März 1986, Riekenbüren
Nicole war bedrückt, als sie heimkam. Sie fürchtete sich vor den Fragen, die nun auf sie einstürmen würden, und wusste, dass es schwer sein würde, sie zu beantworten.
Und richtig! Ihre Familie stürzte sich geradezu auf sie, kaum dass sie die Schreinerei betreten hatte.
»Warum kommst du so spät?«
»Hättest du nicht Bescheid sagen können, dass es länger dauert?«
»Ist das Baby endlich da?«
»Ist alles gut gegangen?«
Sogar Dennis war aus Bremen gekommen, um dabei zu sein, wenn Nicole nach Hause kam und berichtete, was sie aus erster Quelle erfahren hatte.
»Brit hat es nicht für nötig gehalten, uns anzurufen«, schloss Frida weinerlich.
Nicole wurde, noch ehe sie etwas sagen konnte, von Halina durch die Schreinerei in die Wohnung geschoben, die früher Frida und Edward gehört hatte, und dort in die Wohnküche, die auch heute noch der Raum war, in dem nicht nur gekocht und gegessen, sondern auch geredet, beratschlagt und viel Zeit verbracht wurde. Halina und Hasso hatten zwar mit der Sitte der guten Stube aufgeräumt, aber das Wohnzimmer, wie dieser Raum jetzt genannt wurde, benutzten sie nach wie vor viel seltener als die gemütliche Küche. Stünde im Wohnzimmer nicht der Fernseher, würde vielleicht sogar die gesamte Freizeit in der Küche verbracht, nicht viel anders, als es Fridas und Edwards Gewohnheit gewesen war.
Halina machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, obwohl Nicole abwehrte und niemand zu dieser späten Stunde Kaffee haben wollte, und entschloss sich dann, einen Tee zu kochen. »Erzähl schon, was ist los? Ist das Kind immer noch nicht da?«
Nicole nickte unglücklich. »Doch, ein kleines Mädchen. Aber …«
»Aber?« Frida beugte sich über den Tisch, Edward blieb stocksteif sitzen, war aber sehr blass geworden, Dennis bewegte sich zur Tür, als dächte er über Flucht nach, Hasso sah aus, als wollte er Nicoles Schultern ergreifen und sie schütteln, während Halina mit dem Suchen nach dem geeigneten Tee ihre Nervosität bekämpfte.
»Ich weiß auch nicht«, antwortete Nicole unglücklich. »Kari lässt niemanden zu sich. Sie hat ausrichten lassen, dass sie zu müde ist, um Besuch zu empfangen. Romy ist auch nicht zu ihr gekommen. Und Tante Brit …«
»Sie ist da?«, warf Dennis ein und machte sich nun wieder zum Teil der Familienrunde, indem er sich einen Hocker heranzog und sich setzte.
»Sie war aber nur kurz bei Kari. Und sie sah nicht besonders glücklich aus, als sie rauskam.«
»Aber gesagt hat sie nichts?«, fragte Hasso.
Nicole sah aus, als wollte sie in Tränen ausbrechen. »Sie ist gleich ins Hotel gegangen.«
»Und Mike Heiser?«, fragte Edward.
»Der soll inzwischen eingetroffen sein«, gab Nicole Auskunft. »Aber er war wohl noch nicht bei Kari.«
Stille senkte sich über die Menschen in der Küche. Der Teekessel summte, ohne dass Halina den Tee aufgoss, Fridas leises Schluchzen war kaum zu hören. Nicole sah, dass die Gedanken aller anderen genauso schwer waren wie ihre, dass sie tief in die Stille einzusinken schienen. Aus der Schreinerei drang kein Geräusch mehr, auf der Straße fuhr ein Auto vorbei, danach war es wieder still.
Dennis stand auf. »Ich fahre dann mal wieder.«
Niemand antwortete. Seine Mutter brachte ihn nicht wie sonst zur Tür, nur Nicole rief ihm leise die Bitte nach: »Sag André, er soll sich bei mir melden.«
Doch Dennis hatte sie entweder nicht gehört oder wollte nichts anderes als weg aus diesem Schweigen. Er antwortete nicht, zog die Küchentür hinter sich zu und warf kurz darauf die Haustür ins Schloss.
»Ein kleines Mädchen«, flüsterte Hasso schließlich. »Warum freut sich niemand?«
Edward war der Erste, der es wagte, den Verdacht auszusprechen, den alle hatten: »Es muss krank oder behindert sein.«
Nun schluchzte Frida laut auf. »Brit braucht uns in so einer schweren Stunde.«
Aber Hasso winkte nur ab. »Wenn sie uns braucht, wird sie sich bei uns melden.« Er sah seine Eltern an, erst seinen Vater, dann seine Mutter. »Ihr glaubt immer noch, dass die Zeit, die Brit im Entbindungsheim verbringen musste, vergessen und vergeben ist?«
Fridas Gesicht war voller Trotz, als sie aufblickte. »Ich will, dass wir morgen nach Achim fahren.« Sie sah ihren Mann fest an. »Wir sind Karis Großeltern, die Urgroßeltern des kleinen Mädchens, das heute geboren wurde. Ich will mir später nicht nachsagen lassen, dass wir das Kind abgelehnt haben, weil es krank oder behindert ist.«