März 1986, Achim
Kari erfuhr es schon, während sie sich ihr Frühstück machte: Bei Indra hatten in den ersten Morgenstunden die Wehen eingesetzt. Romy erschien bei ihr, ließ sich zu einem Kaffee einladen, setzte sich eine Weile zu Kari und berichtete, was sie wusste.
»Ich habe gleich Samy Angermann angerufen, darum hatte er mich gebeten.« Sie wedelte kokettierend mit einem Zettel vor Karis Nase herum. »Ich habe seine Privatnummer, die sonst keiner bekommt! Irre, oder?« Als die erhoffte Reaktion von Kari ausblieb, fuhr sie in gemäßigtem Ton fort: »Er ist in München, aber er wird so bald wie möglich kommen, damit Indra nach der Geburt nicht allein ist.«
»Vielleicht besinnen sich ihre Eltern jetzt«, meinte Kari, »und erscheinen hier.«
Aber da hatte Romy keine Hoffnungen. »Die sind ja so verbohrt! Genau wie deine Großeltern damals.«
Kari stand auf und holte die Zuckerdose, die sie vergessen hatte. Seit sie in Achim lebte, war sie der Vergangenheit ihrer Mutter näher gerückt, die nur wenige Kilometer entfernt aufgewachsen war. Damit war sie auch den Verwandten ihrer Mutter nicht nur räumlich nahegekommen, sondern auch emotional. Zwar hatte sie ihrem ersten Besuch in Riekenbüren keinen zweiten folgen lassen, aber sie dachte seitdem häufig an Opa und Oma, die früher nur an der Peripherie ihrer Gedanken aufgetaucht waren. Dass sie jetzt immer öfter auch an das dachte, was im Zusammenhang mit ihrer Geburt geschehen war, lag aber wohl vor allem daran, dass sie nun selbst ein Kind erwartete. Sie ging gelegentlich nach nebenan, ins Haus für gefallene Mädchen, betrachtete die Fotos, die dort im Eingangsbereich an den Wänden hingen, und sah sich die kleine Sammlung an Schriften und Erinnerungsstücken an, die in Glaskästen und -vitrinen auslagen. Bei allem, was sie sah und las, musste sie sich fragen, ob das, was dort gezeigt und geschildert wurde, auch auf ihre Mutter zugetroffen hatte. Diese Fotos von grau gekleideten jungen Mädchen, mager, mit dicken Bäuchen, wie sie schuldbewusst in die Kamera blickten! Zu denen hatte auch Brit Rensing gehört, die heute neben ihrem Mann im König Augustin repräsentierte? Unvorstellbar! Dann die jungen werdenden Mütter vor den riesigen Wäschemangeln, mit feuchten Haarsträhnen im Gesicht, das Bild von der strengen Leiterin des Heims, Schwester Hermine, die geschaltet und gewaltet hatte wie eine Gefängnisaufseherin. Der schmucklose Speisesaal mit dem großen Kreuz an der Wand, die Schlafsäle mit den schmalen Pritschen, bei deren Anblick einen fror. Und schließlich die Zeitungsausschnitte, in denen darüber berichtet wurde, wie Olaf Rensing dafür sorgen wollte, dass es nie wieder ein Heim wie dieses gab. Jedes Mal war Kari stolz, wenn sie das Foto betrachtete, das Olaf auf den Stufen des Entbindungsheims zeigte, wo er offenbar vor vielen Jahren eine flammende Rede gehalten hatte. Dann musste sie sich immer wieder daran erinnern, dass er ein Mann war, der sie belogen hatte, ihr Leben lang.
Sie blickte Romy nicht an, sondern starrte aus dem Fenster, während sie fragte: »Kannst du dich an meinen leiblichen Vater erinnern? Du warst doch dabei damals.«
Romy erhob sich. »Du lieber Himmel! Rechne dir mal aus, wie lange das her ist.«
»Du kannst dich auch nicht an seinen Nachnamen erinnern?«
»Nicht mal an seinen Vornamen. Markus vielleicht, so hieß damals die Hälfte der Klasse. Oder Andreas. Ja, ich glaube, Andreas war es.« Sie ging zur Tür. »Ich muss wieder los. Nicole schreibt einen Brief, der gleich rausgehen soll. Den muss ich erst korrigieren.« Sie hielt Kari ihre beiden gedrückten Daumen hin. »Hoffen wir, dass alles gut geht mit Indra und ihrem Baby.«
Es ging alles gut. Schon zwei Stunden später kam die Nachricht, dass ein kleiner Junge gesund zur Welt gekommen war. Indra sah Kari strahlend entgegen, als diese vorsichtig in ihr Zimmer blickte. Zurzeit kamen nicht viele Kinder im Entbindungsheim zur Welt, Indra hatte ein Einzelzimmer bekommen, in dem sie eine Woche bleiben sollte, ehe sie wieder in ihr Apartment zurückzog. Mit ihrem Baby. Sie fürchtete sich davor, schon jetzt allein mit ihrem Kind zu sein, und da sie noch so jung war, hatten alle Verständnis für sie.
»Komm rein!« Voller Stolz zeigte sie auf das Babybett, das neben ihrem stand. »Ist er nicht süß?«
Kari nahm erst Indra in die Arme, dann beugte sie sich über das Neugeborene. »Wie goldig!«, entfuhr es ihr. Dieses knallrote Gesichtchen, noch von den Anstrengungen der Geburt gezeichnet, weicher, dunkler Flaum auf dem Kopf, winzige Fäuste, die sich an die Wangen drückten! Kari war hingerissen. Sanft strich sie über das Köpfchen. »War es schlimm?«
Indra wusste, was sie meinte. »Es ist auszuhalten«, sagte sie, ein wenig zu lapidar, um Kari wirklich überzeugen zu können. »Ich bin mit dem Lachgas nicht klargekommen. Aber zum Glück ging es schnell. Für eine Erstgebärende war ich richtig flott, hat die Hebamme gesagt.« Offenbar wollte sie nun das Thema wechseln. »Ich werde ihn David nennen. Gefällt dir der Name?«
Kari lächelte. »Sehr gut sogar. Gestern Abend habe ich beschlossen, einem Jungen den Namen Philipp zu geben. Was hältst du davon?«
»Auch schön.«
Sie lächelten sich an. Zwei junge Frauen, eine eigentlich noch ein Kind, durch eine Erfahrung, eine Hoffnung, eine Zuversicht, eine große Liebe miteinander verbunden, die in diesem Moment allumfassend schien. Kari, die in den letzten Tagen und sogar Wochen gelegentlich von Angst und Sorge ergriffen worden war, wenn sie an die Geburt und die Zeit danach dachte, hatte sich noch nie so zuversichtlich gefühlt wie in diesem Moment. Und es kam ihr gar nicht merkwürdig vor, sondern schien irgendwie folgerichtig zu sein, dass sie mit einem Mal einen flachen Schmerz im unteren Rücken spürte.
»Du hast zwar gewonnen«, sagte sie lächelnd, »aber ich glaube, nur knapp.«