auch im Winter warm gewesen war. Ihrer Mutter nach, die jedes Mal vorangegangen war. Sie war dann wieder zum Kind in ihrer Familie geworden, bis zu dem Moment, in dem sie ihre Eltern begrüßt hatte. Anschließend wurde sie steif und förmlich, dann schien sie dieser Familie nicht mehr angehören, sondern nur noch Besuch sein zu wollen. Aber Kari hatte natürlich jedes Mal gemerkt, dass es nicht gelang. Ihre Mutter war wieder glücklich über irgendwelche Erinnerungen, die Kari unbedeutend erschienen, und dann kreuzunglücklich, wenn eine Erinnerung in die Zeit fiel, in der sie sechzehn gewesen war und unbedingt etwas hatte erleben wollen. Mittlerweile wusste Kari, warum das so war. Alles, was an die Klassenfahrt nach Sylt erinnerte, veränderte die Stimme ihrer Mutter, die dann kalt und herrisch wurde, die Gestalten der Großeltern schrumpften vor Karis Augen zusammen, und Hasso und Halina wollten auf der Stelle besonders fröhlich sein. Das waren immer die Augenblicke gewesen, in denen Kari sich vornahm, Riekenbüren zu meiden, sobald sie über ihr Leben und ihre Zeit selbst bestimmen konnte. Diesen Vorsatz hatte sie in die Tat umgesetzt, aber nun war sie doch wieder hergekommen. Aus Pflichtgefühl, wie sie sich einredete, weil die Großeltern schon alt waren und man ihnen den Fehler, den sie gemacht hatten, verzeihen musste. Aber nun, während sie hinter Ursula Berghoff herging, gestand sie sich ein, dass sie nicht nur deshalb gekommen war, sondern weil hier ihre Familie lebte, weil hier ihre Mutter aufgewachsen war, weil sich hier deren Zukunft entschieden hatte und Karis auch. Und weil sie hier vielleicht den Namen ihres Vaters erfahren konnte. Aber diesen Gedanken schob sie erneut zurück. Nicht heute!

Ursula Berghoff führte sie ums Haus herum auf den Hof der Schreinerei, zu dem kleinen Garten, den Frida mit großer Freude hegte und pflegte und der sowohl von dem Wohnhaus, in dem jetzt Hasso mit seiner Familie lebte, als auch vom angebauten Altenteil zu betreten war. In der Haustür standen Frida und Edward Heflik, feierlich aufgestellt, als sollten sie zu einer kirchlichen Zeremonie abgeholt werden.

Eine Stunde später war die ganze Familie versammelt. Hasso hatte die Werkstatt seinen Gesellen anvertraut, Halina die Aufsicht über den Campingplatz Christoph Berghoff, Nicole hatte eher Feierabend machen dürfen, und Dennis erschien als Letzter am Kaffeetisch, als seine Oma den Kaffee schon eingoss und den Apfelkuchen verteilte. Aber Vorwürfe bekam er nicht zu hören, denn ihm war es gelungen, Ursula Berghoff daran zu hindern, sich ebenfalls an die Kaffeetafel zu mogeln. Eine Meisterleistung! Kari wollte sich nicht wohlfühlen, nahm sich vor, alles kleinlich und unangenehm penibel zu finden – weil ihre Oma so schrecklich spießig war und unter die Kaffeetassen ein Spitzendeckchen legte, weil ihr Opa gegen alles wetterte, was modern erschien oder einen englischen Namen hatte, weil ihr Onkel gegen alles anlachte, von dem er glaubte, dass es Kari missfallen könnte, seine Frau grundsätzlich Karis Meinung war und für alles Verständnis haben wollte, was in Karis Leben anders war als in ihrem, weil Nicole ihre Cousine anglotzte, als wäre sie von einem anderen Stern gekommen, und Dennis sich darum drängte, ihr Sahne auf den Kuchen zu tun und ihr Zucker und Milch hinzuschieben, obwohl sie sich schon an beidem bedient hatte. Das alles wollte Kari unter gar keinen Umständen gefallen. Aber sie kam nicht dagegen an, es dennoch schön, anheimelnd, lustig, urgemütlich und sogar vertraut zu finden. Und tatsächlich blieb es dann auch nicht so. Die Riekenbürener hatten an diesem Tag viel zu staunen …

Dann nämlich erschien Romy Wimmer, uneingeladen, total überraschend, ohne dass es jemand geahnt hatte. Und mit ihr Mike Heiser und ein Tross an Fotografen, die in Riekenbüren einfielen wie König Attila mit seinen Hunnen, der diejenigen, die sich ihm unterwerfen mussten, sicherlich ebenso überrascht hatte. Kari sah den Ereignissen zu, fassungslos, sprachlos. Mittlerweile bemühte sich auf dem Dorfplatz zwischen Schreinerei und Kirche niemand mehr darum, so zu tun, als hielte er sich zufällig dort auf, keiner machte aus seiner Neugier einen Hehl. Die Presse in Riekenbüren, mein Gott! Und dann noch ein Wagen, aus dem Fernsehkameras gehoben wurden! Lieber Himmel! Ursula Berghoff wollte es übernehmen, Mike Heiser den Weg zu seiner Frau zu zeigen, aber dummerweise hatte einer der Schreinergesellen schon früh Wind von der Invasion bekommen und seinen Chef von der Kaffeetafel aufgeschreckt. Hasso trat vor die Tür und fragte mit donnernder Stimme, wer Einlass begehrte und warum. Kari dagegen hielt sich im Hintergrund.

Hassos Hausherrenbass wurde leiser, als er Mike Heiser erkannte, seine Fäuste, die er in die Seiten gestemmt hatte, fielen herab. Kari beobachtete, wie Romy es übernahm, Hasso zu erklären, dass sie Mike Heiser hergeführt habe, der eigentlich nach Achim gekommen war, weil er glaubte, seine Frau dort vorzufinden. Es sollte eine kurze Episode gedreht und fotografiert werden, erklärte Romy, die zeigte, wie rührend sich der Stardesigner um seine schwangere Frau bemühte und wie sehr sich die beiden auf ihr erstes Kind freuten. Auch diese Idee war offenbar spontan entstanden. Kari war bereits nach Riekenbüren aufgebrochen, als Romy telefonisch die Invasion angekündigt worden war. Als Mike zu hören bekommen hatte, dass Kari bei ihrer Familie in Riekenbüren war, hatte er sich höchst erfreut gezeigt. Ein Besuch bei den Großeltern eignete sich bestens für seine Zwecke.

Jetzt endlich machte Kari einen Schritt vor und begrüßte ihren Mann, wie eine junge Frau ihren Ehemann zu begrüßen hatte. »Das ist ja eine Überraschung.«

Die Erklärungen, die Mike ihr präsentierte, ließ sie an sich vorüberrauschen, sie hatte ja schon gehört, was Romy Hasso erläutert hatte.

»Sie haben mich unter Druck gesetzt«, flüsterte Mike, als sie im Haus waren und nicht mehr belauscht werden konnten. »Natürlich hätte ich ihnen nicht verraten, wo du bist, aber ich habe mich am Ende bereit erklärt, ein paar Fotos mit den Bremer Stadtmusikanten zu machen. Als Gegenleistung habe ich verlangt und zugesichert bekommen, dass man nicht nach dir suchen wird.« Er seufzte tief auf, dann erlaubte er sich ein zufriedenes Lächeln. »So muss man heutzutage mit der Presse umgehen. Ob man in Ruhe gelassen wird oder nicht, das ist alles ein Geschäft.«

Kari beschwerte sich nur kurz, dann sah sie ein, dass an dieser Sache nichts mehr zu ändern war. Sie war überrumpelt worden, aber wenn sie sich nun sträubte, würde alles noch schlimmer. Also zog sie sich in Nicoles Kinderzimmer zurück, um sich dort für die Fernsehaufnahmen zu schminken, Mike folgte ihr und schloss die Tür fest hinter sich.

»Wie geht’s dir?«

»Alles bestens, danke.«

»Die Öffentlichkeit hat geschluckt, dass du dich irgendwohin zurückgezogen hast, um deine Ruhe zu haben.«

»Prima. Habe ich doch gleich gesagt.« Kari suchte sich aus Nicoles Schminkutensilien Wimperntusche, Lippenstift und Concealer heraus. »Und warum diese plötzlichen Fernsehaufnahmen? Wir sind allein, jetzt kannst du mir alles sagen.«

Mike ließ sich auf die Kante von Nicoles Bett sinken. »Beim Fernsehproduzenten scheint es immer noch Zweifel zu geben. Ich habe Julian gesagt, dass ich auf der Stelle mit ihm Schluss mache, wenn ich rausbekomme, dass er an irgendeiner Stelle irgendwelche Andeutungen gemacht hat.«

Kari drehte sich zu ihm um. »Du bist hier, um eindeutig zu beweisen, dass du heterosexuell bist?«

Mike nickte. »Dass du schwanger bist, ist wirklich eine großartige Sache. Aber niemand sollte herausbekommen, dass du in diesem Entbindungsheim bist.« Er runzelte die Stirn. »Muss das wirklich sein? Warum kommst du nicht zurück nach Sylt?«

»Du weißt doch, diese Presseheinis schrecken nicht davor zurück, bis auf deine Terrasse zu kommen.«

»Ich habe weitere Sicherheitsleute eingestellt.«

»Besser ist es, wenn allgemein bekannt ist, dass ich nicht auf Sylt bin. Dann versucht keiner, auf dein Grundstück zu gelangen. Dann bekommt auch keiner etwas zu sehen, was dich verraten könnte.« Kari begann mit dem Wimperntuschen. »So ist es am sichersten. Und glaubhaft ist es auch.«

»Und wenn das Kind da ist?«

»Dann machen wir eine Foto-Session, und das war’s. Danach wird sich die Presse wieder beruhigt haben.«

Mike stand auf und ging zur Tür. »Also gut. Nehmen wir deine Familie auch mit aufs Bild?«

»Wenn sie wollen. Glaube ich aber nicht …«

Romy wollte unbedingt und erwähnte immer wieder, dass sie durchaus zur Familie gehöre, wenn sie auch nicht blutsverwandt mit Kari sei. Frida und Edward machten Anstalten, sich im Badezimmer einzuschließen, als die Bitte an sie herangetragen wurde, sich mit Kari ablichten zu lassen. Hasso und Halina allerdings waren bereit und Nicole ebenfalls. Nur Dennis war urplötzlich verschwunden, angeblich wollte er mit diesen Frauenzeitschriften nichts zu tun haben. »Da muss man sich ja schämen, wenn man in so einem Käseblatt zu sehen ist.«

So durften Hasso und Halina sich am Ende darüber freuen, dass sie kostenlose Reklame für ihren Campingplatz bekommen hatten. Kari wurde gefilmt, als sie eigenhändig die Schranke zum Campingplatz öffnete, Ursula Berghoff stupste ihren Sohn an, damit er sich nicht komplett verdrängen ließ, und sie selbst mogelte sich flugs neben die Schranke, als Christoph auch nach langem Zureden nicht bereit war, sich dort von einer Fernsehkamera aufnehmen zu lassen.

Am Ende schien die Öffentlichkeit, die schon glaubte, Kari Heiser sei vom Erdboden verschluckt worden, zu wissen, wo sie sich aufhielt. Bei ihren Großeltern, um täglich mit ihnen Kaffee und Kuchen zu essen, und bei Onkel und Tante, um ihnen auf dem Campingplatz zu helfen, wenn sie jemanden brauchten. Dass ihr Mann sie häufig bei den Großeltern besuchte, wurde nicht explizit erwähnt, das mussten sich die Leser denken. Was sie dann auch taten. Als die Fotos in der Regenbogenpresse erschienen und der kurze Film in einer Vorabendberichterstattung zu sehen war, verzeichnete Riekenbüren einen großen Zulauf an Fremden, die sich im Ort umsahen. Der Campingplatz hatte zum Frühlingsanfang keinen einzigen freien Platz für ein Zelt oder einen Wohnwagen mehr. Ursula Berghoff vermietete sogar ihr Schlafzimmer und zog mit ihrem Mann für ein paar Tage in den Keller, wo sie auf ausrangierten Matratzen nächtigten. Der Wirt des Dorfkrugs dachte schon darüber nach, über der Gaststube ein paar Fremdenzimmer einzurichten, da der ausgebuchte Campingplatz ja bewies, wie gut der Tourismus in Riekenbüren zu integrieren war. Aber dort wohnte dummerweise eine Familie, die partout nicht bereit war, dem Fremdenverkehr in Riekenbüren zu weichen.