Januar 1986, Riekenbüren
Halina kam mit der Zeitschrift zu ihren Schwiegereltern. Frida fiel sofort auf, dass sie diesmal darauf verzichtet hatte zu klopfen, wie sie es sonst tat. Frida ließ sofort die Arbeit sinken. Offenbar gab es etwas Wichtiges oder besonders Aufregendes.
Da kam es auch schon. »Habt ihr es schon gelesen?« Halina blätterte die Reportage vor Fridas Augen auf, die am Tisch saß und Kartoffeln schälte, und winkte Edward, der gerade die Küche betrat, heran. »Schaut euch das an!« Sie hielt die Zeitschrift hoch und las mit ausdrucksstarker Stimme: »Die Familie meiner Mutter, zu der ich engen Kontakt habe!« Halina lachte. »Komisch nur, dass wir das bisher gar nicht gemerkt haben, oder?«
Die Tür klappte, Hasso kam dazu. »Ich habe mit Brit telefoniert. Sie hat mir erzählt, dass Kari inzwischen die Wahrheit erfahren hat. Brit und Olaf mussten es ihr sagen, weil sie für die Hochzeit das Familienstammbuch brauchte. Da steht drin, dass Olaf nicht ihr leiblicher Vater ist.«
Frida nickte bedrückt und ließ den Blick nicht von den Fotos, die ihre hübsche Enkelin zeigten. »Ich habe es mitbekommen. Ich hatte große Angst, dass sie auf ihren leiblichen Vater zu sprechen kam, als sie uns besuchte.«
Hasso sah verlegen aus, als er sagte: »Brit fand es besser, ihr nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Sie hat was von einem Mitschüler erzählt, von dem sie nicht einmal mehr den Nachnamen kennt.«
»Gut so!«, warf Edward ein. »Ich hätte nicht gern zugegeben, dass wir damals auf Knut Augustin reingefallen sind.«
Halinas Stimme wurde scharf. »Willst du sagen, nur Knut Augustin wollte, dass Brit ins Haus für gefallene Mädchen zieht? Nur ihm war daran gelegen, dass euer Enkelkind adoptiert wird, damit niemand erfährt, was passiert war?«
Frida sah ihren Mann an, gespannt darauf, was er antworten würde, aber er schwieg. Er blickte auf seine Hände und sagte kein einziges Wort. Und Frida machte es genauso.
*
Hajo hatte Kari im Fernsehen gesehen. Er hatte mit der Frühschicht begonnen und schon am späten Nachmittag Feierabend machen können, war in sein Hotelzimmer gegangen und hatte von einem Sender zum anderen geschaltet. Aus purer Langeweile. Er musste endlich eine Wohnung finden. Die Freizeit in diesem Hotelzimmer war unerträglich. Mitten in diesem Gedanken traf ihn Karis Bild, ihr lachendes Gesicht, ihre Stimme. »Nur meine Familie ist in dieser Zeit wichtig …«
Sie sprach von ihrem Mann, der sie häufig besuchte, von ihren Eltern und der Familie ihrer Mutter in Riekenbüren.
Hajo saß auf seiner Bettkante und starrte auf die Mattscheibe. Der Bericht war nur kurz, Mike Heiser selbst kam noch zu Wort, dann wurden ein paar Bilder gezeigt, von dem Campingplatz, den Karis Tante verwaltete, von der Schreinerei, die ihr Onkel übernommen hatte.
Hajo stand auf, machte zwei, drei schwerfällige Schritte zum Fenster und wieder zurück, dann ging er zur Minibar und goss sich einen Brandy ein. Er musste unbedingt herausfinden, wann das Baby auf die Welt kommen sollte. Aber was dann? Was sollte geschehen, wenn er es wusste? Und was vor allem sollte geschehen, wenn das Kind geboren worden war? Nichts! Der Ortsname, der in der kurzen Fernsehreportage genannt worden war, ging ihm durch den Kopf. Riekenbüren! Er verließ sein Zimmer und machte sich auf den Weg zu der kleinen Hotelbibliothek, in der es auch Reiseliteratur und Straßenkarten gab …
*
Romy war mit der Zeitschrift zu Kari gegangen und blätterte sie nun vor ihr auf. »Was sagst du dazu?«
»Habe ich schon gesehen«, antwortete Kari und fuhr fort, sich die Fingernägel zu lackieren. »Nun weiß endlich jeder, dass ich nicht mehr auf Sylt bin, weil ich dort ständig von Paparazzi belästigt werde.«
Das sagte sie so spöttisch, dass Romy sie fragend anblickte. »Ist das etwa nicht der Grund?«
»Doch, doch, natürlich. Aber was geht das die Leute an?«
»So ist das eben, wenn man zu den Promis gehört.«
»Sobald das Kind auf der Welt ist, hört das hoffentlich auf.«
Romy wies dezent auf ein Foto, auf dem auch sie zu sehen war. »Ich hätte vielleicht doch das rote Kleid anziehen sollen?«
Kari warf nur einen flüchtigen Blick auf das Bild. Dass Romy es geschafft hatte, auf ein Foto zu kommen, hatte sie auch schon gesehen, aber dass ein rotes Kleid besser gewesen wäre als die dunkle Hose mit dem gelben Shirt, wollte sie nicht bestätigen.
Romy sah ein, dass außer ihr niemand in Begeisterung zu versetzen war, weil sie auf einem Foto in der Yellow Press zu sehen war. »Du bist hier übrigens nicht die einzige Prominente.« Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. Nebel hing über dem weiten Rasen, der sich hinter dem Entbindungsheim erstreckte, sämtliche Bäume waren entlaubt, die Gärtner kehrten die letzten Blätter zusammen und häuften sie in einen Schubkarren.
Nebenan weinte ein Kind, kurz darauf drang der beruhigende Singsang einer jungen Mutter durch die Wand. Das Baby wurde prompt ruhiger, das Geschrei wurde zu einem Nörgeln, das bald im Schlaf untergehen würde. Romy drehte sich um und betrachtete Kari, die sich noch immer mit ihren Fingernägeln beschäftigte. Dann verriet sie, um welchen Prominenten es sich handelte: »Samy Angermann«.
Endlich sah Kari auf. »Der Schlagerstar?«
Romy nickte. »Er ist der Onkel von Indra. Der Einzige ihrer Familie, der sich um sie kümmert.« Sie sah sich in dem kleinen Apartment um, als wollte sie kontrollieren, ob es gut geputzt war. Zwei Zimmer besaß jede Wohnung, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer für Mutter und Kind. Die Räume waren hell möbliert, mit einem blaugrauen Teppichboden und dunkelblauen Polstermöbeln ausgestattet worden. Hier konnte man sich wohlfühlen. Und die jungen Mütter, die hier lebten, waren allesamt froh, später aus diesem Haus ins Leben einer alleinerziehenden Mutter zu starten.
»Dass es dir hier gefällt!« Romy schüttelte den Kopf. »In Mikes Villa ist es tausendmal schöner.«
»Ansichtssache«, gab Kari zurück, lackierte ihren letzten Nagel und flatterte dann mit den Händen herum, damit der Lack schnell trocknete.
»Ist die Villa ein goldener Käfig für dich geworden?«, fragte Romy, die stolz auf diese psychologische Erklärung war.
Kari zuckte mit den Schultern, sie schien aber mit dieser Begründung zurechtzukommen.
»Du hättest auch zu deinen Eltern zurückkehren können.«
Kari lachte. »Dann hätte in allen Zeitschriften gestanden, dass meine Ehe gescheitert ist. Nein, so ist alles gut. Ich habe mich an einen unbekannten Ort zurückgezogen, um der kranken Aufmerksamkeit von Fotografen und Reportern zu entgehen, das ist glaubhaft. Und Mike hat seine Story«, sie zeigte auf die Zeitschrift, die Romy ihr hingelegt hatte, »mit den Fotos seiner schwangeren Frau, die ihre Großeltern in irgendeinem Kaff besucht. So passt alles wunderbar zusammen.«
»Aber wenn das Kind da ist, ziehst du wieder nach Kampen?«, fragte Romy.
»Natürlich.«
Romy sah erleichtert aus. »Ich könnte es auch nicht länger verantworten, dass eine Frau wie du auf Kosten der Stiftung hier lebt. Dass du bis zur Geburt in diesem Apartment wohnst, ist schon schwierig genug. Ich musste einer anderen jungen Mutter absagen, die die Wohnung gern gehabt hätte.«
»Ich bleibe nicht länger als nötig, versprochen. Auch hier muss ich ja aufpassen, dass mich niemand sieht. Wenn die anderen merken, dass hier eine Frau ein Kind kriegt, für die sich die Presse interessiert, geht’s mir am Ende in Achim genauso wie auf Sylt.«
Nicole trat ein. »Hier bist du! Im Büro wartet ein Ehepaar auf dich, das seine Tochter bei uns unterbringen will.« Ihr Blick ging von Romy zu Kari. »Alles okay?«
»Wir sprechen gerade darüber«, sagte Romy, »wie wichtig es ist, über Karis Anwesenheit hier zu schweigen.«
»Klar.« Nicole nickte. »Mir scheint aber, dass Indra Wiemann etwas mitbekommen hat.«
Romy war alarmiert. »Wie kommst du darauf?«
Aber Kari winkte ab, ehe Nicole antworten konnte. »Das ist meine Schuld. Ich habe sie mal im Garten getroffen. Da hat sie unter einem Baum gesessen und geweint. Ich konnte nicht einfach weitergehen und so tun, als hätte ich sie nicht gesehen. Aber sie wird dichthalten.«
»Woher willst du das wissen?«
»Wir haben festgestellt, dass wir beide ähnliche Probleme haben. Indra will nicht, dass jemand den Namen ihres Geliebten erfährt, ich will nicht, dass die Presse mitbekommt, wo ich bin. So was verbindet. Und eine Hand wäscht die andere. Sie wird mich nicht verraten, und ich werde sie nicht verraten.«
Romy krauste die Stirn. »Das heißt … du weißt, wer der Vater von Indras Kind ist?«
Kari war nun mit dem Zustand ihrer Fingernägel zufrieden und hörte auf, mit den Händen zu wedeln. »Irgendwann muss so was ja mal raus. Das Mädchen ist fünfzehn. Indra musste sich jemandem anvertrauen. Bei mir hatte sie das Gefühl, dass sie es mal rauslassen konnte.«
»Und?« Romy beugte sich neugierig vor.
Aber Kari lachte nur. »Keine Chance! Von mir erfährst du kein Wort.«
Romy hätte sicherlich noch länger insistiert, wenn Nicole nicht zu drängeln begonnen hätte. »Komm, Romy, die Leute warten schon eine Weile.«
»Darüber reden wir noch«, warf Romy zurück, ehe sie Karis Apartment verließ.
»Gib dir keine Mühe«, rief Kari ihr nach. »Du erfährst es sowieso nicht.«
*
Brit stand am Bahnhof und sah dem einfahrenden Zug entgegen. Über sich aschgrauer Himmel, zerrissene Wolken und Möwen, die wie Spielbälle des Windes über den Himmel gejagt wurden. Sie wartete, bis der Zug kreischend zum Stehen gekommen war und die ersten Türen sich öffneten. Dann ging sie langsam auf den Wagen der ersten Klasse zu. Dort half ein Bahnbeamter einem Passagier, der viel Gepäck dabeihatte. Olaf! Groß und stark, wieder strahlend, wieder tatkräftig. Er breitete seine Arme aus, als er Brit bemerkte, und drückte sie an sich, als sie hineingeflogen war. »Wieder zu Hause«, flüsterte er.
Gemeinsam schoben sie den Gepäckwagen durch die Bahnhofshalle, als Olaf plötzlich stehen blieb und in der Jackentasche nach seinem Portemonnaie suchte. »Warte einen Augenblick, ich will schnell eine Zeitschrift besorgen.«
Brit beobachtete ihn, wie er an die Kasse trat, die Zeitschrift bezahlte und ein paar Worte mit dem Verkäufer wechselte. Ihr Olaf! Was war sie froh, ihn wieder an ihrer Seite zu haben!
Als er zurückkam, hielt er ihr ein Exemplar der Yellow Press entgegen. »Die habe ich unterwegs bei einem Mitreisenden gesehen. Da steht ein Bericht über Kari drin.« Er schob den Gepäckwagen Richtung Ausgang, vor dem die Taxen warteten. »Als er zur Toilette gegangen ist, habe ich ihn kurz überflogen. Kari war in Riekenbüren, bei deinen Eltern.«
Brits Miene verdüsterte sich. »Du hättest die Zeitschrift nicht kaufen müssen. Ich habe sie auch schon besorgt.«
»Kann Kari in Riekenbüren den Namen ihres Vaters erfahren haben?«
Unter diesem Gedanken litt Brit, seit sie den Bericht gelesen hatte. »Meine Eltern reden auf keinen Fall freiwillig über Arne Augustin. Dann müssten sie auch zugeben, dass sie sich später Knut Augustin gefügt haben, weil er mit viel Geld winkte.«
»Und Hasso?«
»Ich habe ihn angerufen.«
»Er wird den Mund halten?«
Brit nickte. »Er findet es auch besser, wenn Kari nicht die ganze Wahrheit erfährt.«
Olaf sah Brit an, als könnte er ihr nicht glauben. »Lass uns noch mal überlegen, ob es nicht doch besser wäre …«
»Nein, Olaf!« Brit blieb neben dem Taxi stehen, bis der Fahrer das Gepäck verladen hatte. »Es ist besser so.«
Olaf seufzte, während er Brit beim Einsteigen half. »Gut, dass Karis Vater nicht mehr lebt«, murmelte er, »und von dort wenigstens keine Probleme kommen können.«
Brit sah geradeaus und tat so, als hätte sie diesen Satz nicht gehört. Nein, sie wollte nicht, dass Kari die ganze Wahrheit erfuhr. Sie wollte nicht erklären müssen, wie das gewesen war mit Arne und ihr, wie groß ihre Liebe zu ihm gewesen war und wie gewaltig ihre Enttäuschung. Es sollte vorbei sein. Das hatte sie auch Arne erklärt. Es musste vorbei sein! Wenn Kari den Namen ihres leiblichen Vaters kannte, würde er am Ende auch ihr Vater sein wollen. Sie hatte doch gespürt, wie sehr er sich mit dem Leben seiner Tochter beschäftigte. Und schon gar nicht durfte Olaf wissen, dass Arne noch am Leben war … Es war vorbei!
»Vorbei«, flüsterte sie. Es musste vorbei sein! Arne Augustin und Kari Rensing hatten nichts miteinander zu tun. Dabei sollte es bleiben.
*
Das Carar öffnete seine Türen. Das Personal war auf Posten, die Küche auf alles vorbereitet, an der Theke wurden die Gläser poliert. Alles wie immer. Die Putzfrauen kontrollierten ein letztes Mal die Waschräume, ebenfalls wie immer. An diesem Tag war eine zusätzlich bestellt worden, weil zu erwarten war, dass Schneematsch und Feuchtigkeit in die Räume getragen wurden, die zwischendurch unbedingt entfernt werden mussten. Es wurden die Gäste eines hochrangigen Politikers und die muntere Partygesellschaft eines Jazzpianisten erwartet.
Carsten erschien an der Theke, wo Arne gerade den Getränkebestand kontrollierte. »Hast du den Artikel über Kari gelesen?«
Arne tat so, als wollte er sich nicht stören lassen. »Nein, aber ich habe den Fernsehbericht gesehen. Das reicht. Hier wie dort wird nur Schönfärberei betrieben.«
»Woher willst du das wissen?«
Arne antwortete nicht. Er spürte Carstens misstrauischen Blick auf sich ruhen und gab sich allergrößte Mühe, ihn zu ignorieren. Schließlich fuhr er Carsten an: »Was guckst du mich so an?«
Carsten sprach sehr leise. »Ich hatte dich gebeten, nicht zu Brit zu fahren.« Er unterband mit einer herrischen Geste die Rede, zu der Arne ansetzte. »Erzähl mir nichts. Du warst bei ihr. Neulich, als du unbedingt ein paar Tage Urlaub brauchtest.«
Arne merkte, dass jedes Leugnen zwecklos war. »Sie ist meine Tochter. Es ist normal, dass ich mich um sie sorge. Die Ehe mit Mike Heiser ist ein Fehler, ich bin mir sicher.«
»Kari ist erwachsen. Und sie scheint nicht zu denen zu gehören, die in ein Unglück rennen, weil sie weltfremd sind. Sie wird die Gerüchte über Mike Heiser kennen. Vermutlich weiß sie genau, dass es nichts als Gerüchte sind.«
»Und dass sie aus seiner Kampener Villa geflohen ist?«
Carsten lachte hämisch. »Väter! Sie ist nicht vor ihrem Mann, sondern vor unverschämten Paparazzi geflohen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil …« Arne nahm eine Flasche Campari aus dem Regal, putzte sinnlos daran herum und stellte sie zurück.
»Weil du es nicht glauben willst?«
»Ach, lass mich in Ruhe, Carsten!« Arne ging in einen der Gesellschaftsräume und ließ seinen Freund stehen. Natürlich hatte Carsten recht, das wusste er selbst. Und dass Carsten ihn durchschaute, wusste er auch. Sein Freund sorgte sich um ihn, weil er wusste oder zumindest ahnte, dass er Brit immer noch liebte und dass er über seine Tochter den Weg in ihr Herz zurückfinden könnte.
Arne ging in den kleinen Hof, in dem er mit Kari gesessen und geredet hatte. Stimmte das? Wollte er zurück zu Brit? War das überhaupt möglich? Würde sie sich für ihn entscheiden und gegen Olaf, wenn es hart auf hart kam? Er merkte, dass er den Kopf schüttelte. Nein, warum sollte sie? Er hatte sie bisher nur enttäuscht, während Olaf für sie immer ein Fels in der Brandung gewesen war, verlässlich, charakterstark, pflichtbewusst. Der Sohn, den Knut Augustin hatte haben wollen, der Ehemann, der für Brit der Richtige war. Ganz fest nahm er sich vor, sie niemals wieder zu kontaktieren und Karis Leben nur noch aus der Ferne zu betrachten. Nie wieder würde er sich den beiden nähern. Nie wieder!