März 1986, Sylt

»Sie hat dich angerufen?« Romy schien sich ehrlich zu wundern.

»Was denkst du denn?« Brit gab sich große Mühe, sich ihre Überraschung, ihr Glück nicht anmerken zu lassen, sondern Romy glaubhaft zu machen, dass es zwischen Mutter und Kind etwas gab, was Romy nicht verstehen konnte. Die schaffte es ja immer noch nicht, sich damit abzufinden, dass Kari sich nicht mehr an die Zeit erinnern konnte, in der Romy ihre zweite Mutter gewesen war. Sie erwähnte es so häufig wie möglich und bei jeder Gelegenheit, aber Kari hatte zunächst nur staunend, dann überdrüssig und schließlich mit spitzen Bemerkungen reagiert.

Wenn Brit ehrlich war, hatte sie tatsächlich nicht damit gerechnet, dass Kari sie anrufen würde, wenn es so weit war. Ihre Tochter hatte sich kein einziges Mal bei ihr gemeldet, seit sie ins Entbindungsheim gezogen war. Und wenn Brit sie angerufen hatte, waren immer nur einsilbige Antworten gekommen. Einmal hatte Brit sogar Mike Heisers Telefonnummer gewählt, um mit ihm ihre Sorgen zu teilen, sich dann aber darüber ärgern müssen, wie schwer es war, zu ihm vorzudringen. Immerhin war er ihr Schwiegersohn! Wie konnte diese Telefonistin, die ihren Anruf angenommen hatte, sie wie eine lästige Bittstellerin behandeln? Als Mike dann endlich das Gespräch angenommen hatte, war ihr Groll sogar noch größer geworden. Es schien für einen Augenblick so, als könnte er gar nichts mit ihrem Namen anfangen und als müsste er sich erst erinnern, dass Brit Rensing die Mutter seiner Frau war. Über Karis Wohlergehen hatte er dann nur lapidare Auskünfte erteilt. Es ginge ihr gut, sie sei froh, der Neugier der Presse entronnen zu sein, und die Schwangerschaft verliefe normal …

»Ich nehme gleich den Autozug«, verkündete Brit jetzt, »und fahre weiter nach Achim. Ich hoffe, wir beide haben heute Abend einen Grund zu feiern.«

Romy freute sich. »Hast du schon ein Zimmer im Haus für gefallene Mädchen bestellt? Sonst erledige ich das für dich.«

»Danke!« Mit einem Mal war es wieder da, das warme Gefühl des Zueinandergehörens, die Gewissheit, die eine lange Freundschaft bot, die Kostbarkeit von Erinnerungen.

Romy zögerte kurz. »Oder willst du lieber woanders wohnen?«

Nun musste Brit lachen. »Wegen der schrecklichen Erinnerungen? Nein! Das ist vorbei. Außerdem hat das Hotel ja kaum noch etwas mit dem Haus von damals zu tun.«

Sie lauschte auf die Stimme in ihrem Inneren. Machte sie sich etwas vor? Nein, sie war sich sicher. Die Zeit im Haus für gefallene Mädchen hatte sie überwunden. Überwinden können, weil Romy ihr im letzten Augenblick zur Flucht verholfen hatte. Das durfte sie niemals vergessen.

»Wird Olaf auch mitkommen?« Welche Antwort sich Romy wünschte, erkannte Brit sofort. Noch immer war Olaf der Eindringling, der die Familie kaputtgemacht hatte, die Romy sich ausgesucht hatte: Kari und ihre zwei Mütter.

Brit hatte sich gewünscht, mit Olaf gemeinsam nach Achim zu fahren. Gerade er sollte bei Kari sein, wenn sie ihr Baby bekommen hatte, wenn sie emotional weit geöffnet und vermutlich bereit war, Olaf zu verzeihen.

Aber er hatte den Kopf geschüttelt. »Es geht nicht, Brit. Hajo Keller hat Urlaub, er kann uns hier nicht vertreten. Ich kann unmöglich sowohl das Café als auch das Hotel sich selbst überlassen.«

»Wenigstens für einen Tag«, hatte Brit gebettelt.

Aber Olaf hatte in seinem Terminkalender geblättert und abermals den Kopf geschüttelt. Nein, es ging nicht. Zum ersten Mal in ihrer Ehe hatte Brit sich gefragt, ob Olaf die richtigen Prioritäten setzte. Er war längst wie sein Vater geworden, ohne es zu merken. Aber als sie ihn darauf aufmerksam machte, ging ein Lächeln über sein Gesicht. Ja, er wollte wie sein Vater sein. Ein Geschäftsmann durch und durch, dem sein Geschäft über alles ging! Ihm waren das König Augustin und die Hotels auf dem Festland sogar noch wichtiger als seinem Vater. Olaf hatte das alles nicht selbst aufgebaut wie Knut Augustin, er hatte es geerbt. Und dieses Erbe zu verwalten, es zu vergrößern, es neu zu gestalten, sodass sein Vater stolz auf ihn gewesen wäre, das war ihm wichtiger als alles andere. Sogar wichtiger als seine Familie? Bisher hatte Brit darauf vertraut, dass Olaf für seine Familie alles tat. Nun aber schien es ihr, als gäbe es eine Einschränkung. Offenbar gab es für Olaf Situationen, da stellte er das Geschäft über seine Familie.

»Ich komme nach, sobald ich kann«, hatte er versichert, aber Brits Enttäuschung war dadurch nicht mehr zu besänftigen gewesen. Und natürlich hatte Olaf nicht verstanden, dass es nicht nur um diesen einen Besuch ging, sondern um das große Ganze, um Kari, um seine Tochter, um das Kind, das er liebte, das Kind, das zurzeit an ihm zweifelte, das ihm etwas vorwarf, was er doch unbedingt widerlegen musste. Jede Gelegenheit hätte er nutzen sollen, diese Chance zu ergreifen. Dass er jetzt zögerte, konnte womöglich ausschlaggebend für die Zukunft sein. Und als hätte es noch eines weiteren Beweises bedurft, was für Olaf am wichtigsten war, fügte er noch hinzu: »Tu mir einen Gefallen, Brit: Benutze einen anderen Namen, wenn du ein Zimmer im Haus für gefallene Mädchen buchst.«

Brit hatte ihn verblüfft angesehen. »Warum?«

»Ich bin nicht zufrieden mit der Auslastung des Hauses. Und in letzter Zeit hat es häufig Klagen von Gästen gegeben. Bisher konnte Klaas Schubert sich immer rausreden, aber mir scheint, wir sollten ein Auge auf das Hotel haben. Schau genau hin, Brit, während du da bist, und äußere ein paar ausgefallene Wünsche. Ich bin gespannt, wie der Geschäftsführer darauf reagiert.« Olaf hatte tief aufgeseufzt. »Ich wollte, alle wären so wie Herr Keller. Mit dem haben wir einen guten Fang gemacht.«

Nun bemühte sich Brit, dass Romy ihre Enttäuschung nicht heraushörte. »Olaf wird nachkommen«, sagte sie so lapidar wie möglich. »Heute schafft er es nicht.« Und dann erklärte sie Romy noch schnell, warum sie unter ihrem Mädchennamen einchecken musste. »Olaf möchte, dass ich dem Geschäftsführer unauffällig auf die Finger schaue. Vielleicht ist dir auch schon mal was aufgefallen?«

Aber Romy verneinte. »Ich habe da keinen Einblick. Das Hotel sehe ich nur selten von innen.« Nun klang ihre Stimme ausgesprochen fröhlich. »Dann also bis heute Abend an der Hotelbar! Ich bin gespannt, ob wir auf ein Mädchen oder einen Jungen trinken dürfen.«