Februar 1986, Bremen
Nicole Heflik war glücklich. Endlich durfte auch sie an diesem Gefühl naschen, von dem ihr schon oft erzählt worden war. Bisher kannte sie nur die Sehnsucht danach, aber nicht ihre Erfüllung. Nun jedoch wusste auch sie, was es bedeutete, wenn es in der Bauchgegend kribbelte, wenn eine wohlige Wärme durch den ganzen Körper zog, wenn aus den vielen Zweifeln fröhliche kleine Gewissheiten wurden. Sie dachte nicht mehr daran, dass ihr Hintern zu dick war, ihre Beine unproportioniert, die Haare zu dünn, um daraus eine der modernen Föhnfrisuren zu machen, und ihre Augen zu ausdruckslos. An diesem Tag hatte sie ihre Wimpern zum ersten Mal getuscht. Den blauen Lidschatten, eine Neuerwerbung, hatte sie jedoch gleich wieder von den Augen gewischt. Das war dann doch zu viel! André musste nicht gleich auf den ersten Blick erkennen, dass dieser Tag ein besonderer für sie war. Nicole hatte schon mitbekommen, dass ein Mann nicht merken durfte, wie verliebt ein Mädchen war. Diejenigen, die immer lässig blieben und so taten, als verschenkten sie ihre Gunst nur zögernd, waren viel begehrter. Romy verteilte ständig solche Weisheiten. Sie nannte sich eine Expertin in Sachen Liebe und gab ihrer jungen Kollegin gern Tipps, wie sie sich verhalten sollte, wenn ein Mann auftauchte, und wie sie ihren Modestil verändern konnte, damit sie attraktiver wurde. Lange hatte Nicole an ihren Lippen gehangen, aber irgendwann war ihr aufgegangen, dass Romys Bemühungen, wenn es um ihre eigene Person ging, allesamt nicht von Erfolg gekrönt wurden. Vielleicht wusste sie doch nicht so gut Bescheid, wie sie vorgab? Auch Romy wollte von einem Mann begehrt und geliebt werden, aber sie nahm stets die Falschen aufs Korn, das hatte Nicole erkannt. Samy Angermann zum Beispiel! Er hatte bisher nur mit freundlicher Höflichkeit auf Romys Avancen reagiert. Nein, Nicole hörte nicht mehr auf Romy Wimmer, sondern hatte beschlossen, nur noch ihren eigenen Instinkten zu vertrauen. Romys großer Schatz an Erfahrungen steckte vielleicht doch nur in einer viel zu großen Truhe, in der ein paar Theorien herumkullerten und an eine Reihe von Erinnerungen anstießen, die die Kiste jedoch bei Weitem nicht ausfüllten.
Sie machte pünktlich Feierabend und erwähnte Romy gegenüber nichts davon, dass sie mit einem Mann verabredet war. Sie wollte nichts hören von Romys guten Ratschlägen, die sie nur verunsichert hätten. Nein, Nicole schaffte es, ohne erkennbare Regung zu ihrem kleinen Fiat zu gehen und loszufahren, als wäre ihr Ziel Riekenbüren, wo sie ihrer Mutter auf dem Campingplatz oder ihrer Oma in der Küche helfen würde, weil sie sonst unter Langeweile gelitten hätte. Ein Gefühl des Triumphes überkam sie, als sie Richtung Bremen fuhr und lächelte, weil sie sich allen überlegen fühlte, die keine Ahnung hatten, was sie plante. Nicole Heflik hatte ein Rendezvous! Tja, wer hätte das gedacht?
Sie hatten sich im Café Möllmann verabredet, und Nicole war entschlossen, diesmal nicht die Rechnung zu übernehmen. Dennis war ja nicht dabei, der seine Schwester immer gern anpumpte. André hatte ihr am Telefon erzählt, dass Dennis mit Henk unterwegs war, einem neuen Freund von Dennis, den Nicole bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte. Sie mochte ihn nicht und war froh, dass Dennis und Henk nicht auch im Café Möllmann zu erwarten waren.
Alles verlief so, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie war zwar pünktlich – zu pünktlich, wie sie sich erschrocken sagte, als sie auf den Eingang des Cafés zuging – aber André wartete bereits auf sie. Da hatte sich also ein Tipp von Romy bewahrheitet. Ein Mann, der mit einer Frau verabredet war, hatte früher da zu sein, mindestens eine Viertelstunde. Und die Frau hatte sich zu verspäten. Nun, das war Nicole nicht gelungen, die dazu neigte, immer zu früh zu sein, besonders wenn es um etwas Wichtiges ging. Und die erste Verabredung mit einem Mann war schließlich etwas Wichtiges!
André sah ihr bei der Begrüßung sehr tief in die Augen und hielt ihre Hand länger als nötig. Kaum hatte sie sich niedergelassen, fragte er, was er für sie bestellen dürfe, und ergänzte ihren Wunsch nach Kakao und Pflaumenkuchen ganz selbstständig um ein Glas Sekt. Wahnsinn! Nicole war entzückt.
Herr Möllmann trat auch diesmal an ihren Tisch. »Fräulein Heflik! Schön, Sie wiederzusehen! Wie geht’s zu Hause? Haben Sie in letzter Zeit mal was von Brit und Olaf gehört? Und wie geht’s Kari? Mein Gott, wenn ich noch an das süße kleine Mädchen denke! Und nun ist sie die Frau eines berühmten Mannes! Wer hätte das damals gedacht?«
Nicole gab einen kurzen Bericht und war dankbar, als Herr Möllmann sich zurückzog. Als die Kellnerin zwei Gläser Sekt servierte, verstand auch der Cafébesitzer, dass hier zwei Menschen saßen, die ungestört sein wollten.
André griff nach Nicoles Hand. »Schön, dass wir mal allein sind.«
Nicole merkte, dass ihr der Schweiß ausbrauch, dass sie puterrot anlief und ihre Lippen zitterten. Aber André schien es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er war vollkommen verändert, nicht mehr so lümmelhaft wie in Dennis’ Gegenwart, und bei Weitem nicht mehr so prahlerisch. Jetzt war er nur ein junger Mann, der versuchte, sich einer Frau von der besten Seite zu zeigen. Er sprach von beruflichen Plänen, von einem Freund, der eine Kfz-Werkstatt eröffnen und ihm einen Ausbildungsplatz anbieten wollte, wenn es so weit war. Und er erkundigte sich nach Nicoles Arbeit, die er angeblich sehr interessant fand. »Büroarbeit!« André verdrehte die Augen. »Ich brächte keinen Satz ohne Rechtschreibfehler zu Papier.«
Nicole gestand ihm, dass es ihr nicht besser ging, dass sie einfach unfähig war, einen Text zügig zu lesen, und dass es ihr beim Schreiben immer wieder passierte, dass sie Buchstaben und Silben ausließ oder vertauschte. Nun konnte sie sogar sagen, was sie sonst wenn eben möglich umging: dass sie auf eine Sonderschule geschickt worden war, nachdem sie in der Hauptschule zum zweiten Mal die Versetzung in die nächste Klasse nicht geschafft hatte. »In allen anderen Fächern war ich ganz gut. Nur im Lesen und Schreiben …«
»Und trotzdem willst du Bürogehilfin werden?«
Nicole wurde verlegen. »Ich habe mir immer gewünscht, in einem Büro zu arbeiten. Aber diese Ausbildungsstelle habe ich natürlich nur bekommen, weil der Mann meiner Tante mich eingestellt hat. Vorher hatte ich nur Absagen erhalten.«
»Aber wie willst du die Abschlussprüfung bestehen?«
Diese Frage wurde Nicole auch in ihrer Familie oft gestellt, von ihrem Großvater verständnislos, von der Oma voller Sorge, von Dennis kopfschüttelnd und von ihren Eltern mit einem tiefen Seufzen. Sie rechneten nicht damit, dass Nicole jemals eine Bürogehilfin mit abgeschlossener Ausbildung werden würde, sie hofften nur darauf, dass ihre Tochter weiter in der Knut-Augustin-Stiftung ihre Arbeit haben und ihr Geld verdienen würde.
Über Andrés Gesicht zog ein Lächeln, das Nicole glücklich machte. Bisher war es meistens ein verächtliches Grinsen gewesen, mit überheblicher Miene, und seine Gesten hatten immer etwas Herablassendes gehabt. Trotzdem hatte sie sich in ihn verliebt. Und dass sie jetzt einen ganz anderen André kennenlernte, schien ihr der Beweis zu sein, dass sie sich nicht in ihm getäuscht hatte. Offenbar zeigte er ihr nun, was sie längst geahnt hatte: dass er eigentlich ein richtig netter Kerl war.
»Wenn ich Teilhaber in der Kfz-Werkstatt von meinem Kumpel geworden bin, kannst du da ja die Büroarbeit machen.«
Nicole fühlte sich, als hätte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Bedeutete dieser Satz nicht, dass er noch in drei Jahren mit ihr zusammen sein wollte? Dass er darüber hinaus an eine gemeinsame Zukunft dachte?
»In so einer Werkstatt kommt es nicht auf Rechtschreibung an«, sagte André nun.
Und dann beugte er sich vor und küsste sie. Ganz zart, mit heißen, trockenen Lippen. Als sie dasaß wie erstarrt, legte er einen Zeigefinger unter ihr Kinn, hob ihren Kopf und küsste sie intensiver. Gerade so, dass man in einem Café noch nicht unangenehm auffiel.
Als Nicole ihre Augen öffnete, fiel ihr Blick auf Herrn Möllmann, dem sie offenbar doch unangenehm aufgefallen waren. Er beobachtete sie stirnrunzelnd. Verlegen murmelte sie: »Doch nicht hier.«
Nun setzte André wieder das Grinsen auf, das sie kannte. »Wo dann? In deinem Auto?«
Sie nickte nicht und schüttelte auch nicht den Kopf. André hob sein Sektglas, prostete ihr zu und trank es in einem Zug aus. Dann beugte er sich zu ihr und flüsterte: »Lass uns aufbrechen. Ich will unbedingt mit dir allein sein.«