März 1986, Sylt
Linda streckte sich und gähnte herzhaft. Sie lag halb auf einem flachen Sofa in Chris Reineits Atelier, den Oberkörper auf einem Kissenstapel, die Füße auf dem Boden. Sie hielt sich gern hier auf, wenn Chris malte, in diesem großen Raum mit den riesigen Fenstern, die den Blick in einen überwucherten, verwunschenen Garten freigaben. Die Einfachheit, die Chris auf der einen Seite des Ateliers fürs Malen brauchte, fügte sich wunderbar in das, was Linda brauchte und sich auf der anderen Seite eingerichtet hatte: zwei weiche Sofas, dicke Teppiche, neben dem Kamin kleine Tische mit Gläsern und einem Champagnerkübel. Es gefiel ihr, Chris zuzusehen, ihn zu betrachten, ohne dass er es bemerkte, weil er sich immer so sehr auf die Arbeit konzentrierte, dass er alles um sich herum vergaß. Der Geruch der Farbe gefiel ihr, der grelle Lichtkegel, in dem Chris stand, und der Schatten, in den sie sich zurückziehen konnte. Das Atelier hatte Chris, als er das erste große Gemälde ans Miramar verkaufte, gemietet. Inzwischen gehörte es ihm, ebenso wie das Haus, in dessen Garten es stand. Ein kleines Haus, nichts Komfortables, aber für Linda spielte das keine Rolle. Sie hatte ja immer noch die Wohnung, die ihr Vater ihr gekauft hatte, in die sie sich zurückziehen konnte, wenn ihr danach war. Gelegentlich musste sie sich und Chris zeigen, dass sie unabhängig war, und Chris genoss diese Phasen. So kamen die beiden bestens miteinander aus. Auch nach über zwanzig Jahren liebten sie einander immer noch.
Mit zwei Handbewegungen löste sie die Spangen aus ihrem Haar, sodass es ihr ins Gesicht fiel. Sie gähnte erneut, diesmal nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar.
»Geh schlafen, wenn du müde bist«, sagte Chris Reineit, ohne den Blick von dem Bild zu nehmen, an dem er malte.
»Mir wäre heute nach ein wenig Sex«, sagte Linda.
»Mir nicht«, kam es zurück. »Wenig Sex mag ich nicht. Wenn schon, dann …«
Aber Linda winkte ab. »Wir sollten mal wieder eine Einladung von Mike Heiser annehmen. Schon zweimal haben wir abgesagt, möglicherweise sind wir längst von der Gästeliste gefallen. Ich muss mal mit Kari reden. Sie soll dafür sorgen, dass wir wieder Einladungen bekommen.«
»Du denkst an die Partys, bei denen jeder mit jedem …?«
»Gruppensex, ja.«
Nun legte Chris den Pinsel weg. »Hast du keine Angst vor dem Tag, an dem niemand mehr mit dir schlafen will? An dem alle jemanden finden, mit dem sie sich zurückziehen, nur du bleibst am Kamin sitzen?«
Linda sah ihn entsetzt an. »Du meinst, weil ich zu alt bin?«
Chris grinste, legte den Pinsel zur Seite und kam zu ihr, um sie zu küssen. »Für mich bist du genau richtig. Zu jeder Zeit. Auch noch in zwanzig Jahren.«
Linda umarmte ihn. »Und danach?«
»Danach auch noch.« Chris löste sich von ihr und ging zur Staffelei zurück. »Außerdem bist du meine Muse. Wenn du bei mir bist, male ich besser.«
»Ehrlich?« Linda glaubte ihm jedes Wort. Mit großen verliebten Augen betrachtete sie ihn. Chris ging mittlerweile auf die sechzig zu, aber das Alter bekam ihm. Er war groß und nach wie vor schlank, seine grauen Haare waren noch voll, er sah jünger aus, als er war. Kurz flogen Lindas Gedanken zu Arne, den sie geheiratet hatte, um Chris nicht zu verlieren. Sie stockte … Doch, so war es gewesen. Damals war Chris noch erfolglos gewesen, sie brauchte einen Mann, der ihr den gewohnten Lebensstandard sicherte. Sonst hätte die Beziehung zu Chris keinen Bestand gehabt, da machte sie sich nichts vor.
»Ich habe heute übrigens einen Besuch bei Olaf und Brit gemacht. Oder vielmehr … bei Olaf. Brit ist bei Kari.«
Es war ein spontaner Entschluss gewesen. Sie hatte sich mit einer Freundin im Miramar zum Essen getroffen, und ihr war eingefallen, dass sie lange nicht mehr im König Augustin vorbeigeschaut hatte. Wenn ihr Vater es auch in Olafs Hände gegeben hatte, sobald es ihr gerade in den Kram passte, tat sie immer noch gerne so, als müsste sie dort gelegentlich nach dem Rechten sehen. Brit war nicht zu entdecken gewesen, aber Olaf kam gerade aus dem Büro, als sie eintrat, geleitete sie zu einem Tisch und setzte sich sogar zu ihr. Linda war erstaunt. Olaf nahm sich selten Zeit fürs Private. Normalerweise setzte er sich nur zu einem Gast, wenn es sich um einen Stammgast oder einen Geschäftsfreund handelte.
Linda merkte bald, dass Olaf Gesprächsbedarf hatte. Er wollte etwas erzählen, was er bei Linda besonders gut loswerden konnte, weil sie quasi zur Familie gehörte. Immerhin war sie die Tochter von Robert König, dem besten Freund seines Vaters, dem Mitgründer vom König Augustin , noch dazu war sie einmal mit Olafs Halbbruder verheiratet gewesen, mit Arne Augustin.
»Kari bekommt heute ihr Kind«, raunte er ihr aufgeregt zu, als wäre es ein Geheimnis, das nicht vor der Zeit verraten werden durfte. »Sie hat Brit angerufen, als die Wehen einsetzten. Die ist sofort nach Achim aufgebrochen.«
»Und du?«
Er sah sich mit einem Blick um, der alles verriet. Olaf hatte keine Zeit, einfach mal alles stehen und liegen zu lassen und der Familie den Vorrang zu geben.
»Sie ist also in der Knut-Augustin-Stiftung?«, fragte Linda, die sich längst zusammengereimt hatte, wohin Kari verschwunden war.
Olaf erklärte ihr umständlich, warum Kari sich entschlossen hatte, ihr Kind nicht auf Sylt, sondern in Achim zu bekommen, wo sie vor der Presse geschützt war.
»Ist Mike auch schon auf dem Weg nach Achim?«, fragte Linda.
»Selbstverständlich!« Olaf tat so, als wüsste er genauestens über den Terminkalender seines Schwiegersohns Bescheid.
Aber Linda glaubte ihm kein Wort. »Ist Kari eigentlich glücklich mit Mike?«
Nun fiel Olafs zur Schau getragene Sicherheit von ihm ab. »Schwer zu sagen. Wir sehen die beiden ja nie zusammen. Seit der Hochzeit sind wir Mike nicht mehr begegnet. Er hat ja so viel zu tun.« Olaf fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Es ist schon eine … komische Beziehung, scheint mir. Aber vielleicht ist das heutzutage so. Wir beiden sind ja noch in einem Alter …« Er stockte, weil ihm klar wurde, dass man mit einer Frau wie Linda nicht übers Alter reden durfte. »Brit und ich, das war von Anfang an die ganz große Liebe. Aber diese Art von Romantik ist heute wohl nicht mehr modern.«
Linda betrachtete ihn eine Weile, diesen großen Mann mit den breiten Schultern und der zarten Seele. »Schön«, sagte sie dann. »Aber bei mir und Arne war es damals auch anders. Wir kannten uns schon ewig, wir verstanden uns, wir passten zusammen, unsere Väter waren entzückt, als wir uns verlobten, und es schien alles so einfach zu sein. So leicht, dass es mir wie Liebe vorkam. Aber die wahre Liebe habe ich erst bei Chris gefunden.«
Olaf bemühte sich um Mitgefühl. »Schrecklich, diese Schiffskatastrophe damals. Ist einer der Unglücklichen, die nicht aus dem Schiff herausgekommen sind, eigentlich jemals an Land gespült worden?«
Linda hatte nie davon gehört. »Die bleiben bis zum Ende aller Zeiten auf dem Meeresgrund.« Sie gab sich Mühe, ihr schlechtes Gewissen nicht durchschimmern zu lassen. Bisher war es ihr nur ihrem Vater gegenüber schwergefallen, nichts zu verraten, aber nun stellte sie fest, dass es auch im Gespräch mit Olaf schwierig war. Sie wusste, dass Arne Augustin noch lebte!
Olaf hatte bedrückt genickt. »Dich hätte man sicherlich benachrichtigt, wenn Arnes Leiche aufgetaucht wäre.«
Linda sah Chris jetzt zu, wie er seine Malutensilien zusammenpackte und seine Pinsel auswusch. »Er weiß wirklich nicht, dass Arne überlebt hat, ich bin sicher.«
»Dann sind wir beide wohl die Einzigen. Außer Brit Rensing natürlich.«
»Und Carsten Tovar«, ergänzte Linda. »Er hat es mir damals im Krankenhaus verraten. Und er hat mich erpresst, weil ich diese Information für mich behalten habe. Hunderttausend musste ich ihm zahlen.«
»Dabei hast du Arne Augustin eigentlich einen Gefallen getan. Er wollte ja raus aus einem Leben und für immer verschwinden. Mit deiner Hilfe hat er es geschafft.«
Linda lehnte sich zufrieden zurück. Der Gedanke, dass sie etwas Gutes getan hatte, gefiel ihr. Darüber konnte sie glatt vergessen, dass sie Olaf anlügen musste. »Warum hätte ich ihn daran hindern sollen? Er war mit mir nicht mehr glücklich, und ich hatte mich ja innerlich längst für dich entschieden.«
Chris nickte zu einer Flasche, die in dem Champagnerkübel steckte. »Schenk uns schon mal ein Glas ein, ich bin gleich so weit.« Dann fragte er sinnend: »Wo Arne wohl sein mag?«
»In der Nähe«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. »Ich habe ihn gesehen. Im Hotel König Augustin . Zusammen mit Brit …«
Chris hatte schon den Wasserhahn aufgedreht, um sich die Hände zu waschen, nun stockte er. »Die beiden haben wieder Kontakt?«
»Scheint so.«
»Und Olaf Rensing?«
»Der weiß natürlich nichts davon.«
Chris wandte sich nun dem kleinen Waschbecken zu, das er in einer Ecke des Ateliers hatte anbringen lassen. »Das ist doch gefährlich. Man könnte ihn erkennen.«
Linda lächelte. »Er hat sich sehr verändert. Wer ihn für tot hält, sieht über ihn hinweg. Wer ihn nicht so gut gekannt hat wie ich, der kommt auch nicht auf die Idee, Arne vor sich zu haben. Er trägt einen Bart, er ist gut zwanzig Jahre älter …«
»Aber sein Name!«
»Den hat er natürlich geändert.« Nun erhob sich Linda und machte sich daran, die Champagnerflasche zu öffnen. »Er hat eine Nacht im König Augustin verbracht. Ich habe nachgesehen, unter welchem Namen er eingecheckt hat.« Der Korken knallte, der Champagner schäumte beinahe über. Aber Linda kannte sich aus und konnte es im letzten Augenblick verhindern. »Florian Aldenhof. Vermutlich hat er sich damals gefälschte Papiere besorgt.«
Chris kam zu ihr zurück, nahm ihr die Flasche aus der Hand und füllte die Gläser. »Man könnte sich mal erkundigen …«
»Habe ich längst«, unterbrach Linda ihn. »Von den hunderttausend Mark, die Tovar mir abgepresst hat, haben die beiden eine Kneipe in Hamburg eröffnet. Das Carar . Soll ganz hübsch sein. Wir sollten da mal einkehren.«
Auf diesen Vorschlag antwortete Chris nicht. »Dass er sich mit diesen hunderttausend Mark zufriedengegeben hat …«
»Die hunderttausend habe ich Carsten Tovar gegeben, nicht Arne.«
»Aber Arne war Nutznießer. Und die Erpressung hat er damals sicherlich befürwortet. Wenn es nicht sogar seine Idee war!«
»Ja, kann sein.«
»Wenn er seinen Vater beerbt hätte«, schloss Chris energisch, »wäre er heute jedenfalls ein reicher Mann.«