Februar 1986, Achim
Es schneite. Dicke Flocken taumelten zur Erde, kleine kreiselnde, schwebende ließen sich hochwirbeln und schienen nicht genug bekommen zu können vom Tanz mit dem Wind. Die Natur hatte in Frost und Eis den Atem angehalten und stieß ihn erst jetzt, in diesem Schneegestöber, wieder aus. Farben gab es nicht, die Welt war grau-weiß geworden. Nur Indras rote Mütze und Karis grüne Jacke kolorierten das Bild. Zwei bunte Punkte, die gelegentlich hinter dem Flockenschleier verschwanden und ihn dann wieder jäh zerteilten.
Sie bewegten sich langsam voran. Nicht nur, weil ihre Leibesfülle ihnen nichts anderes mehr möglich machte, sondern auch, weil die Langsamkeit zu diesem Lebensabschnitt zu gehören schien. Kari jedenfalls wusste, dass sie auch während eines leuchtenden Frühlings- oder eines farbenprächtigen Sommertages so langsam gegangen wäre. Dieses Zeitmaß passte zu dem Leben, wie sie es zurzeit führte. Die Erwartung eines großen Ereignisses hatte ihr Leben langsamer gemacht, und sie genoss es, sich diesem neuen Takt anzupassen. Ihr früheres Dasein war von ihr weggerückt, es hatte sich nicht zurückgezogen, sie hatte es nicht weggeschoben, es war ihr noch nah, lag aber hinter einem transparenten Vorhang, zum Greifen nah, aber zum Glück geschützt. Es gehörte noch zu ihr, würde aber Erinnerung werden, schon bald, das stand bereits jetzt fest, es würde nicht überdauern.
»Warum hast du dich in Drogen geflüchtet?«, fragte Indra.
Eine einfache Frage, zu einfach, um darauf eine einfache Antwort zu finden. »Ich … hatte alles so satt.«
»Was?«
Kari begann zu stottern. »Ständig wollten meine Eltern was von mir, was ich nicht wollte.«
Indra schien sich über diese Antwort zu wundern. »Rauschgift ist doch keine Lösung.«
»Das weiß ich inzwischen auch«, antwortete Kari gereizt. Manchmal ärgerte es sie, dass dieses große Kind neben ihr mit seinen schlichten Lösungen lebenserfahrener zu sein schien als sie selbst. »Du scheinst ja immer genau zu wissen, was du willst.«
»Ich will mein Kind. Und ich will den Mann, den ich liebe.«
»Dein Kind wirst du bekommen. Aber den Mann …?«
»Den auch. Ich muss nur warten.«
Kari blieb stehen, um Indra ansehen zu können. Sofort drang die Kälte in ihre Füße, ihre Hände, ihren ganzen Körper. Trotzdem wollte sie jetzt Indras Gesicht sehen. »Bis du achtzehn bist?«
»Sechzehn. Das reicht.«
»Ich habe mich schlau gemacht …«
Indra unterbrach sie mit einer Handbewegung und ging weiter. »Das hat Frau Wimmer auch. Sie hat mir bereits erklärt, dass ein Mädchen schon mit vierzehn sexualmündig ist.«
Kari war bald wieder an ihrer Seite. »Na also!«
»Es geht nicht nur darum. Ich weiß, dass man uns juristisch nichts anhaben kann. Aber es würde einen Skandal geben. Meine Eltern würden dafür sorgen.«
Kari schwieg nun. Auch Indra setzte das Gespräch nicht fort. In schweigender Übereinkunft machten sie bei der nächsten Gelegenheit kehrt und bewegten sich wieder auf das Entbindungsheim zu, das sich allmählich aus dem Schneegestöber schälte und Gestalt annahm. »Es wird bereits getuschelt«, sagte Indra. »Ich bin schon öfter gefragt worden, ob die Frau, mit der ich gelegentlich spazieren gehe, etwa Kari Heiser ist.«
Kari erschrak. »Es wird mir doch keine von denen die Presse auf den Hals hetzen?«
»Ich habe behauptet, du heißt Tanja Böttcher.« Erklärend fügte sie hinzu: »So hieß eine Kindergartenfreundin, zu der ich den Kontakt verloren habe.«
Kari bedankte sich. »Zum Glück dauert es ja nicht mehr lange, bis ich zurückziehen werde.«
Indra nickte. »So richtig verstehe ich immer noch nicht, dass du lieber hier entbinden willst, statt auf Sylt.« Hastig ergänzte sie: »Klar, die Paparazzi! Aber … vielleicht hängt es auch mit dem Vater deines Kindes zusammen? Ich meine … mit dem wirklichen Vater?« Indra hatte unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren, dass Mike Heiser nur auf dem Papier der Vater sein würde. »Lebt er auf Sylt? Wolltest du weg von ihm?«
Kari zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, wo der wohnt. Ich weiß ja nicht mal, wer er ist. Aber egal. Das Kind wird mir gehören, nur mir.« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, seinetwegen bin ich nicht hier.«
Über Indras Gesicht ging ein Lächeln. »Du freust dich auf das Baby?«
»Ja.« So deutlich und schlicht hatte Kari es noch nie herausgebracht. »Ja.«
Indra griff nach Karis Hand, die durch die dicken Fäustlinge gar nicht zu spüren war. »Ich freue mich auch auf mein Kind.«
»Du bist verdammt jung.«
»Trotzdem.«
»Ich bin gespannt, wer von uns als Erste ans Ziel kommt. Wie wär’s mit einer Wette?«
Plötzlich lachten sie beide laut auf. So hatten sie auch gelacht, als sie feststellten, dass die Ärztin ihnen denselben Geburtstermin ausgerechnet hatte.
»Die wenigsten Babys richten sich nach dem vorausgesagten Termin.«
Als sie dem Entbindungsheim näher kamen, sahen sie, dass eine große dunkle Limousine aufs Haus zufuhr und vor dem Eingang hielt. Samy Angermann stieg aus, sah nur kurz nach rechts und links und stieg dann die Treppe zum Eingang hinauf. Er schien sich im Schutz des Schneegestöbers sicher zu fühlen. Keine Fans, die ihn erkennen konnten, keine Autogrammsammler, keine Fotografen. Kari verstand nicht, wie jemand für diese Schlagermusik und damit für den Sänger Samy Angermann schwärmen konnte, aber Tatsache war, dass er eine große Fangemeinde hatte, dass ihm die Frauen zu Füßen lagen, dass ihm Groupies folgten, dass es schwer für ihn war, sich unerkannt irgendwo aufzuhalten. Bisher war es ihm gut gelungen, in Achim nicht entdeckt zu werden. Romy Wimmer half ihm zum Glück dabei. Sie und auch Nicole Heflik waren jedes Mal gerührt, wenn Samy Angermann auftauchte und Indra damit bewies, dass sie von ihrer Familie nicht ganz und gar im Stich gelassen worden war. Kari hatte sogar das Gefühl, dass Romy ein Auge auf Samy Angermann geworfen hatte. Aber scheinbar hatte sie bisher keinen Erfolg bei ihm gehabt.